Näher beim Bürger

Direkte Demokratie ist eine sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie
2010 stimmte die Mehrheit der Stimmberechtigten in Bayern für ein Rauchverbot auch in Wirtshäusern. Foto: dpa/ Andreas Gebert
2010 stimmte die Mehrheit der Stimmberechtigten in Bayern für ein Rauchverbot auch in Wirtshäusern. Foto: dpa/ Andreas Gebert
Volksabstimmungen sind etwas anderes als Plebiszite, die - wie die Abstimmung über den Brexit - von oben angeordnet werden, betont Hermann K. Heußner, der an der Hochschule Osnabrück Öffentliches Recht lehrt. Er plädiert für die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene.

Nach 1945 führte die direkte Demokratie in Deutschland zunächst ein Schattendasein. Nur sechs Bundesländer, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, verankerten Volksbegehren und Volksentscheid in ihrer Verfassung. Und nur in Bayern hatte die direkte Demokratie Erfolg. So ermöglichte 1967 ein Volksbegehren, dass die staatliche Bekenntnisschule 1968 durch die Christliche Gemeinschaftsschule ersetzt wurde. Und 1972/73 erreichte ein Volksbegehren in Bayern die Sicherung des Rundfunks in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft. In Nordrhein-Westfalen verhinderte 1978 ein Volksbegehren die „Kooperative Schule“. Knapp 30 Prozent der Stimmberechtigten hatten sich in die Listen des Volksbegehrens eingetragen. Und der Landtag übernahm das Anliegen. Auf kommunaler Ebene führte allein Baden-Württemberg 1956 Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ein. Erst nach 1990 hat die direkte Demokratie auf Landes- und Kommunalebene einen Siegeslauf angetreten. Dazu trug die Wiedervereinigung bei und die Ereignisse („Wir sind das Volk“) die dazu geführt hatten, ebenso die Barschel-Krise 1987 in Schleswig-Holstein und 1995 in Bayern der Volksentscheid zur Einführung kommunaler Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Seitdem gibt es in allen Bundesländern auf staatlicher und kommunaler Ebene direkte Demokratie.

Alle Parteien außer der CDU

Und so hat die Nutzung direktdemokratischer Verfahren sprunghaft zugenommen. Aber aufgrund der zum Teil noch sehr restriktiven Ausgestaltung sind die Zahlen im Vergleich zur Schweiz und zu vielen US-Bundesstaaten immer noch niedrig. So ist es bisher infolge eines Volksbegehrens nur zu 23 Volksentscheiden gekommen. Auf kommunaler Ebene ist die Nutzung aber wesentlich intensiver. So kam es bis Ende 2015 zu insgesamt rund 5.800 Bürgerbegehren. Auch hier hängt viel an der Ausgestaltung. In Bayern ist sie sehr liberal. Allein dort kam es zu 2?260 Bürgerbegehren und 1.651 Bürgerentscheiden.

Direkte Demokratie ist in Deutschland populär. Rund 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung wollen sie auch auf Bundesebene haben, ebenfalls alle Parteien außer der CDU (im Unterschied zur Mehrheit der CDU-Wähler).

Der große Vorteil direkter Demokratie besteht darin, dass die Ergebnisse letztlich näher an den Präferenzen der Bürger liegen, als es im allein repräsentativ-demokratischen System der Fall ist. Direkte Demokratie verschafft den Bürgern politische Selbstwirksamkeit. Auf kommunaler Ebene setzen sich beim Bürgerentscheid knapp 50 Prozent der Bürgerbegehren durch. Und auf Landesebene sind es sogar über 60 Prozent. Dort geht es meist um Bildungsfragen, in den Gemeinden dagegen um Wirtschaftsprojekte, Sozial- und Bildungseinrichtungen und die Infrastruktur.

