Luthers kühnste Idee

Protestanten sollten das Allgemeine Priestertum praktizieren
Oben: Sächsische Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Amtseinführung des Landesbischofs in Dresden.   Foto: dpa/ Matthias Hiekel
Oben: Sächsische Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Amtseinführung des Landesbischofs in Dresden. Foto: dpa/ Matthias Hiekel
Die evangelische Kirche ist nach wie vor eine Pastorenkirche, kritisiert Alexander Deeg, der an der Universität Leipzig Praktische Theologie lehrt. Dass alle Getauften Priester sind, müsse auch in der Öffentlichkeit deutlich werden. So ist es für Deeg ein Unding, dass bei Amtseinführungen von Pfarrern Kollegen, die keine liturgische Funktion ausüben, im Talar erscheinen.

Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann meint, die Lehre vom Allgemeinen Priestertum sei die kühnste Idee, die Martin Luther gedacht hat. Sie beunruhige in allen Zeiten Kirche und Theologie. Der ersten Beobachtung ist zuzustimmen, von der zweiten ist wenig zu spüren.

„Die Zeit des Schweigens ist vergangen.“ Mit diesen Worten eröffnete Luther die Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung“, die im August 1520 erschien. Der Reformator hatte die Hoffnung aufgeben müssen, dass es innerhalb der Kirche zu einer Reform kommt. Und so forderte er die weltliche Macht zum Eingreifen auf. Dazu habe sie das Recht und die Pflicht. Denn: „Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied als allein des Amts halber. . Demnach also werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht .“ Und weiter: „. was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, solches Amt auszuüben.“

Luther aktualisiert die Tauflehre und spitzt sie (kirchen-)politisch zu. Wie die Mauern von Jericho will Luther die Mauer niederreißen, mit der die „Romanisten“ eine Reform verhindern, die Lehre, dass es einen geistlichen Stand gibt, der in der Kirche allein das Sagen hat und den Laien gegenübersteht.

Heute, fast 500 Jahre später, scheint die Lehre vom allgemeinen Priestertum von mindestens vier Mauern umgeben, die Kirche und Theologie vor ihrem Unruhepotenzial schützen. Natürlich ist das Allgemeine Priestertum in den Jahren vor dem Reformationsjubiläum vielfach als eine der großen Ideen der Reformation gewürdigt und seinen nachhaltigen Beitrag zur Demokratisierung hingewiesen worden. Ganz unabhängig von der Frage, ob diese Einschätzung stimmt, ist das Allgemeine Priestertum zu einem Ornament des Protestantismus geworden: Man klebt es sich auf die Stolz geschwellte Brust, ist aber weit davon entfernt, sich kritisch hinterfragen zu lassen.

Eigentümlich gefangen ist die Lehre in der komplexen Diskussion um Amt und Ordination, die in den evangelischen Kirchen vor gut zehn Jahren im Vorfeld der neuen Ordinationsagende heftig geführt wurde. Die ebenso kritische wie befreiende und eigentümlich schlichte Einsicht in das eine und daher umfassende allgemeine und gemeinsame Priestertum aller Getauften liegt in einem komplexen Paket verschnürt. Und weil in ihm verschiedene Interessen aufeinandertreffen, wollen es viele lieber nicht öffnen.

Nicht selten liest man in Texten zum Allgemeinen Priestertum, was diese Lehre nicht bedeutet. Stärker als die Einsicht an sich wird dann Luthers Nachsatz hervorgehoben: Zwar seien alle „zum Priester, Bischof und Papst geweiht“, aber es zieme nicht jedem „solches Amt auszuüben“. Vermeidung von Unordnung scheint wichtiger als bleibende Verstörung.

Teilweise wird sogar die Ansicht vertreten, die Lehre vom Allgemeinen Priestertum sei eine Ansicht des frühen und stürmischen Luther. Später habe er diese Lehre zurückgenommen: 1525 in den Bauernkriegen, als er die politischen Probleme erkannte, die die Selbstbemächtigung der gesellschaftlich Marginalisierten mit sich brachte, und dann 1535/1537, als er die Ordination der Geistlichen in Wittenberg zentralisierte. Demgegenüber zeigen freilich auch späte Texte, dass Luther an dieser Lehre festhielt. Ganz besonders deutlich wird das 1544 in der Predigt zur Weihe der Schlosskirche in Torgau. Für Luther ist die Gemeinde das Subjekt der Kirchweihe: Geweiht wird der Raum erst durch ihr Handeln, Beten und Singen, Reden und Hören. Luther gab die Lehre vom Allgemeinen Priestertum also nicht auf. Er bewegte sich lediglich in der Spannung zwischen dem Unruhepotenzial, das sie birgt, und der immer wieder problematischen Einsicht in die Notwendigkeit von Ordnung und Ruhe.

