Ahnherr dezidierter Haltung

Wittenberg, Berlin und Kassel: Kunst im Jahr des Reformationsjubiläums
„Die Dusche“ von Paloma Varga Weisz ist eines von 65 ausgestellten Exponaten im alten Gefängnis der Lutherstadt Wittenberg. Foto: Rolf Zöllner
„Die Dusche“ von Paloma Varga Weisz ist eines von 65 ausgestellten Exponaten im alten Gefängnis der Lutherstadt Wittenberg. Foto: Rolf Zöllner
Das Verhältnis von Protestantismus und bildender Kunst unterliegt dem Wandel. Im Jubiläumsjahr zeigt die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“, wie die Einstellungen des Reformators künstlerisch verarbeitet werden. Der Theologe und Kunsthistoriker Andreas Mertin aus Hagen hat die Schau besucht.

Jubiläen - gleich aus welchem Anlass - sind in der Regel eine gute Gelegenheit, den Fortschritt und die Aktualität einer Sache oder eines Verhältnisses auf den Prüfstand zu stellen. Seit 35 Jahren ist es üblich geworden, zu den verschiedenen Jubiläen der Reformation und der Reformatoren auch nach dem Verhältnis von bildender Kunst und Protestantismus zu fragen. Bis dahin waren Kunstausstellungen zu evangelischen Jubiläen oft nur Selbstbespiegelungen à la „Martin Luther in der Kunst“, ein Narzissmus, der für ein mit der Moderne bereits vertrautes Publikum an Langeweile kaum zu überbieten war.

Geradezu als Paukenschlag wurde da 1983 anlässlich des 500. Geburtstag Martin Luthers Werner Hofmanns Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle unter dem Titel „Luther und die Folgen für die Kunst“ wahrgenommen. Sie brachte einem kunstinteressierten Publikum die These nahe, dass es ausgerechnet Martin Luther war, der die Grundlagen für die Entwicklung der modernen Kunst gelegt hatte, weil und indem er die Bilder aus ihrer religiösen Bindung entließ und die Freiheit des Betrachters vor den Bildern betonte. Nicht nur die Bilder sind frei, sondern auch der Betrachter ist frei in der Wahrnehmung und Deutung der Bilder.

Bereits drei Jahre vorher hatte die Ausstellung „Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde“ auf dem Katholikentag in Berlin deutlich gemacht, dass das letzte Wort im Verhältnis von Kunst und Christentum noch nicht gesprochen ist, sondern dass es sich lohnt, den Spuren der Transzendenz in der zeitgenössischen Kunst nachzugehen. Das war auch die Zeit, in der die Evangelische Kirche in Deutschland beschloss, jeweils zur documenta in Kassel mit einer eigenen Ausstellung im Kirchenraum präsent zu sein und das Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst kritisch zu prüfen.

Sind die Protestanten nur Beobachter oder auch Spurensucher, Impulsgeber oder Gastgeber im Gespräch mit der Kunst? Oder hat sich der Protestantismus soweit säkularisiert, dass man gleich auf die documenta gehen kann, weil man nichts Spezifisches oder gar Neues in einen Dialog einbringen kann? Die Antwort der ersten drei Ausstellungen lautete, dass es weiterhin Themen gibt, an denen auch die großen Künstler nicht vorbeikommen. Gezeigt wurde das am Beispiel der Themen Abendmahl, Ecce homo, Liebe und Eros.

Die Antwort der folgenden drei Ausstellungen war, dass die Christen über atmosphärisch aufgeladene Räume, also Resonanzkörper verfügen, die für jeden Künstler in ästhetischer Perspektive eine Herausforderung darstellen, während der künstlerische Einbruch in den Leib Christi für die Gemeinde Stoff zum Nachdenken gibt.

Und so wie sich die Kunstszene weiterentwickelt, entwickeln sich auch die Fragestellungen im Verhältnis von Kunst und Religion. Ein neuer wichtiger Aspekt im Blick auf die zeitgenössische Kunst ist die Frage der künstlerischen Haltung. Wer 2017 die großen Ausstellungen in Venedig, Kassel und Münster besucht, wird feststellen, dass die Ausstellungsleiter bevorzugt künstlerische Haltungen präsentieren: Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Meine Botschaft, meine Erkenntnis ist …

Es ist daher absolut konsequent, dass die, die zum Reformationsjubiläum mit der Ausstellung zeitgenössischer Kunst beauftragt sind, gar nicht erst auf die Idee kamen, Martin Luther in der zeitgenössischen Kunst auszustellen, was ja auch überaus peinlich gewesen wäre, sondern erkannten vielmehr, dass man in Martin Luther so etwas wie einen Ahnherrn einer dezidierten Haltung entdecken kann.

