Frei vom Diktat der Zahlen

Kirche 2030: Zwischen neuen gemeindlichen Formen und alten kirchlichen Strukturen
„Der Pflüger“, Eugen Bracht, 1916. Foto: akg-images
„Der Pflüger“, Eugen Bracht, 1916. Foto: akg-images
Die Kirche auf dem Land wird eine Kirche der Ehrenamtlichen sein, die von ausgebildeten Laien gestaltet wird. Diese Ansicht vertritt Ralf Meister, Landesbischof der hannoverschen Kirche, der flächenmäßig zweitgrößten in der EKD.

Die demographische Bewegung in den ländlichen Räumen in Deutschland scheint eindeutig zu verlaufen: Ländliche Regionen verlieren, gerade wenn sie von Mittelzentren oder größeren Städten entfernt liegen, weiterhin Bewohnerinnen und Bewohner. Damit stehen auch die dort existierenden kleinen Kirchengemeinden vor großen Aufgaben.

Dieses Phänomen zeichnete sich in den vergangenen Jahrzehnten bereits deutlich ab. Dabei sind die mit tradierter geringer Kirchenmitgliedschaft geprägten ländlichen Regionen in den östlichen Bundesländern eine zusätzliche Herausforderung. Statistische Daten oder empirische Untersuchungen bieten jedoch für sich genommen keine ausreichende Grundlage für die Beschreibung der Kirche der Zukunft. Die Statistik-Gläubigkeit innerhalb der Kirche hat inzwischen eigenartige Züge angenommen. Zahlen, Erhebungen, Evaluationen und empirische Befunde gelten vielen Handelnden als der primäre Referenzrahmen für neue Zukunftskonzepte. Dabei gibt es Facetten kirchlicher Arbeit, die auch mit der besten Analyse nicht vorhersehbar gewesen wären: engagierte und charismatische Leitungsgruppen und Personen, dynamische Bewegungen innerhalb von Kleinstgemeinden oder das Engagement von kirchlich Distanzierten beim Aufbau von diakonischer Gemeinwesenarbeit oder der Sanierung von Kirchenbauten.

Bei einem meiner Antrittsbesuche in der primär ländlich strukturierten Landeskirche Hannovers erhielt ich im Kirchenkreis Leine-Solling einen archäologischen Sammelband überreicht, der mir erstmalig das Phänomen von Wüstungen beschrieb. Überrascht las ich von verschwundenen Orten in der Region, die durch Ausgrabungen als lebendige Siedlungsorte im Mittelalter identifiziert werden konnten. Sie hatten oft mehrere hundert Einwohner, einen Kirchenbau und Ackerbau auf mehr als hundert Hektar. Heute zeugen nur noch archäologische Spuren von ihrer Existenz. Andere Orte wiederum bestehen heute nur noch aus einer Kirche, die umringende Dorfbebauung ist seit einigen Jahrhunderten verschwunden. Es wäre fahrlässig, vielleicht sogar zynisch, diese historische Notiz als Entwicklungsprogramm der Kirche der Zukunft zu verkünden. Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass es Ansiedlungen und Dörfer, die jahrhundertelang den Raum Niedersachsen prägten, in einigen Generationen nicht mehr geben wird. Neben allem Ideenreichtum und vielen Strukturhilfen, neben missionarischen Entwicklungsprogrammen und der Begeisterung der Menschen in den kleinen Gemeinden gehört diese Ehrlichkeit zur Realität. Trotzdem wird sie nicht Leitlinie unseres Handelns sein.

Es ist klar, dass es kein Generalrezept gibt, welches auf das „Problem“ Kirche-in-ländlichen-Räumen reagiert. Kirche in ländlichen Räumen ist kein Problem, sondern die riesige Chance, innovativ und befreit von alten Konzepten Freiräume der Gestaltung zu eröffnen. Es gibt ein Bündel von möglichen Stärkungen und Unterstützungen, die jeweils der lokalen Situation Rechnung tragen muss. In meinem Angebot, besonders kleine Kirchengemeinden zu besuchen, bereise ich jährlich zehn bis 15 kleine und kleinste Gemeinden und treffe auf ein sehr hohes Engagement, eine außergewöhnliche Identifikation mit dem Dorf und eine dichte soziale Gemeinschaft, die sich weit über die für sie willkürliche Grenze der Kirchenmitgliedschaft bewegt. Im Agrarland Nummer eins in Deutschland spielt dabei auch eine Rolle, ob es noch bewirtschaftete Höfe im Dorf gibt oder die letzten ortsgebundenen Bauern ihre Landwirtschaft schon eingestellt haben. Das Themenfeld Kirche auf dem Land betrifft Niedersachsen auch deshalb in besonderer Weise, weil von den 38 Landkreisen sechs mit einer Bevölkerungsdichte von weniger als 100 Bewohnern pro Quadratkilometer existieren. Darunter der Landkreis Lüchow-Dannenberg mit 41 Bewohnern pro Quadratkilometer.

