Protestanten beim Papst

Ökumene 2017: Zeichen der Einheit oder Aufgabe des Eigenen?
Einträchtig beisammen: Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm (links) und Papst Franziskus am 6. Februar im Vatikan. Foto: epd/ L‘Osservatore Romano
Einträchtig beisammen: Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm (links) und Papst Franziskus am 6. Februar im Vatikan. Foto: epd/ L‘Osservatore Romano
Vielen Protestanten geht die „Kuschelökumene“ mit dem Vatikan im Reformationsjahr 2017 ein Stück zu weit. Elisabeth Gräb-Schmidt, Professorin für Systematische Theologie in Tübingen und Mitglied des Rates der EKD, weist die Kritik zurück und zeigt, wie eine richtig verstandene Ökumene der versöhnten Verschiedenheit die bisher vorherrschende Sündenbockmentalität aufbrechen kann.

Aufgereiht wie die Konfirmanden“ - so war es zu lesen in dem Artikel von Thomas Kaufmann und Martin Laube in zeitzeichen 4/2017 - stehen die EKD-Oberen, um vom Papst empfangen zu werden. Wird nun um der ersehnten Verständigung und Einheit der Kirche willen doch zu Kreuze gekrochen und so getan, „als seien wir 500 Jahre in die Irre gegangen?“, so fragte Evelyn Finger jüngst in der Wochenzeitung Die Zeit.

Mit dem Argument drohender Vereinnahmung wird immer wieder vor einer Ökumene der Einheit der Kirchen gewarnt. Nicht die römisch-katholische Kirche, wohl aber das protestantische Christentum verliere ihr Eigenes, wenn es nicht an der Verschiedenheit ihres Bekenntnisses zu Jesus Christus als Herrn der Kirche festhalte.

Demgegenüber stehen die begründeten Befürchtungen und berechtigten Sorgen vieler Christen, dass sich über solche theologischen Spitzfindigkeiten die Botschaft des Evangeliums und die Aufgabe der Christen in der Welt in den Hintergrund drängen lassen. Sie sehen es als dringlich an, gemeinsam zur Verantwortung in der Welt aufzurufen, Wege solcher Verantwortung aufzuzeigen und diese in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der Kirchen durch den Pluralismus der Religionen und Kulturen und durch ihre Marginalisierung im Zuge der Säkularisierung, sollten sich die christlichen Kirchen nicht durch Zersplitterung selbst schwächen. Es gelte also, die gemeinsamen Herausforderungen aufzunehmen, ohne das je Eigene preiszugeben.

Der Besuch der EKD-Spitze beim Papst im Februar dieses Jahres folgt diesem Anspruch. Er ist nicht als „Unterwerfung“ unter den Herrschaftsanspruch der römischen Kirche zu begreifen, sondern er erfolgte unter einem Vorzeichen, das Papst Franziskus in seiner Ansprache beim Besuch des Rates der EKD verheißungsvoll ausgesprochen hat. Wir wissen „in der Wirklichkeit der einen Taufe, die uns zu Brüdern und Schwestern macht, und im gemeinsamen Hören auf den Geist - in einer bereits versöhnten Verschiedenheit - die geistlichen und theologischen Gaben zu schätzen, die wir von der Reformation empfangen haben“.

Damit ist deutlich, dass nur in gegenseitiger Anerkennung der Gedanke der Einheit wachsen kann. Die Differenzen werden dadurch nicht eingeebnet. Sie bleiben für das Selbstverständnis des je eigenen Glauben bedeutsam, ebenso wie für das Verständnis des Glaubens des Anderen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden in gegenseitiger Wertschätzung und im Vertrauen. Es stellt den Glauben des Anderen nicht in Frage, sondern kann ihn - gerade in der Differenz - als Bereicherung des Eigenen wahrnehmen.

