„Verworrener Quark“

Martin Luther im Spiegel der Literatur der vergangenen 500 Jahre
Uraufführung von John von Düffels „Martin Luther“ in Münster 2017. Foto: Oliver Berg
Uraufführung von John von Düffels „Martin Luther“ in Münster 2017. Foto: Oliver Berg
Die meisten Autoren sind in den vergangenen 500 Jahren daran gescheitert, Martin Luther ein literarisches Denkmal zu setzen. Kein Wunder, meint der Kölner Germanist Norbert Mecklenburg, denn sie waren dem komplexen Gegenstand zumeist schon sprachlich - und oft auch geistig - nicht gewachsen.

Martin Luther ist seit seinen ersten Jahren als Reformator immer wieder auch Gegenstand literarischer Darstellungen geworden. Die meisten dieser Texte sind an ihm gescheitert und zu Recht vergessen worden. Aber einige heben sich heraus, weil sie poetisch wertvoll sind und Ansichten von Luther vermitteln, die zum Nachdenken anregen.

Seine eigenen Schriften schufen ab 1517 schlagartig eine ganz neuartige, breite Öffentlichkeit, besonders in Form von Flugschriften für und wider die Reformation. Ein Beispiel ist der „Karsthans“ von 1521, der Dialog eines selbstbewussten und gescheiten Bauern mit seinem bornierten, hochfahrenden Sohn, der am Sitz der virorum obscurorum, der Universität zu Köln, studiert hat. In diesem Streitgespräch kommt dem Karsthans Luther selbst zu Hilfe, seinem Sohn dagegen der Straßburger Franziskanerprediger Thomas Murner. Dieser war der begabteste publizistische Gegenspieler Luthers. Er brachte 1522 die umfangreiche satirische Dichtung „Von dem großen Lutherischen Narren“ heraus, die zwar an drastischer Komik und volkstümlicher Sprachkunst alle sonstigen antilutherischen Schriften überragt, sich aber in Verunglimpfung und Karikatur erschöpft.

Auch die prolutherischen Schriften waren, wie schon der „Karsthans“, nicht zimperlich: Sie bedienten sich ihrerseits drastischer Polemik. Aber gegenüber katholischer Kampfliteratur zeichnet sie aus, dass sie weniger auf Luthers Person als auf seine Sache zielten, an der sich damals die Geister schieden. Das gilt auch für das volkstümliche Lehrgedicht „Die Wittenbergisch Nachtigall“ des Nürnberger Schuhmachers und Poeten Hans Sachs von 1523. Sachs ist es gelungen, Luthers religiöse Botschaft literarisch sinnfällig für das einfache Volk zu gestalten. Dabei betonte er bemerkenswert eigenständig deren soziale Seite: die im Glauben gegründete praktische Nächstenliebe.

In der lutherischen Orthodoxie wurde der Reformator dann zu einem protestantischen Heiligen literarisch überhöht. Ein typisches Beispiel ist das Projekt eines ganzen Dramenzyklus zum ersten Reformationsjubiläum von Martin Rinckart, dem Verfasser des Kirchenliedes „Nun danket alle Gott“. Seine Lutherfigur ist als „Der Eißlebische christliche Ritter“ von 1613 ein miles christianus, ein christlicher Kämpfer. Das Hauptmotiv des Dramas bildet, wie später in Lessings „Nathan“, die Konfrontation der Religionen und Konfessionen im Bild dreier Söhne, die um das Erbe ihres Vaters streiten. Hier ist natürlich Martin Luther gegenüber dem Papst und Calvin der einzige legitime Erbe Christi.

Die Schriftsteller der Aufklärung und Klassik projizierten ihr eigenes Emanzipationsdenken in ihre Lutherbilder. Für Lessing war Luther ein großer Mann mit kleinen Fehlern, der „Held der Freiheit“, dessen Werk es weiterzuführen gilt, für Herder ein geschichtsmächtiger „Hercules Germanicus“ und ein großer Lehrer der deutschen Nation - sie markieren den Anfang nationaler Mythenbildung um die Person Luthers. Goethe und Schiller zeigten zwar ihre Vorliebe für das 16. Jahrhundert, machten jedoch um den Reformator selbst und dessen religiöses Denken einen großen Bogen. In Schillers Gedichtentwurf „Deutsche Größe“ wird in universalgeschichtlicher Manier aus dem historischen Individuum Luther „der Deutsche“, die Inkarnation deutschen Geistes - eine gut gemeinte, aber im 19. und 20. Jahrhundert verhängnisvoll verengte Konstruktion. Goethe ließ wohl seinen „Götz“ und den „Faust“ in der Zeit Luthers spielen, ihm selbst jedoch widmete er keine ernsthafte Dichtung. Zum Reformationsjahr 1817 entwarf er zwar einiges Wohlmeinende, aber seinem Freund, dem Freigeist Knebel, vertraute er zugleich an, interessant an der Reformation sei allein Luthers Charakter, alles übrige nur „verworrener Quark“. Seine Parole lautete: „Entzieht euch dem verstorbnen Zeug,/ Lebend’ges lasst uns lieben!“