Es gibt einige Tendenzen, wie die Entwicklung der Kirche in den ländlichen Räumen verlaufen könnte. Diese Tendenzen, die ich aus meinen Besuchen und persönlichen Erfahrungen erkenne, sind zugleich eine kritische Infragestellung scheinbar feststehender alter Entwicklungskonzepte. Es geht nicht um fertige Lösungen, sondern um eine Skizze von Aufgabenfeldern, in der sich die Kirche im ländlichen Raum in Zukunft bewegen muss.

Wir investieren viel Zeit, Geld und Energie, um Kirche im ländlichen Raum in den Strukturen neu zu planen. Aus den großen Anstrengungen in den neuen Bundesländern ist deutlich, dass die Erfüllung alter Leitbilder eine große Illusion ist. Der Anspruch der Volkskirche, als Grundform an allen Orten mit einem multiplen Angebot räumlich und personell präsent zu sein, ist einer der größten Hinderungsgründe für eine dynamische Entwicklung vor Ort. In einer vitalen Dynamik wird vor Ort entschieden, welche Angebote sinnvoll und welche Strukturen geeignet sind, um kirchliches Leben im Dorf zu gestalten. Landeskirchliche Aufgabenkataloge müssen durch das Sieb der lokalen Lage, um Akzeptanz oder tragfähige Modelle entstehen zu lassen. Wir werden Toleranz lernen müssen, um alternative Schwerpunktsetzungen zuzulassen. Dazu gehört auch, mutig zu entscheiden und zu ertragen, wann Strukturen nicht mehr tragen. Für den ländlichen Raum wird es auch der Abschied von der Idee sein, um jeden Preis ein lückenloses Parochienetz in teilweise absurder Größenordnung aufrechtzuerhalten.

Weitestgehend sind viele Zukunftsszenarien immer noch bestimmt von finanziellen und strukturellen Vorgaben. Wie kann, unter geringer werdenden Mitteln mit weniger Mitgliedern, glaubwürdig Kirche gestaltet werden? Die Kommunikation des Evangeliums ist in ihrer geistlichen Wirkung - Gott sei’s gedankt - nie eine Frage der Zahl gewesen. Im Chronikbuch wird lebendig erzählt, wie Gott die Zählwut Davids missfiel (1. Chronik 21,1ff). Die weit verbreitete Verwechslung der Sozialgestalt der Kirche mit dem Reich Gottes führt zu einer systematischen Entwertung des geistlichen Lebens in kleinen und kleinsten Kirchengemeinden. Wenn bestimmte Größenordnungen nicht mehr erreicht werden, muss eine Kirchengemeinde eingehen in die nächst größere Einheit. Dieser Vorgang wird, wie ich oft erlebt habe, auch als geistliche Entwertung erlebt.

Es muss neu bedacht werden, welche Schwerpunkte des geistlichen Lebens einer Kirchengemeinde Bedeutung erhalten - was leitet uns? Welche Bedeutung haben Analysen wie Mitgliedschaftsuntersuchungen, welche nicht? Wie kann das geistliche Potenzial der Kirchengemeinden auch jenseits alter struktureller Bindung neu in Teilhabeprozesse der Dorfentwicklung einfließen? Wie definiert sich die Exklusivität dieses geistlichen Angebotes? Das ist eine klare Anfrage an die Spielereien, die über den Leisten einer bestimmten Zahl die Nichtexistenz von Kirchengemeinden bestimmen.Die organisatorische Form, in der das Leben einer geistlichen Gemeinschaft Zeugnis ablegt, kann sich schon jetzt nicht mehr streng in ein Standard-Konzept von Ortsgemeinden einbinden lassen. Die Lage in Ostfriesland ist eine andere als in Südniedersachsen.

Es wird spannend bleiben, wie sich neue gemeindliche Lebensformen im ländlichen Raum zu übergeordneten kirchlichen Strukturen verhalten. Welche Stärkungen sie brauchen, welche Mitspracherechte sie einfordern und welche Anforderungen an sie gestellt werden. In der Besiedlung des heutigen Niedersachsens sind die ältesten Gemeinschaften oftmals klösterliche Niederlassungen gewesen. Klein in der Mitgliederzahl, überzeugend und konsequent. Welche Kommunitäten werden den Glauben in die nächsten Jahrhunderte tradieren?

