Qualität vor Effizienz

Asylverfahren in Deutschland leiden unter neuen Strukturen

Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung wird auch in diesem Superwahljahr für rege Debatten sorgen. Wie viele Flüchtlinge dürfen kommen? Darf man überhaupt eine Obergrenze einführen? Wie können die Wege nach Europa kontrolliert werden? Auch diejenigen, die hier sind, sorgen für Debatten. Doch relativ wenig diskutiert wird über das Asylverfahren selbst. Wenn darüber gesprochen wird, dann interessieren vor allem Effizienzkriterien und die Frage, ob die unter dem neuen Behördenchef Frank-Jürgen Weise und der Beratung von McKinsey eingeführten Strukturen wirklich dazu führen, den riesigen Berg von Asylanträgen schnell abzuarbeiten. Doch was genau in den für die Betroffenen so wichtigen Minuten der Anhörung passiert, die darüber entscheiden, ob sie in Deutschland bleiben dürfen, erfahren wir nur selten. Umso wichtiger sind deshalb die Informationen, die verschiedenste Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen zusammengetragen haben, darunter auch die Diakonie, Caritas und Pro Asyl. Sie haben 87 Kanzleien und 62 Beratungsstellen für Flüchtlinge um Erfahrungsberichte über Verfahren aus den vergangenen Jahren bis in den Juni 2016 hinein gebeten, in denen Mängel festzustellen waren. Rund einhundert Fälle wurden auf diese Weise analysiert. Wer so arbeitet, wird am Ende natürlich keine repräsentative Studie vorlegen können, wohl aber einen Eindruck bekommen von den Problemen, die zum Teil schon seit Jahren bestehen und durch die aktuelle Lage noch verstärkt wurden. Andere sind eine direkte Folge der Neuorganisation des Asylverfahrens. Immer wieder werden zum Beispiel Probleme mit den Übersetzern beschrieben, denn aus Kostengründen werden weniger ausgebildete Dolmetscher eingesetzt. Die Qualifikation der „Sprachmittler“, die vor dem Einsatz nicht überprüft wird, reicht oft nicht aus, so dass fehlerhaft oder verkürzt übersetzt wird. Ein anderes Problem ist die fehlende Rechtsberatung, auf die jeder, der einen Asylantrag stellt, einen Anspruch hat. Doch nicht allen Betroffenen wird das ausreichend klar mitgeteilt, oft verhindern kurzfristig angesetzte Termine oder Bustransfers in andere Orte, dass ein Anwalt bei der Anhörung dabei sein kann. Ebenso problematisch ist, dass die Flüchtlinge oft tagelang in den Behörden warten müssen, bis sie wirklich in die Anhörung kommen. Ein drittes Defizit ist, dass immer seltener die Person, die die Anhörung durchführt, auch diejenige ist, die über das Verfahren entscheidet. Dieser Grundsatz fiel offenbar dem Effizienzdruck zum Opfer. Die Folge: Der unmittelbare Eindruck der Anhörung geht verloren, entschieden wird nur nach Aktenlage und anhand eines Protokolls. Und die Qualifikation der zahlreichen neu eingestellten Anhörer ist oft ein Problem - wie sollte es auch anders sein, bei einer Einarbeitungszeit von drei Wochen! Das Memorandum der Verbände ist eine ebenso spannende wie ernüchternde Lektüre. Es zeigt, dass der ohne Frage unterstützenswerte politische Wille, die Asylverfahren zu beschleunigen und den Betroffenen schneller Klarheit über ihre Situation zu verschaffen, immer öfter zu Lasten der Qualität geht. Hier gilt es dringend nachzubessern. Denn es geht eben nicht nur um Fälle - sondern um Menschen.

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Stephan Kosch

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