Einhegung der Sünde

Was aus evangelischer Sicht für die Demokratie spricht
Berlin 2016, Johannisempfang der ekd: Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm (Mitte) mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Umweltministerin Barbara Hendricks. Foto: epd/ Christian Ditsch
Berlin 2016, Johannisempfang der ekd: Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm (Mitte) mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Umweltministerin Barbara Hendricks. Foto: epd/ Christian Ditsch
Bis heute ist umstritten, was das Christentum im Allgemeinen und der Protestantismus im Besonderen zur Demokratie beigetragen hat und noch beitragen kann.Diesen Fragen geht Georg Kalinna nach, Wissenschaftlicher Mitarbeiter einer interdisziplinären Forschergruppe, die sich mit dem Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1989 befasst. Und er zeigt, wie der deutsche Protestantismus einer nationalen Verengung der Politik wehren kann.

Die Kirchen haben nicht nur längst ihre skeptische Haltung gegenüber der Demokratie überwunden, sondern sie sind zu treibenden Kräften einer beständigen Fortentwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft geworden.“ Dieser Satz des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm beschreibt gut das gegenwärtige Verhältnis von Protestantismus und Demokratie in der Bundesrepublik. Und wenn die politische Profilierung kirchlicher Dokumente hie und da zur Kritik reizt, scheint auch die Politik den Protestantismus als gesellschaftlichen Akteur zu schätzen. Dieses geradezu symbiotische Verhältnis ist freilich keine Selbstverständlichkeit.

Inwieweit die erbitterten Auseinandersetzungen der Kirchen in der Nazizeit mit einer demokratischen Ausrichtung verbunden waren, ist umstritten. Zumindest bildete sich eine Tradition des Antitotalitarismus, die sich vor allem 1934 in der Barmer Theologischen Erklärung artikulierte. Spätestens mit der Verkündung des Grundgesetzes wurde die Demokratie, das „eigentlich unbewältigte Thema“ des deutschen Luthertums (Wolfgang Trillhaas), zum Gegenstand allmählichen Umdenkens. Auch wenn es wie im Rest der Gesellschaft bis in die Sechzigerjahre hinein Vorbehalte gegen den Pluralismus und eine vermeintliche Autoritätsvergessenheit der Demokratie gab, bemühten sich wichtige protestantische Persönlichkeiten von Anfang an, ein konstruktives Verhältnis zum politischen System der Bundesrepublik zu entwickeln, ein Prozess, der nicht zuletzt durch die Kontakte mit der weltweiten Ökumene beeinflusst wurde.

Die meisten Verantwortungsträger in Kirche und Theologie führten das kirchliche Versagen in der Nazizeit auf die politische Untätigkeit der Kirche zurück. Die bewusste Übernahme von demokratischer Mitverantwortung wurde daher früh nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Markenzeichen des Protestantismus. Verschiedene Institutionen und Personen der EKD und der Landeskirchen trugen dazu bei, dass die Handlungs- und Sozialformen der Demokratie nach und nach selbstverständlich wurden. Auf akademischer Seite unternahmen Theologieprofessoren wie Wolfgang Trillhaas, Helmut Thielicke, Ernst Wolf und Helmut Gollwitzer Anstrengungen, einen theologischen Zugang zur Demokratie zu entwickeln. Und seit den Sechzigerjahren löste die jüngere Generation diese Bemühungen durch neue Schwerpunktsetzungen ab. Trutz Rendtorff, Martin Honecker, Heinz Eduard Tödt und Wolfgang Huber trieben vor allem im Medium des Menschenrechtsdiskurses die Zuwendung zur Demokratie voran. Das Wirken dieser Generation ging schließlich 1985 in die EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ ein. Sie wird gemeinhin als entscheidende Wegmarke der Geschichte von Protestantismus und Demokratie in Deutschland gewürdigt. Eine zentrale Aussage der Denkschrift war die Verbindung der biblischen Gottebenbildlichkeitsvorstellung mit der im ersten Artikel des Grundgesetzes verankerten Menschenwürde. Das an beiden ausgerichtete Menschenbild wurde so zum Bindeglied zwischen Protestantismus und Demokratie.