Das Verschiedene verstehen

Viel ist in diesem Zusammenhang das Stichwort von „versöhnter Verschiedenheit“ zu hören. Hinter diesem Motto verbirgt sich keine starre Resignation in Differenzbekundungen, sondern eine Aufforderung, das Verschiedene zu verstehen. Nur solche Schritte können auch einen Weg zu einer sichtbaren Einheit bahnen. Dabei kommt es auf beiden Seiten zum kritischen Hinterfragen auch der je eigenen Tradition. Tradition ist dann nicht nur als katholisches Normativ zu begreifen. Sie ist auch von evangelischer Seite in neuer Weise ernst zu nehmen und kann im Jahr des Reformationsjubiläums die evangelische Seite dazu anleiten, auch die eigene Tradition wertzuschätzen. Indem sie dies auch in kritischer Wahrnehmung vollzieht, kommt man nicht nur historisch, sondern auch theologisch wieder ins Gespräch. Wenn der Reformationshistoriker Heinz Schilling mit Nachdruck darauf hinweist, dass wir im Jubiläumsjahr den historischen Abstand zu Luther und seiner Reformation ebenso wenig wie die ihn überbrückende Traditionsgeschichte übergehen dürfen, dann ist damit auch ein theologisches Anliegen ausgesprochen. Wird die Tradition in angemessener und wissenschaftlich vertretbarer Weise wahrgenommen, dann geschieht dies nicht nur in historischer, sondern auch in theologischer Verantwortung. Und wenn der Papst anerkennt, dass auch für die katholische Kirche die Reformation nicht nur als Schuldgeschichte, sondern als Ressource zum Verständnis christlicher Theologie aufzufassen ist, dann wird daraus ebenfalls klar, dass auch auf katholischer Seite ein kritisches Verhältnis zur eigenen Tradition möglich ist.

Eine so verstandene Ökumene der versöhnten Verschiedenheit beendet die Sündenbockmentalität. Das immer wieder heraufbeschworene „protestantisches Profil“ tut daher gut daran, sich nicht in Abgrenzung zum Katholizismus zu formulieren. Das hat es auch gar nicht nötig. Eine Ökumene der Profile lässt sich durch Unterscheidungen schulen.

Wenn die EKD das Reformationsjubiläum gemeinsam mit den katholischen Glaubensgeschwistern als Christusfest feiert, sollte aber deutlich bleiben, dass die Pointe der Reformation gerade dort - im Bekenntnis zu Christus - einen eigenen Akzent setzt: Reformatorisch steht der Christ als Einzelner vor Gott. Daher ist nicht nur ein allgemeines Bekenntnis zu Christus entscheidend, um eine gemeinsame Verständigung anzuzeigen, wie es die gemeinsame Feier eines Christusfestes nahelegen könnte. Zwar bekennen sich selbstverständlich beide christlichen Konfessionen zu Christus. Ein neuer und eigener Akzent wird reformatorisch aber auf die Art und Weise der Begegnung mit Christus gesetzt. Er begegnet dem Einzelnen. Die 95 Thesen des Thesenanschlags zu Wittenberg sind als Theologie dieser Begegnung mit Christus im Herzen des Einzelnen zu beschreiben.

Dieser Unterschied ist durchaus brisant, denn er hat Konsequenzen für das Verständnis der Kirche und die Bedeutung des Priesters. Der Unterschied in den Konfessionen zeigt sich in der Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche und die Bedeutung von dessen Glauben für den Einzelnen und die Kirche. Nach Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1769-1834) wird das Gottesverhältnis reformatorisch nicht über die Kirche als Vermittlerin des Heils hergestellt, sondern im Gewissen des einzelnen Christen durch das Wirken des Heiligen Geistes. Die Kirche bleibt zwar auch in reformatorischer Sicht der Ort der Verkündigung des Evangeliums, aber sie ist als diese nicht Vermittlungsinstanz des Heils. Sie ist der Ort des Priestertums aller Gläubigen. So gilt nach Luther, „was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben.“

Die reformatorisch zentralen Einsichten von Rechtfertigung, Sünde und Freiheit kreisen um diese Unvertretbarkeit des Einzelnen als Individuum vor Gott. „Du bist gemeint.“ Es gibt weder ein Verschwinden in der Masse, noch in der Gemeinschaft. Das Gewissen ist der Ort, das den Einzelnen anspricht und an dem die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit des Menschen gebildet wird. Auch keine Eingliederung in den Schoß der Kirche kann den Einzelnen von dieser Einsicht entlasten.