Autoritäre Gottesdienste

Das Allgemeine Priestertum hat es noch nie leicht gehabt. Denn ihm ist von Anfang an eine Dialektik eingeschrieben. Auch für Luther war klar, dass im Kontext des Allgemeinen Priestertums ein Predigtamt nötig ist. Alle sind Priester - aber nur manche sind Pfarrer. Denn nur dann ist gesichert, dass die Gemeinde das Wort hört, das sie in ihrem Priestersein immer neu weckt und bestätigt, ermuntert und bestärkt. Es braucht das Gegenüber des äußeren Wortes - und das muss gesichert werden. Aber damit steht im Gottesdienst eine Person der Gemeinde gegenüber. Manche behaupten, es gebe keine autoritärere Veranstaltung als den evangelischen Gottesdienst. Hier sei nicht die feiernde Gemeinde der Priesterinnen und Priester das Subjekt. Vielmehr sitze das Publikum dem meist monolog agierenden Pfarrer gegenüber. Gelegentlich dürfe die Gemeinde das singen, was die Pfarrerin oder der Musiker auswählt, oder sich responsorisch zu dem verhalten, was die Pfarrer sagen.

Der Pfarrer und Schriftsteller Christian Lehnert schreibt: „Die freie Begrüßung des Pfarrers nach der Weise ‚Herzlich willkommen .‘ ist der erste subtile Übergriff des Kontrollsystems ‚Kirchenorganisation‘ auf den einzelnen. Lernziele werden festgeklopft. (.) Der Gottesdienst geschieht nicht mehr, er wird gemacht.“

Manchmal inszeniert sich das evangelische Pfarramt auf eine Weise, als hätte es die Einsicht in das Allgemeine Priestertum nie gegeben. Nur ein Beispiel: Wenn eine Ordination gefeiert oder eine Pfarrerin in ihr Amt eingeführt wird, ist es Tradition und gute Sitte, die anderen Amtskolleginnen und -kollegen einzuladen. Aber wer kam eigentlich auf die Idee, dass dann ein langer Zug in schwarze Talare gehüllte Ordinierte in die Kirche einzieht, obwohl die allermeisten der Herren und Damen im Talar in diesem Gottesdienst gar keine liturgische Funktion ausüben? Der Talar wird hier zu dem, was er erst im Neuluthertum des 19. Jahrhunderts teilweise geworden und was auch in einigen Pfarrerserien im Fernsehen zu sehen ist: zu einer Amtstracht, an der man Geistliche erkennt, anstatt ein funktional liturgisches Kleidungsstück zu sein. Natürlich lassen sich Symbole unterschiedlich deuten. Was die einen als Symbol der Gemeinschaft der Ordinierten interpretieren, kann für die anderen - scharf formuliert - zum Symbol der Trennung des Leibes Christi werden, zwischen denen, die darin wichtiger sind, und denen, die eben auch noch dazugehören.

Doch nur wer liturgisch aktiv ist, sollte einen Talar tragen und so deutlich machen, dass es nicht um die eigene Individualität geht, sondern um das Amt der öffentlichen Wortverkündigung. Diejenigen Pfarrerinnen und Pfarrer, die keine liturgische Funktion ausüben, müssten sich dagegen bewusst als Gemeinde in die Bänke einreihen, in denen die Mitpriesterinnen und Mitpriester sitzen. Man kann das als Kleinigkeit abtun. Aber gerade solche Inszenierungen werden wahrgenommen und prägen das Bild von Kirche. Stimmt es, dass Pfarrerinnen und Pfarrer ihr Amt gerade in Zeiten einer größeren pastoralen Verunsicherung umso stärker betonen und bewusster inszenieren? Empirische Untersuchungen zu Kollarhemden und sonstigen geistlichen Gewändern im evangelischen Kontext fehlen bislang zwar. Aber ganz von der Hand zu weisen kann man nicht, dass die Inszenierung eines sichtbaren Gegenübers zur Gemeinde in den vergangenen Jahren eher zugenommen hat.