Bedenkt man die Vorgeschichte, war eine solche Hinwendung des deutschen Protestantismus zur Demokratie nicht selbstverständlich. Die Französische Revolution galt im 19. Jahrhundert den meisten kirchlichen und akademischen Eliten sowie einer Mehrzahl der Gemeindeglieder als Beweis dafür, dass Demokratie eine Ausgeburt des Atheismus ist, die in einem Blutbad endet. Die Überzeugung vom Zusammenhang nationaler Sendung, Kaisertum und göttlicher Fügung überschattete im Kaiserreich Theologie und Kirche. Und in der Weimarer Republik kippte die häufig diagnostizierte Indifferenz des Protestantismus gegenüber dem politischen System in eine ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber der Demokratie um. Ausnahmen waren wenige liberale Theologen wie Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Friedrich Naumann. Sie engagierten sich im und für den neuen Staat.

Experimentierfeld Amerika

Im Jahr des Reformationsjubiläums lässt sich erneut darüber streiten, ob die Wurzeln dieser Haltung in der Reformationszeit lagen oder nicht. Stimmen aus der akademischen Theologie waren und sind hierbei eher skeptisch. So schrieb der Theologe Ernst Wolf bereits in den Fünfzigerjahren: „Die moderne Demokratie ist gewiß nicht ohne Einwirkung des Christentums […], aber wesentlich an ihm vorbei entstanden.“

Martin Luther sah die politische Macht als gottgewollte Ordnung an. Entsprechend seiner Überzeugung von der Unmittelbarkeit des Verhältnisses von Gott und Mensch, kritisierte der Reformator zwar entschieden die Vermittlerrolle der Institution Kirche. Dieses institutionenkritische Potenzial machte er aber nicht gegenüber den Landesfürsten geltend. Trotz aller Kritik an der Amtsführung konkreter Herrscher galten Luther die göttliche Einsetzung der Landesfürsten einerseits und die Pflicht der Untertanen zum Gehorsam andererseits als selbstverständliche Normen im Bereich des „weltlichen Regiments“.

Die Auffassung des Genfer Reformators Johannes Calvin entsprach in weiten Teilen derjenigen Luthers, auch wenn er - geprägt vom Genf des frühen 16. Jahrhunderts - eine aristokratische Form politischer (Stadt-) Herrschaft bevorzugte. Der Calvinismus aber spielte eine erhebliche Rolle darin, der Demokratie „ein geistiges Rückgrat“ (Ernst Troeltsch) zu bieten. Unter dem Eindruck der grausamen Auseinandersetzungen, denen reformierte Protestanten in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden ausgesetzt waren, entwickelte sich eine zunehmende Kritik am Königtum, die eng mit unterschiedlichen Spielarten einer Bundestheologie verbunden war.

Besonders die nordamerikanischen Kolonien wurden zum Experimentierfeld ausgewanderter religiöser Minderheiten, bei denen sich demokratisches Ethos und christlicher Glaube miteinander verbanden. Eines der wichtigsten Motive war die Überzeugung, dass die Herrschaft Gottes alle menschliche Herrschaft relativiert. Das Misstrauen, das sich von den ersten Tagen der Reformation an gegen menschliche Machtausübung in der Kirche gerichtet hatte, richtete sich nun gegen jede Machtakkumulation aristokratischer, monarchischer oder demokratischer Art. Dieses Erbe zeigte sich ansatzweise noch in den von dem Amerikaner Alexander Hamilton (1757-1804) verfassten Teilen der „Federalist Papers“.

Die Demokratie ist sicher nicht einfach die politische Realisierung reformatorischer Anliegen. Denn zu groß ist die Distanz frühneuzeitlicher Argumentationsmuster zu den gegenwärtigen Bedingungen politischer Herrschaft. Und zu deutlich steht gerade in Deutschland die skeptische bis aggressiv ablehnende Haltung vor Augen, mit der protestantische Kirchenleute der Demokratie mindestens bis 1945 entgegentraten.

Ebenso wenig ist die Herrschaft des Volkes jedoch von heldenhaften - vermeintlich atheistischen - Aufklärern gegen eine finstere religiöse Orthodoxie erstritten worden. Die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Protestantismen und den politischen Arrangements ihrer Zeit waren vielmehr verschieden und häufig widersprüchlich. Das Christentum hat aus guten theologischen Gründen unter nahezu jedem politischen System existiert - der Protestantismus ist da keine Ausnahme.