Passender Ausstellungsort

Diese Idee, die das tragende Element der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ in Wittenberg und den beiden Satelliten Berlin und Kassel ist, ist ausgesprochen überzeugend. Sie hat vielleicht den Nachteil, dass sie den Fokus vom Einzelwerk selbst auf die dahinter stehende Haltung des Künstlers verschiebt, eine Perspektive, die lange Zeit zu den verbotenen gehörte. Niemand durfte im Museum fragen „Was will der Künstler damit sagen?“ Aber die Zeiten haben sich auch in der Kunst geändert, und dies perspektivisch mit Martin Luther zu verbinden, ist ein Verdienst der Kunstausstellung „Luther und die Avantgarde“.

Ihre zweite besondere Leistung ist die Wahl des Ausstellungsortes. Weniger der Ort Wittenberg selbst, sondern das konkrete Gebäude, nämlich das alte verfallene Gefängnis am Rand der Altstadt von Wittenberg. Begreift man, wie Bazon Brock es in seinem die Besucherschulung in Wittenberg eröffnenden Video vorschlägt, das Gefängnis als eine Metapher für die Freiheitswünsche des sich als gefangen und gefesselt, ja eingekerkert empfindenden Menschen zu sehen, sind wir ganz nah bei Martin Luther, ohne peinliche Illustrationen abliefern zu müssen.

Auch die Kasseler Kirche als Kirche der hugenottischen Refuges des 17. Jahrhunderts ist ein derartiger Glücksgriff. Und mit der Wahl des dort ausstellenden Künstlers Thomas Kilpper, der die europäische Flüchtlingsfrage aufgreift, ist den Kuratoren wirklich etwas Besonderes gelungen. Aber schauen wir zunächst nach Wittenberg: Dort sind über 65 Künstlerinnen und Künstler versammelt, und der Mehrzahl von ihnen wurde eine Zelle im Gefängnis zugewiesen. Das klingt etwas ironisch, hat aber natürlich auch noch in der Gegenwart ihre Wahrheit im Schicksal von Künstlern in zahlreichen Staaten. Die Künstler, die die Kuratoren ausgewählt haben, sind alle weitgehend prominent. Das ist logisch, wenn man auf ein Konzept von „Haltung“ setzt, denn diese ist - wir haben es in den vergangenen Jahren am Beispiel Martin Luthers gesehen - immer auch mit der „Marke“ des Betreffenden verbunden. Wir blicken auf die Marke Luther, die Marke Cranach, die Marke Lüpertz, die Marke Balkenhol, die Marke Ai Wei Wei. Also fragt man: Für welche Haltung stehen diese Marken, welche Werte und welche gesellschaftlichen Probleme treiben sie um? Dass die Künstler nicht nur globale Probleme benennen, sondern auch die Welt verändern wollen, machen nicht nur Lautsprecher wie Jonathan Meese deutlich, sondern auch die stilleren unter den ausgestellten Künstlern. Wenn der russische Künstler Andrey Kuzkin seine Zelle als Gefängnis gefüllt mit flehenden Figuren aus Brotteig baut, dann ist das wesentlich ausdrucksvoller als Meeses Tirade von der anzustrebenden Diktatur der Kunst.

Bei 65 ausgestellten Künstlern ist es an dieser Stelle nicht möglich, sich auch nur annähernd einen Überblick zu verschaffen. Deshalb nur einige Hinweise auf künstlerische Haltungen und Positionen. Johanna Reich hat mit Jugendlichen in ganz Deutschland gesprochen und sie nach „Vor-Bildern“ gefragt, die sie mit den Worten „Rebellion“ und „Widerstand“ verbinden. Und deren Bilder hat sie dann mit den Porträts der Jugendlichen verschmolzen und präsentiert das Ergebnis auf schwarzen Litfaßsäulen in Wittenberg. Das ist überaus beeindruckend und verbindet Ausstellungsanlass, Ausstellungskonzept und künstlerische Position auf gekonnte Weise.

Ähnliches kann man im Blick auf die Arbeit von Ulrike Kuschel sagen. Sie greift eine Idee des 18. Jahrhunderts auf und kombiniert Texte so, dass sie als Wortbild die Gestalt Martin Luthers ergeben. Als Texturen ausgewählt hat die Künstlerin Texte von Karl Barth, Thomas Mann, Jürgen Kuczynski, Erich Honecker und Karl Carstens. Das hat Sprengkraft. Haltungen zu einer Haltung, die sich in einem Bild verdichten.

Miao Xiachun beschäftigt sich mit einer Haltung des Zweifels im Bild, die geradezu ikonisch geworden ist, nämlich mit Caravaggios „Ungläubiger Thomas“, und übersetzt sie in die Virtualität des Digitalen. Funktioniert der auf dem Bild von Caravaggio geradezu physisch spürbare Widerstand, den der Körper Christi dem Finger des Thomas bietet, auch noch in virtuellen Welten, in denen der Vorgang in Texturen aufgelöst und zersplittert wird?

Gespannt konnte man auf die Arbeit von Christian Boltanski sein, weil es naheliegend war, dass er den Anti-Judaismus Luthers künstlerisch bearbeitet. Statt dessen widmet er sich der Ästhetik der Negativität, einer geradezu existenziellen Schwärze, bei der man meint, auf den eigenen Herzschlag zurückgeworfen zu sein, bis man merkt, dass dieser aus dem Lautsprecher wummert.