Bei Luthers Neuentdeckung der Bedeutung der Gewissheit des eigenen Glaubens geht es um die Befreiung von Vorurteilen und falscher Anerkennungssehnsucht. Wie dies möglich ist und wie sie aussieht, benennt Luther in aller Kürze und Prägnanz in der ersten der 95 Thesen. Nach dieser soll das ganze Leben der Glaubenden Buße sein. Diese Forderung zielt nicht auf eine sauertöpfische, missmutige Lebenshaltung, sondern ermög-licht Aufrichtigkeit. Sie ruft auf zur Sachlichkeit in der Wahrnehmung des eigenen Lebens und der Verhältnisse. Zu dieser Sachlichkeit gehört es etwa auch, weder Verfälschungen von Geschichte im Sinne heute so genannter „fake news“ noch gar einem „postfaktischen Zeitalter“ Raum zu geben. Es geht darum, dass der Glaube einen Resonanzraum für die Wahrheit erschließt.

Solche Emanzipation hat ihren Preis. Scharf und deutlich spricht Luther diesen in seinen Invokavitpredigten des Jahres 1522 aus. In einer außer Rand und Band geratenen Situation tritt er auf die Wittenberger Kanzel und schleudert der Gemeinde seine Grundeinsicht des reformatorischen Glaubens mit Wucht entgegen: Jeder ist allein in der Stunde des Todes, keiner kann für den anderen einstehen. Jede Person ist selbst gefordert mit ihrem Glauben vor den Richterstuhl Gottes zu treten. Hier schlägt Luther den Ton an, der fortan das Leben des Christen untermalen soll: Sünde, Tod und Teufel halten den Einzelnen gefangen. Sie sind Intriganten und Einflüsterer der Lüge. Sie sind Räuber der Freiheit.

Es gehört zur grundlegenden Schärfe und Sperrigkeit der reformatorischen Einsicht Luthers, die Sünde in ihrer lebensbestimmenden Macht wieder entdeckt zu haben. Von dieser Macht der Sünde musste Luther sprechen, wenn es ums Ganze geht. Und mit Sünde ist nicht irgendeine schlechte Handlung, Haltung oder Schwäche angesprochen, auch nicht etwas Lustvolles à la „Kann denn Liebe Sünde sein?“ gemeint. Nein, Sünde ist vielmehr der schleichende Tod der Verhärtung unserer Seele. Sünde verkehrt die Wirklichkeit und verkehrt die Freiheit. Sünde verstellt den Blick auf das, was zählt im Leben und vor allem auf das, was bleibt.

Dass die Sünde nicht zu packen ist, stand Luther absolut vor Augen. Er entdeckt das Heimtückische der Sünde darin, dass sie uns nicht bloß zu schlechten Menschen macht, sondern dass sie die Person im Innersten angreift. Von dort aus verdunkelt sie die Vernunft und lähmt die Freiheit. Hier nähert sich Luther dem Begriff der sogenannten Erbsünde an. Zum Kern seiner reformatorischen Entdeckung gehört, dass die Sünde auch Verkehrung der Vernunft ist. Darin enthüllt sich ihre perfide Meisterschaft. Sie lässt sich nicht in den Griff bringen. Durch den Totalangriff auf die Person bringt sie sich selbst zum Verschwinden, indem sie sich als ihr Gegenteil ausgibt. Heute würde man sagen, es ist das Wesen der Sünde, alternative Fakten zu verbreiten. Weil die Sünde eben nicht nur menschliche Schuld ist, sondern weil wir ihr auch als Macht ausgeliefert sind, ist der Sünde moralisch nicht beizukommen. Zuerst müssen Vorurteile aufgebrochen werden. Und am Aufbrechen solcher Vorurteile der Vernunft hängt die reformatorische Freiheit.