Freilich: Es ist keineswegs allein und einseitig die Schuld der Pfarrerinnen und Pfarrer, dass das Allgemeine Priestertum die am häufigsten behauptete und vielleicht am wenigsten realisierte Idee des Protestantismus ist. Es gibt eben Zusammenhänge, denen man nicht leicht entkommen kann.

Unterschied zum ADAC

Alle empirischen Studien zum Gottesdienst, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unternommen wurden, zeigen, wie stark dieser über die Person des/der Liturgen/in wahrgenommen wird. Auch die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD hat die zentrale Stellung des Pfarrers bestätigt. Hinzu kommt die mediale Wahrnehmung. Kirche wird nach außen durch sichtbare Spitzenrepräsentanten erlebt. Die Katholiken sind da immer besser, aber wir Protestanten bemühen uns tapfer, medial nicht unterzugehen.

Das Allgemeine Priestertum lässt sich viel schwerer darstellen. Und es ist keine bequeme Lehre. Denn es bedeutet, und das war Luthers eigentliche Pointe, dass alle Getauften die Verantwortung für die Verkündigung und das Bekenntnis übernehmen. Und so kann man in der Kirche nicht Mitglied sein wie im ADAC, nach dem Motto: Ich bleibe dabei, weil ich den Verein nicht ganz schlecht finde, und schließlich ist er zur Stelle wenn ich ihn mal brauche. Das ist karikierend und unfair - klar. Aber das Allgemeine Priestertum verlangt nun einmal eine Identifikation, die jede Anhänglichkeit an die Institution transzendiert. Theologisch gesprochen: Priesterinnen und Priester sind die Getauften, weil sie an der Existenz Christi teilhaben, mit ihm gestorben sind und mit ihm leben, der selbst als Priester für die anderen wirkt.

Aber wie sind die aufgezeigten Probleme zu lösen? Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir nicht beruhigt wären, dass wir die Lehre vom Allgemeinen Priestertum haben, sondern uns von ihr herausfordern und verändern lassen - und wenn wir manche der widersprüchlichen Zeichen und problematischen Inszenierungen bleiben lassen würden, die das evangelische Pfarramt in ein neuerliches Gegenüber zur Gemeinde setzen. Daher kann gar nicht oft genug gesagt werden, dass alle Getauften, auch die, die die Kirche irgendwann verlassen haben und ausgetreten sind, Priesterinnen und Priester sind, gerufen zur Verkündigung in dieser Welt, beauftragt und gewürdigt, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Das Priestertum aller ist keine Lehre, die die subjektive Selbstvergewisserung oder gar die narzisstische Selbstgefälligkeit bedient. Denn Priester leben für andere, und es gibt eine Menge priesterlicher Aufgaben: einander segnen, füreinander beten, die Wahrheit von den Dächern verkündigen und so das Wort des Lebens in die Öffentlichkeit tragen.

Und was heißt das für den Gottesdienst? Es geht bestimmt nicht darum, die Redeanteile im Gottesdienst demokratischer zu verteilen, sondern vielleicht eher darum, im evangelischen Gottesdienst überhaupt nicht so viel zu reden. Und natürlich muss man neu und immer wieder wahrnehmen, dass Verkündigung nicht nur im Gottesdienst geschieht, sondern weit darüber hinaus: in sozialen Netzwerken und Kindertagesstätten, im Jazzclub und in der Tagespflege.

Und was ist mit der medialen Präsenz? Die Etablierung einiger weniger Spitzenprotestanten, die mit der hierarchisch organisierten römisch-katholischen Kirche um Plätze in den Talkshows konkurrieren, ist nur eine Möglichkeit. Auf der anderen Seite kann das Allgemeine Priestertum aber auch als Stärke dargestellt werden. Wir Protestanten können zeigen, wie eine Gemeinschaft aussieht, in der es keine geistliche Hierarchie gibt, sondern die von unten wächst, nicht von oben nach unten organisiert ist. Gerade in Zeiten von De-growth-Bewegungen sind solche Modelle nicht Schnee von gestern, sondern die Zukunft, trotz der herrschenden ökonomischen Organisationslogik, und gerade wegen ihr.

Den zweiten Teil des Textes von Alexander Deeg zum Thema Pfarramt lesen Sie in der nächsten Ausgabe von zeitzeichen.

Alexander Deeg

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Foto: Sakralraumtransformation

Alexander Deeg

Prof. Dr. Alexander Deeg, geb. 1972, lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 


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