Das Spektrum der Initiatoren umfasst Aktionsbündnisse, Parteien, Verbände und einzelne Personen. Direkte Demokratie verschafft denjenigen einen Machtzuwachs, die Sachfragen anders beurteilen als die jeweilige Regierungsmehrheit. Ein Beispiel ist das Aktionsbündnis gegen die Studiengebühren in Bayern 2011 bis 2013. Hier führte bereits das erfolgreiche Volksbegehren, dem sich 14,4 Prozent der Stimmberechtigten angeschlossen hatten, dazu, dass die Landtagsmehrheit aus CSU und FDP die Studiengebühren wieder abschaffte. So konnte der Volksentscheid entfallen. Volksentscheide haben auch das Potenzial, scharfe politische Auseinandersetzungen zu befrieden. In Bayern gelang dies 2010 im Streit um das Rauchen im öffentlichen Raum. Das Volksbegehren für einen strengen Nichtraucherschutz setzte sich durch. Seitdem ist der Streit beigelegt. Ähnliches gilt für den Hamburger Schulstreit um die sechsjährige Primarschule. Der Erfolg des Volksbegehrens gegen ihre flächendeckende Einführung 2009/2010 brachte die Parteien dazu, sich auf einen zehnjährigen „Schulfrieden“ zu verständigen, währenddessen an den Schulstrukturen nicht gerüttelt wird.

Direkte Demokratie bedeutet auch keine Beschränkung auf ein einfaches Dafür oder Dagegen. Vielmehr ermöglicht die auf Landesebene übliche Volksinitiative, dass ihre Initiatoren und das Parlament in einen intensiven Diskussions- und Kompromissprozess eintreten können. Nur wenn dieser nicht zum Erfolg führt, kommt es zum Volksentscheid. Und auch hier kann das Parlament einen eigenen Konkurrenzentwurf mit zur Wahl stellen. Dies geschah 1991 in Bayern in der Frage der Müllentsorgung. Da stellte der Landtag einen eigenen Kompromissvorschlag zur Abstimmung - und das Volk stimmte dafür.

Eine Achillesferse der direkten Demokratie liegt - jedenfalls vordergründig - darin, dass sich Angehörige der Unterschicht an Volksentscheiden nur unterdurchschnittlich beteiligen. Zwar kann dies eine Ablehnung direkter Demokratie nicht begründen. Denn es ist unverhältnismäßig, einer Mehrheit demokratische Rechte und damit Freiheit vorzuenthalten, weil sich eine Minderheit nicht beteiligt. Deren Beteiligung lässt sich aber steigern, wenn Informationen und Werbung im Abstimmungskampf verständlicher gestaltet werden. Wenn Unterschichtsangehörigen klar ist, dass ihre Interessen betroffen sind und sie mit ihrer Stimmabgabe etwas erreichen können, beteiligen sie sich auch. Das zeigt der Bürgerentscheid über die Privatisierung städtischer Wohnungen in Freiburg im Breisgau vor zehn Jahren. Dort gingen in den betroffenen Stadtteilen überdurchschnittlich viele Bürger aus der Unterschicht zur Urne. Aber am besten verhindert werden könnte eine soziale Selektivität in Wahlen und Abstimmungen durch eine Wahl- und Abstimmungspflicht. Dies zeigen die Länder, in denen sie besteht.

Natürlich muss der demokratische Rechtsstaat Minderheiten schützen. Und das trifft auch direktdemokratische Verfahren. Deshalb ist die in Deutschland übliche präventive Normenkontrolle sehr gut. Sie stellt sicher, dass nur solche Bürger- und Volksbegehren überhaupt zur Abstimmung kommen, die nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen, gegen die Landesverfassungen und das Grundgesetz mit ihren Grundrechten und das gesamte EU-Recht. Und in Zweifelsfällen prüfen die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte die vorgeschlagenen Entwürfe. Das ist in der Schweiz und Bundesstaaten der USA dagegen kaum der Fall. Gerichte müssen aber eine besonders scharfe Rechtskontrolle über die Praxis direkter Demokratie ausüben, wenn durchsetzungsschwache Minderheiten wie Flüchtlinge betroffen sind. Gegen Abstimmungen, die von überbordenden Emotionen getrieben sind, schützt außerdem, dass direktdemokratische Verfahren zeitlich gestreckt sind. Vom Beginn des Sammelns von Unterschriften bis zur Abstimmung vergehen viele Monate, ja mitunter Jahre. Und das ist auch gut so.