Ein einziges Werk aus der Epochenfolge von Aufklärung, Klassik und Romantik enthält eine bis heute belangvolle Luther-Darstellung: Heinrich von Kleists Meisternovelle „Michael Kohlhaas“. In ihr ist der Reformator zwar nur als episodische Figur, aber mit erstaunlicher historischer Intuition aufgefasst, ganz ohne die alte konfessionelle und die neue nationale Heroisierung. Mit dem tragischen Fall Kohlhaas wirft Kleist ein scharfes Licht auch auf den „Fall Luther“, auf dessen bis heute umstrittene religiös-politische Ethik mit ihrer schroffen Entgegensetzung von Evangelium und Gesellschaft. Zu Kleists poetischer Weisheit gehörte es, den Reformator nicht als Hauptfigur darzustellen. Autoren, die das versucht haben, scheiterten fast alle schon an der Komplexität dieses welthistorischen Individuums.

Nationalistischer Missbrauch

Im 19. Jahrhundert ist über Luther in lyrischer, epischer, dramatischer Form endlos viel und unendlich Belangloses gedichtet worden. Man betrachtete ihn durch die politische Brille oder durch die altfränkische Butzenscheibe. Am beliebtesten war das Bild Luthers als Vorbild bürgerlicher Tugenden, als treuer Ehemann und Hausvater, als fleißiger Professor, als gehorsamer Untertan.

In diesem Bild fand weder der Revolutionär Luther noch der radikale religiöse Denker Platz. Levin Schücking, liberaler Katholik und Freund Annette von Droste-Hülshoffs, konfrontierte in seinem Roman „Luther in Rom“ den jungen Mönch mit dem fast gleichaltrigen Raffael, baute damit den deutschen Luther-Mythos in trivialer Weise aus und schuf so eine denkbar gute Vorlage für einen möglichen Hollywood-Film. Im neuen Kaiserreich wurde das Bild Luthers immer mehr nationalisiert. Theodor Fontane hat das an den Luther-Festspielen kompetent kritisiert. Aber sogar der Schweizer Autor Conrad Ferdinand Meyer, reformierter Herkunft, ließ sich davon anstecken und dichtete zum 400. Geburtstag des Reformators ein „Lutherlied“, mit dem vielzitierten Messergebnis: „Jeder Zoll ein deutscher Mann“. Im gleichen Jahr pries der Star-Historiker Heinrich von Treitschke Luther als einen Mann, in dessen Adern „die ungebändigte Naturgewalt deutschen Trotzes kocht“. Dabei waren Meyer schon in seinem Epos „Huttens letzte Tage“ unter dem Titel „Luther“ ein paar Verse gelungen, die im trüben Strom der Lutherlyrik vor und nach ihm das einzige belangvolle Gedicht darstellen.

Eine kontinuierliche Linie führt von preußischen Historikern über protestantische Kriegstheologen von 1914 bis 1918 und das republikfeindliche Luthertum der Zwanzigerjahre bis ins Nazi-Reich. Auf dieser Linie bewegten sich auch viele Schriftsteller mit ihren Luther-Gedichten, -Romanen und -Dramen. Sogar ein Dramatiker der modernen Weltliteratur, August Strindberg, beteiligte sich am Kult um den deutschen Luther; den Titel seines Stücks lieh er sich von Hans Sachs: „Die Nachtigall von Wittenberg“. „Völkische“ Dichter, lutherische Theologen, deutschnationale Historiker und Germanisten missbrauchten den Titel „Prophet der Deutschen“, den Luther sich mit ganz anderer Intention selbst verliehen hatte, auf verhängnisvolle Weise. Indem sie von Luther und dem „deutschen Geist“ schwafelten, dienten sie dem deutschen Ungeist. Heute wiederholt das Karlheinz Weißmann, führender Kopf der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit, mit seinem Luther-Buch für „junge Leser“: „Prophet der Deutschen“.