Aber ohne Aufklärung ist reformatorische Freiheit nicht zu erreichen. Diese Aufklärung ist zwar nicht mit der neuzeitlichen Mündigkeit des Subjekts identisch. Aber im Insistieren auf dem eigenen Urteil und der Unvertretbarkeit des Einzelnen und dessen Verantwortung kann solches Verständnis von Freiheit den Menschen zu einem mündigen Leben anspornen.

Luthers Verständnis der Freiheit, das auf seiner Erkenntnis der radikalen Ambivalenz des Menschen basiert, lässt aber gerade diese Freiheit prekär werden. Und so hat Luthers Anthropologie schon zu seinen Lebzeiten Widerstand hervorgerufen. Luther musste sein Freiheitsverständnis im Streit um die Willensfreiheit gegen den Humanisten Erasmus verteidigen. Es steht aber auch eigentümlich quer zu einem neuzeitlichen Verständnis der Freiheit des aufgeklärten Menschen, das dessen Autonomie betont.

So ist Luthers Freiheitsverständnis bis heute ein Fremdkörper im philosophischen und öffentlichen Gespräch, etwa wenn es um die Bestimmung der Menschenwürde an den Grenzen des Lebens geht. Luthers Freiheitsverständnis hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Selbstbestimmung, denn nach diesem Verständnis steht eine Autonomie, die nur sich selbst verpflichtet ist, dem Menschen nicht zu Gebote, da seine Selbstbestimmung stets eine abgeleitete ist, die ihm aus dem Beziehungsgefüge, in dem er steht, zuwächst. Auf diese Beziehungen antwortet der Mensch in Verantwortung.

Schritte der Verständigung

Prinzipiell sind sich die Konfessionen in diesem Zeugnis für die christliche Freiheit einig. Eine Ökumene der versöhnten Verschiedenheit möchte aber Pointierungen in den Auffassungen des christlichen Glaubens zulassen und diese auch nicht preisgeben. So ist ein unterschiedliches Verständnis der Sünde und des Menschen keine Aufforderung, dem Verständnis der Einheit der Christen entgegenzuwirken. Vielmehr geht von diesem unterschiedlichen Verständnis der Impuls aus, dies als Perspektivenvielfalt der Wahrheits- und Glaubenserkenntnis unter den endlichen Bedingungen des Menschseins zu sehen. Dies ermöglicht die Erkenntnis von Gemeinsamen und sichtbare Schritte zur Einheit. Solche sichtbaren Schritte in der Verständigung sollen etwa in Zukunft auch einen Weg für konfessionsverschiedene Ehen zur gemeinsamen Feier der Eucharistie beziehungsweise des Abendmahls ebnen können.

In den ökumenischen Bemühungen gilt es nun, den Wahrheitsanspruch des Anderen ernst zu nehmen und aufeinander zu hören. Ein solches Modell des Wahrheitsrespekts böte nicht nur für die innerchristliche Ökumene Verständigung. Im Zeichen der Pluralisierung kann es auch den Weg für den interreligiösen und interkulturellen Dialog weisen.

Das Treffen der christlichen Konfessionen in Rom setzt damit im ökumenischen Willen ein Zeichen gegen vertiefte Gräben zwischen Menschen, Kulturen und Religionen. Wenn sich das Reformationsjubiläum im gemeinsamen ökumenischen Gedenken als Plädoyer für und in einem Geist solcher Freiheit und Verantwortung versteht, kehrt die Reformation nicht nur zurück zu ihren Wurzeln. Ihr ökumenisches Gedenken gibt jener Freiheit Raum, die dazu einlädt, aufeinander zuzugehen. Sie ist am Anderen unendlich interessiert - nicht zuletzt wenn dieser Andere konfessionsverschieden ist.

Elisabeth Gräb-Schmidt

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