Ehrenamtliche übernehmen schon gegenwärtig in unserer Kirche herausgehobene Leitungsaufgaben. Kirchliches Leben ist ohne den Dienst der Prädikantinnen und Lektoren nicht mehr denkbar. Immer mehr Kirchenvorstände werden von Ehrenamtlichen geleitet. Die Kirche auf dem Land wird eine Kirche der Ehrenamtlichen sein, die von ausgebildeten Laien, die vom Gemeindemanagement bis zu Gottesdienst und Kasualien gemeindeleitende Aufgaben übernehmen, gestaltet wird. Damit das gelingt, sind zwei Dinge notwendig: Die strukturellen Gegebenheiten müssen radikal reduziert und elementarisiert werden, so dass Haushaltsführung und Gemeindemanagement fachkundig vor Ort geleistet werden können. Der übliche Verweis auf Rechtsordnungen oder Haushaltsrecht ist keine Anfrage an die Gemeinden auf dem Land, sondern an die Fachdezernenten in den Landeskirchenämtern. In viel größerem Maße als bisher wird in die Ausbildung, Begleitung und Anerkennungskultur für ehrenamtlich Mitarbeitende investiert werden. Doch zugleich resultiert daraus die Frage nach dem künftigen Verhältnis von hauptamtlich tätigen Pastorinnen und Pastoren und Diakoninnen und Diakonen zu ehrenamtlich - oder nebenamtlich - tätigen ausgebildeten Laien. Es geht um mehr als die bislang bekannte Ehrenamtlichengewinnung. Es geht um ein qualifiziertes Management in Form geistlicher sowie fachlicher Begleitung. Das wird zunehmend eine Aufgabe für hauptamtlich Beschäftigte in ländlichen Regionen sein.

Kleinere Kirche

„Wir waren etwas überrascht, dass fast jeder von Menschen zu berichten wusste, die sich kirchlich engagieren, aber gar nicht in der Kirche sind. In ‚meinem‘ säkularen Kirchenkreis mit vielen bunten Lebensentwürfen und viel Zuzug aus städtischen Ballungszentren schätze ich den Anteil der Mitarbeitenden in unseren Gemeinden auf ca. 20 Prozent.“ Diese Einschätzung stammt von Stephan Wichert-von Holten, der den stark von der demographischen Entwicklung betroffenen Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg leitet. Wie werden wir als Kirche künftig damit umgehen, dass sich Menschen in unseren Gemeinden engagieren, dort eine geistliche Heimat finden, sich wesentlich am kirchlichen Leben vor Ort beteiligen - aber nicht Mitglieder unserer Kirche sind? Während wir innerhalb der Kirche eine Wertschätzungs- und Anerkennungskultur pflegen, endet sie oft an der Grenze zur Kirchenmitgliedschaft. Doch schon immer war Kirche im Dorf keine exklusive Veranstaltung für Kirchenmitglieder, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung für alle Menschen, die dort leben. Was dem Dorf dient, dient der Kirche, was der Kirche dient, dient dem Dorf. Dazu gehört in langfristiger Konsequenz auch, über ein neues Kirchenmitgliedschaftsrecht nachzudenken, um auf solche Entwicklungen zu reagieren.

Vor allen Reformanstrengungen steht die Frage nach der geistlichen Kraft der Kirche. Die Kirche wird trotz all unserer guten Initiativen und Anstrengungen kleiner. Das ist bedauerlich, aber kein Grund zur Depression. In einer fröhlichen Heiterkeit sollten wir auf die Verheißungen Gottes und nicht auf verblassende Bilder einer scheinbaren kirchlichen Vollversorgung schauen. Früher war nicht alles besser, auch nicht in unserer Kirche. Wie also gehen wir voran? So wichtig wie die empirischen Befunde über unsere Kirche und die detaillierten mittelfristigen Planungsszenarien sind, so sehr brauchen wir Freiräume von dem Diktat der Zahlen und Analysen. Wir müssen gerade jetzt eine geistlich lernende Kirche sein und immer wieder Möglichkeiten eröffnen, in denen Kirche in neuer Weise und Form entstehen kann. Strukturelle Konzeptentwicklungen sind das Eine, darin haben evangelische Kirchen einige Übung und Erfahrung. Jetzt gilt es, das Augenmerk stärker auf die theologische und geistliche Betrachtung der Kirche vor Ort zu richten. Sie ist die nötige und fruchtbringende Voraussetzung für jede Form von Reform und Entwicklung. Unabhängig von der künftigen Struktur der Kirche ist der Gottesdienst die Mitte unseres kirchlichen Lebens. Im Gottesdienst eröffnet sich dem Menschen in einzigartiger Weise ein Erfahrungsraum, um ausgehend von der Botschaft Jesu Christi geistliche Gemeinschaft zu erfahren und das Leben im Licht dieser Botschaft zu gestalten.

Ralf Meister

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