Angesichts dieses nationalistischen Missbrauchs Luthers ist es verständlich, dass moderne, weltoffene Intellektuelle und Schriftsteller mit ihm wenig anzufangen wussten. Nur noch ganz selten sind einzelne ihm wirklich literarisch begegnet, so Ricarda Huch in ihrem Buch-Essay „Luthers Glaube“ oder Jochen Klepper in seinem tragisch abgebrochenen Roman-Projekt „Das ewige Haus“. Ein einziger der großen deutschen Schriftsteller der Moderne, Thomas Mann, dachte in den Jahren des Exils auf seine Weise über Luther nach, der ihm dabei zu einer symbolischen Figur der verhängnisvollen deutschen Geschichte wurde. Dem nationalistischen Zerrbild Luthers als des ewigen Deutschen stellte er die Karikatur eines „stiernackigen Gottesbarbaren“ polemisch entgegen und ließ diese kritische Sicht auch in seinen Roman „Doktor Faustus“ einfließen. Gegen Ende seines Lebens entwarf er sogar noch, auf Lutherstudien gestützt, ein Theaterstück über „Luthers Hochzeit“ - ein ebenso reizvolles wie problematisches Projekt.

In dem halben Jahrhundert seitdem ist weiterhin viel Literatur über Luther produziert worden, aber, wie vorher, nur wenig künstlerisch und geistig Anspruchsvolles. Luthernahe Werke blieben meist dilettantisch, konservativ, antimodern. Und lutherkritische Werke erschöpften sich oft in Wiederholung alter Vorwürfe: Luther, der „Verräter“, der „Fürstenknecht“. Das prägte schon den „Luther“-Gedichtzyklus von Johannes R. Becher aus der Exilzeit und dann fast die gesamte Luther-Belletristik in der ddr, aber auch westliche Texte wie Hans Christoph Buchs „Der Burgwart der Wartburg“. Andere Autoren veralberten einfach den einstmals ehrwürdigen Gegenstand. Gewollt und forciert tat das Detlef Opitz mit seinem Roman „Klio, ein Wirbel um L“. Eher ungewollt passierte das Rolf Hochhuth mit seinem unsäglich niveaulosen Theaterstück „9 Nonnen auf der Flucht“.

Herausragende Werke

Aus der Literatur des vergangenen halben Jahrhunderts ragen drei Werke mit Abstand heraus. Sie gehören, sogar als extreme Exemplare, zur lutherkritischen Richtung. Das erste ist John Osbornes Theaterstück „Luther“, das sich ebenso drastisch wie frei an die psychoanalytische Luther-Studie von Erik H. Erikson anlehnt. Das zweite Werk ist Dieter Fortes dramatische Dokumentarsatire „Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung“. Sie provoziert witzig mit Entlarvungsblicken auf die gesamte Reformationsgeschichte: Als deren Hauptheld erscheinen weder Luther noch Müntzer, sondern „der Gott Kapital“, personifiziert in der Firma Fugger. Das dritte, herausragende Werk ist Stefan Heyms Legenden-Roman „Ahasver“. In diesem intelligenten und einfallsreich erzählten Buch tritt Luther, wie bei Kleist, zwar nur am Rande auf, aber der ganze Roman ist so angelegt, dass er ein scharfes Licht auf den christlichen Antisemitismus wirft, der in Luthers Judenhass eine seiner grauenvollsten Eruptionen gefunden hat. Diese Sinndimension von Stefan Heyms Roman ist bis heute völlig unerkannt geblieben. Erschließt man sie in sorgfältigem Lesen, dann wird deutlich, was dabei auf dem Spiel steht: nicht nur Luthers Lehre, sondern das ganze Christentum.

Inzwischen haben im Jubiläumsjahr weitere Autoren neue Luther-Literatur vorgelegt: so John von Düffel ein Theaterstück „Martinus Luther - Anfang und Ende eines Mythos“, Feridun Zaimoglu den Roman „Evangelio“ über das ebenso beliebte wie ausgeleierte Motiv „Luther auf der Wartburg“. Weiteres mag in diesem Jahr noch hinzukommen. Ob etwas davon länger haltbar ist, darf man bezweifeln. Aber es ist weder ein Wunder noch eine Schande, wenn ein Autor am Gegenstand Luther schriftstellerisch scheitert. Denn gescheitert sind, seit 500 Jahren, die allermeisten literarischen Versuche zu diesem überaus komplexen Gegenstand, dem ihre Verfasser fast ausnahmslos schon sprachlich und oft auch geistig nicht gewachsen waren.

Um Goethes Parole als Frage aufzugreifen: Was wäre an Luther heute noch so lebendig, dass wir es lieben könnten? Wen die Antwortversuche von Kirchenvertretern und Theologen darauf während der Lutherdekade nicht befriedigen können, der wird aber auch schwerlich ein neues literarisches Werk von Rang über den Reformator finden, in dem diese Frage gegenwartsgerechter erörtert wäre. Darin mag sich eine Grenze nicht nur der Wirkung Martin Luthers, sondern auch der Möglichkeiten von Literatur abzeichnen.

Norbert Mecklenburg

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