Wummernder Lautsprecher

Die poetischste Arbeit in Wittenberg ist die Zelle von Jörg Herold. Je nach Lichtverhältnissen vor dem Zellenfenster wirkt sie zunächst ganz leer, bis man dann auf die grüne Schattierung der Wände aufmerksam wird, in die der Künstler, selbst Atheist, wie er betont, die 99 schönen Namen Gottes geritzt hat. „Wahrlich, Gott hat neunundneunzig Namen, einen weniger als hundert. Wer sie aufzählt, geht ins Paradies“ (Abu Huraira, 7. Jahrhundert).

Es gibt freilich auch Kritisches zur Wittenberger Ausstellung anzumerken. Ich habe selten eine Ausstellung besucht, bei der religiöser Analphabetismus so spürbar war wie bei dieser. Diese Platitüden über den bilderfeindlichen Protes-tantismus, als ob Lutheraner ein Bilderverbot hätten. Diese Unkenntnis dessen, was protestantische Existenz ausmacht, ist doch erschreckend. Nicht nur, dass all die kleinbürgerlichen Luthermythen des 19. Jahrhunderts als Tatsachen angesehen werden. Auch dass ein Künstler der Ausstellung meint, Luther habe den Antisemitismus erfunden(!), ist schrecklich. Unangenehm finde ich darüber hinaus die Schilder vor den einzelnen Zellen in Wittenberg, die dem Besucher sagen, wie er die Kunst wahrzunehmen habe. Man wird mit Deutungshinweisen erschlagen. Ein wenig mehr Vertrauen zur Eigensprachlichkeit der Kunst wäre angebracht.

Blicken wir abschließend noch nach Kassel, dem Ursprungsort protestantischer Begegnung mit der zeitgenössischen Kunst nach 1945. Zwei Positionen sind dort in der hugenottischen Karlskirche versammelt. Im Zentrum des vollständig verdunkelten Oktogons der Kirche präsentiert die indische Künstlerin Shilpa Gupta eine Traube aus Mikrophonen, die begleitet von Geräuschen, ein Gedicht wiedergeben. Religionsgeschichtlich fühlt man sich, was die Künstlerin vermutlich auch intendiert hat, an Rudolf Ottos mysterium fascinosum et tremendum erinnert. Man muss sich dieser Installation aussetzen, sich quasi auf den Boden werfen, um sie wirklich zu erfassen. Freilich kollidiert das ein wenig mit der rationalen Konstruktion des Glaubens jener, die in dieser Kirche Gottesdienst feiern. Daneben zeigt die Künstlerin ein glühendes Buch aus Metall, eine Heilige Schrift, an der man sich die Finger verbrennt und die metaphorisch Menschen und Völker in Wallung versetzt. Insgesamt hat sich die Künstlerin, verglichen mit ihrem bisherigen, nicht zuletzt gesellschaftspolitischen Werk, sehr zurückgehalten.

Das ist bei Thomas Kilpper anders. Er macht aus dem Glockenturm der Kirche symbolisch einen Leuchtturm für Lampedusa und fragt nach der Verantwortlichkeit Europas für das entsetzliche Geschehen auf dem Mittelmeer. Einen Leuchtturm möchte er irgendwann auch an der Südwestküste Lampedusas realisieren. Zugleich stellt er zusammen mit Massimo Ricciardo auf der Orgelempore von Flüchtlingen zurückgelassene Objekte aus, die an den Strand von Lampedusa gespült wurden und letzte Zeugen ihres Lebens und Sterbens sind. In der Kirche erhält das eine ungeheure Intensität. Aber Kilppers Arbeit mit dem die Flucht über das Mittelmeer erleichternden Leuchtturm lässt auch nach dem Verhältnis von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik fragen und vielleicht kann ja gerade an einem derartigen Objekt die auch in zeitzeichen geführte Debatte noch einmal präzisiert werden.

Die katholische Kirche, die seit zwanzig Jahren ebenfalls Begleitausstellungen zur documenta macht und beim letzten Mal mit Stephan Balkenhol in einen scharfen Konflikt mit der documenta geraten war, verzichtet diesmal ganz auf die ostentative Geste und überrascht mit einer überaus überzeugenden, sensiblen raumbezogenen Arbeit von Anne Gathmann, die der „Statik der Resonanz“ im Raum des Religiösen nachgeht. Wer nach Kassel zur documenta fährt, sollte weder die Ausstellung in der Karlskirche, noch die in der Elisabethkirche versäumen.

Informationen

Die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ ist bis 17. September in Wittenberg, Berlin und Kassel zu sehen.

Andreas Mertin

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Foto: privat

Andreas Mertin

Andreas Mertin, Jahrgang 1958, ist Gründer und Herausgeber des seit 1998 im Internet erscheinenden Magazins tà katoptrizómena, dem Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik (www.theomag.de). Der Theologe und Kulturwissenschaftler (www.amertin.de) ist u.a. auch als Kurator von Ausstellungen tätig und lebt in Hagen (NRW).


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