Keith Jarrett ist ein brillant musikantischer Interpret - zärtlich liebkosend ist sein tänzerisches Spiel gegenüber dem jede Tonfolge analytisch unter dem Fingerhammer ergründenden Glenn Gould im Wohltemperierten Klavier Johann Sebastian Bachs. Legendär ist auch seine Improvisationskunst, die unter anderem mit dem auf LP und später auf CD erschienenen Köln Concert vom 24. Januar 1975 aus Ost- und West-Wohnzimmern millionenfach Dome und verzauberte Landschaften gemacht hat. Geradezu mystisch gerinnt hier sein Spiel auf der Suche nach dem Klang des Moments in dem Universum der darin verwobenen Zeit von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Béla Bartók oder Arvo Pärt ebenso wie in dem darin atmenden Gespinst aus Blues, Swing, Boogie Woogie oder Jazz.
1996 war Keith Jarrett die Kraft für diese atemberaubenden und emotional aufwühlenden Jazz-Recitals zeitweilig abhandengekommen. In diesem Jahr spielte er seine letzten Konzerte in Modena, Ferrara, Turin und Genua. Sie markieren den Endpunkt dieser Phase großer solistischer Improvisationen, die 1973 in Bremen und in Lausanne begonnen hatte. Diese vier Konzerte eröffnen noch einmal das ganze Spektrum des die Flügel weit ausbreitenden musikalisch-spirituellen Atems Keith Jarretts - und sind nun nach zwanzig Jahren wieder zu hören. Keith Jarrett selbst hatte seinerzeit die Konzerte mitgeschnitten, sie nun wieder hervorgeholt und jetzt - ecm sei Dank - veröffentlicht.
Das vier CDs umfassende Livealbum A Multitude of Angels bindet in der Vielfalt seiner klanglichen Facetten die musikalische Biographie und Phantasie seines Interpreten in der gleichermaßen schönen wie brutalen Spannung aus Suche und Flucht, Finden und Ankommen in subtiler Gestalt. Ein und dieselben Finger formen Ornamente aus Melodien und Rhythmen, zeichnen weite Ebenen und schroffe Gebirgszüge, offenbaren Tage und Nächte von wärmender wie verstörender Wucht, von schönster wie fragiler Durchsichtigkeit aus einem existentiell zentrierten Atem.
Jedes der Konzerte besteht aus zwei mehr als halbstündigen Stücken, drei der vier Konzerte haben außerdem noch kleinere Zugaben. Mancher Eingang durchströmt einen wie ein Willkommensgruß, mancher stellt sich zunächst quer wie ein schwer zu durchdringendes Dickicht unruhig verkanteter Abstraktionen.
Am Ende des letzten Konzertes in Genua steht eine herrliche, wundersam lichte Fassung von „(Somewhere) over the Rainbow“ - in ihr spürt man die weisen Engel im Rücken Keith Jarretts noch einmal besonders.
Klaus-Martin Bresgott