Soweit ersichtlich, sind Bürgerbegehren gegen Flüchtlingsunterkünfte seit dem vergangenen Jahr zwar stark angestiegen, aber sie waren kaum erfolgreich. So ist in den 33 Verfahren, die zwischen 1996 und 2015 bundesweit gezählt wurden, kein einziger Bürgerentscheid zuungunsten der Flüchtlinge ausgegangen. Von den in den ersten zehn Monaten 2016 in Baden-Württemberg eingereichten 35 Bürgerbegehren richteten sich drei gegen Flüchtlingsunterkünfte: Eines war unzulässig, eines bestand beim Bürgerentscheid, und eines scheiterte.

Negativbeispiel Brexit

Volksbegehren sind immer wieder auch deswegen für unzulässig erklärt worden, weil in den meisten Bundesländern Vorlagen verboten sind, die wesentlichen Einfluss auf die Finanzen des Landes haben. Dieses Finanztabu beschränkt die direkte Demokratie aber über Gebühr. Denn im modernen Staat spielen Finanzfragen eine überragende Rolle. Deshalb sollte das Tabu fallen. Im Gegenzug müssten die Initiatoren aber verpflichtet werden, einen Kostendeckungsvorschlag mit zur Abstimmung zu stellen. Abstimmungskampagnen kosten Geld. Damit finanzkräftige Gruppen nicht im Vorteil sind, ist die direkte Demokratie auch finanziell zu regulieren: Spenden sind offenzulegen und gegebenfalls zu begrenzen. Und wie bei der Wahlkampfkostenerstattung für Parteien sind auch Abstimmungskampfkosten substanziell zu erstatten. Dies ist bisher nur teilweise der Fall.

Die jüngsten Volksabstimmungen in Europa haben die direkte Demokratie zum Teil in Verruf gebracht. So sehen sich ihre Gegner in Deutschland durch die Abstimmung über den EU-Austritt in Großbritannien, Flüchtlinge in Ungarn und die Verfassungänderung in Italien in ihrer Skepsis bestätigt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber: Diese Abstimmungen waren keine, die vom Volk begehrt worden waren, sondern Plebiszite oder Referenden, die Regierungen angesetzt hatten. Der britische Premierminister David Cameron und das von seiner Partei dominierte Parlament taten dies, um innerparteilichen Streit zu vermeiden und die Entscheidung über den Verbleib in der EU auf das Volk abzuschieben. Auch das ungarische Plebiszit wurde von Regierung und Parlament betrieben. Und im italienischen Parlament war die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustandegekommen. Außerdem machte Ministerpräsident Matteo Renzi das Plebiszit zu einem Vertrauensvotum für sich und seine Politik.

Völlig anders sieht es dort aus, wo direkte Demokratie von unten praktiziert wird, wie in Deutschland auf der Ebene der Gemeinden und Länder oder in der Schweiz und in US-Bundesstaaten. Dort finden Volksentscheide nur statt, wenn sie aus dem Volk heraus im Wege des Volksbegehrens initiiert werden. Und sie zielen nur auf die Beantwortung einer Sachfrage. Es geht also nicht um ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung. In diesen Gebieten ist es auch unüblich, dass Plebiszite von oben angesetzt werden und die Regierung zurücktritt, wenn das Volk etwas entschieden hat, das sie ablehnt. Es ist deshalb zu begrüßen, dass der Bayerische Verfassungsgerichtshof im vergangenen November den Versuch der CSU-Regierung unterbunden hat, in Bayern Plebiszite (von oben) einzuführen.

Wichtig ist außerdem, dass Volksbegehren und Volksentscheid keine seltenen Ereignisse sind wie in Großbritannien, sondern zur demokratischen Routine werden. Dann besteht auch keine Gefahr, dass die Bürger die Abstimmungen dazu missbrauchen, „denen da oben“ zwischen den Wahlen eins auszuwischen. Denn die Bürger haben das ja nicht mehr nötig, weil sie sich durch Volksbegehren jederzeit in die Politik entscheidend einmischen können.

Eine direkte Demokratie, die mit dem Parlament eng verzahnt und streng rechtstaatlich ausgestaltet ist, sollte auch auf Bundes- und Europaebene eingeführt werden. So reguliert, kann sie von Rechtspopulisten nicht gekapert werden.

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Hermann K. Heußner

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