Bei der Verschränkung theologischer und demokratischer Anliegen haben vor allem historische Schlüsselerlebnisse eine wichtige Rolle gespielt. Krisenerfahrungen aktivierten und transformierten bestimmte Elemente der Überlieferung. Dabei ist von besonderem Interesse, welche Überlieferungselemente hierbei wirksam wurden und welche nicht. Im demokratieaffinen Teil des westeuropäischen und nordamerikanischen Protestantismus war es gerade nicht die Gottebenbildlichkeitsvorstellung, die der Demokratie den Weg geebnet hat. Stattdessen waren zwei theologische Gedanken zentral, die höchst konservativ wirken, das machtkritische Potenzial der Vorstellung einer unmittelbaren Herrschaft Gottes und die egalisierende Interpretation der Erbsündenlehre. Das zeigt: Nicht immer entscheidet der vermeintlich angestaubte Gehalt theologischer Ideen über deren Relevanz im Leben, sondern deren Gebrauch und Anwendung. Die gedankliche Verbindung von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde sollte daher nicht als die alternativlose Form einer Koppelung von Protestantismus und Demokratie dargestellt werden. Gerade das nordamerikanische Beispiel zeigt: Der viel gescholtene anthropologische Pessimismus des Protestantismus kann zu einer Stärkung demokratischer Strukturen führen. Die vielfach unterstellte Logik war dort gerade nicht: „Menschen sind Sünder. Deshalb müssen Heilige sie regieren“, sondern: „Alle Menschen sind Sünder - auch und gerade die Heiligen, sobald sie in der Politik oder der organisierten Religion herrschen. Und das ist bei der Ausgestaltung institutioneller Systeme stets zu berücksichtigen.“

Selbstkritische Solidarität

Diese Logik hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Ein spezifischer Beitrag des Protestantismus zur demokratischen Selbstverständigung kann darin bestehen, die Universalität dessen neu zu artikulieren, was traditionell mit Sünde gemeint ist. Denn die Berufung auf die Menschenwürde verleitet zuweilen dazu, politisch Andersdenkenden die moralische Seriosität abzusprechen, indem ihnen unterstellt wird, den gemeinsamen Boden vermeintlich richtigen Denkens zu verlassen. Die Allgemeinheit der Sünde fordert dagegen eine selbstkritische Solidarität mit allen Menschen.

Ein Spezifikum des Protestantismus bestand darüber hinaus darin, die gegenwärtig erfahrbare Initiative und Souveränität Gottes in den Mittelpunkt religiöser Praxis zu rücken (H. Richard Niebuhr). Protestantisch war ja nicht, einfach einige Missstände der Kirche abzulehnen, sondern der Versuch, Gott radikal als die Wirklichkeit zu begreifen, die alles relativiert und die nicht erst durch Mittelinstanzen vermittelt wird. Aus heutiger Sicht ließe sich daraus die Aufgabe formulieren, nicht nur dem Partikularismus der Nation entgegenzutreten, sondern auch vermeintlich universale Ansprüche als tatsächlich partikulare zu durchschauen. Ausgehend von dem Gedanken, dass die Kirche zumindest ihrem Selbstverständnis nach allgemein, „katholisch“ (griechisch: katholikos) ist, wäre es wünschenswert, internationale Netzwerke christlicher Gemeinschaften aufzubauen und zu verfestigen, die sich gegen einen Partikularismus der Nation wenden und den nächstgrößeren Partikularismus Europas nicht für ein erlösendes oder dämonisches Unterfangen halten. Der Ursprung der Demokratie ist eng mit der Entstehung der frühneuzeitlichen Nationalstaaten verflochten. Und die Verbindung von Demokratie und Nationalstaat birgt die Gefahr der Universalisierung partikularer Ansprüche, die seit den Tagen der Französischen Revolution bekannt ist. Der Zusammenhang von Volk und Volksherrschaft kann dazu dienen, die vermeintlich universalen Wertvorstellungen nur auf die eigene Schicksalsgemeinschaft zu beziehen.

Angesichts der Skepsis gegenüber wirtschaftlicher, sozialer und politischer Internationalisierung fordern viele - nicht nur Rechtspopulisten - eine Rückbesinnung auf die Nation. Von hier aus stellt sich dem deutschen Protestantismus die Frage, ob er sich von seiner häufig anzutreffenden Verengung auf die deutschen Verhältnisse lösen und seine universalen Potenziale nutzen kann, die über die nationalen Gemeinschaften, auch über den demokratischen Souverän hinausreichen.

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Georg Kalinna

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