Das Nordkorea Afrikas
Eritrea, der Staat am Horn von Afrika, erkämpfte sich in einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg seine Eigenständigkeit und ist seit 25 Jahren unabhängig von Äthiopien. Er hat heute den zweifelhaften Ruf, das „Nordkorea Afrikas“ zu sein. Seit 2009 unterliegt das Land, in dem fünf Millionen Einwohner leben, UN-Sanktionen, weil ihm die Unterstützung von Islamisten vorgeworfen wird. Eritrea ist international völlig isoliert und leidet noch immer unter den Folgen eines 30 Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieges mit Äthiopien, der 1991 endete.
Weil es so viele Eritreer unter den Flüchtlingen gibt, ist die deutsche Regierung wieder daran interessiert, offizielle Kontakte zu knüpfen, obwohl im Land Vieles im Argen liegt. Ein UN-Bericht hat jüngst wieder schwere Vorwürfe erhoben. Von willkürlichen Verhaftungen, systematischer Folter und Christenverfolgung ist die Rede. Grundlage des Berichts sind die Aussagen von Flüchtlingen. Eritrea ist das afrikanische Land, aus dem im vergangenen Jahr die meisten Flüchtlinge nach Europa kamen. Alle religiösen Institutionen in Eritrea werden vom autoritären Regime streng kontrolliert, das auch nicht vor direkten Eingriffen zurückschreckt. Wer einer charismatischen Gruppierung angehört und seinen Glauben praktiziert, muss mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Die Regierung will jegliche Art der Missionierung unterbinden.
Außerhalb des Landes hat sich eine eigenartige Frontstellung ergeben: Die einen verurteilen das Regime aufs Schärfste, die anderen verteidigen die Regierung. Sie meinen, es gebe gute Gründe, warum die früheren Rebellen das Land in einer Art Dauermobilmachung halten. Sie weisen auf Erfolge im Gesundheits- und Bildungswesen hin und machen geltend, dass Äthiopien bis heute keinem Friedensabkommen zugestimmt hat. Auch wenn sie Veränderungsbedarf nicht leugnen, sind sie der Überzeugung, dass das Land besser sei als sein Ruf im Ausland.
Einen Eindruck von der aktuellen Stimmung im Land gibt ein Besuch bei der lutherischen Kirche von Eritrea. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist auch für sie jeder Tag eine Herausforderung. So hat die Regierung im Zuge einer Währungsreform zwar den Schwarzmarkt ausgeschaltet, aber damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Alle dürfen nur noch einen begrenzten Betrag im Monat vom Konto abheben, und alle Transaktionen müssen über die Bank ausgeführt werden.
Nur haben die Verantwortlichen dabei nicht bedacht, dass in dem von kleinbäuerlicher Landwirtschaft geprägten Land auf dem Dorf kaum jemand ein Bankkonto besitzt. Jetzt sind die Menschen nicht einmal mehr in der Lage, ihre Toten angemessen zu Grabe zu tragen. Das erzeugt Wut. Die lutherische Kirche durfte nicht einmal einen höheren Betrag abheben, als sie ihre Synode veranstaltete.
All das sind Vorgaben, die das Leben in der Mangelwirtschaft noch beschwerlicher machen. Die Lutheraner wollen durch ihr soziales Engagement die größte Not bekämpfen. Sie haben zwar den Vorteil, dass ihre Kirche vom Staat anerkannt ist, aber die finanziellen Mittel sind äußerst begrenzt. Angesichts schwieriger Arbeitsbedingungen sind von kirchlicher Seite in Deutschland Entwicklungsprojekte auf Eis gelegt worden.
Nur vier Religionen zugelassen
Nur vier Religionsgemeinschaften sind in Eritrea offiziell zugelassen: Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner. Die lutherische Kirche bildet mit gut 20?000 Mitgliedern eine kleine Minderheit im Land, sie ist aber gerade auf dem Feld der Sozialarbeit eine prägende Kraft. Ein wichtiger Bereich ist die Kindergartenarbeit. Diese wurde in der Landeshauptstadt Asmara erst kürzlich erweitert. Die Kleinen sitzen im Kreis auf dem Boden und hören gespannt ihrer Lehrerin Almaz Tesfaldet zu, die biblische Geschichten für Kinder vorliest. Die 30 vier bis sechs Jahre alten Mädchen und Jungen gehören unterschiedlichen Glaubensrichtungen an. Die Mehrheit ist orthodox, der Rest kommt aus lutherischen, katholischen oder muslimischen Familien.
„Wir wollen, dass die Kinder etwas über Gott und die Liebe zu Kindern lernen“, erklärt der Generalsekretär der Evangelisch-Lutherischen Kirche Eritreas (ELKE), Temesghen Berhane Zecharias. Ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung Eritreas, also etwa 2,5 Millionen Menschen, gehören der orthodoxen Kirche an, 47 Prozent sind Muslime und die restlichen drei Prozent sind lutherisch oder katholisch. Die sieben jeweils von einer Erzieherin geleiteten Gruppen des lutherischen Kindergartens von Asmara werden von 300 bis 400 Kindern besucht. Es gibt drei weitere Kindergärten der lutherischen Kirche in abgelegenen Orten im Norden, Süden und Westen des Landes.
„Mir macht es Spaß, mich um Kinder zu kümmern“, betont die 35-jährige Almaz Tesfaldet. Auch ihre eigene Tochter Luz (5) gehört zu ihrer Gruppe. Der Lutherische Weltbund (LWB) unterstützt die Kindergartenarbeit der ELKE seit 2011. In der dreijährigen Projektphase von 2016 bis 2018 werden insgesamt 30?000 Euro bereitgestellt. Zuvor hatte der LWB bereits die Renovierung der beiden Kindergartengebäude in der kleineren Edaga Hamuse-Gemeinde ermöglicht, die in der Nähe der lutherischen Hauptkirche im Zentrum von Asmara liegt. Diese Unterstützung der lutherischen Kirchengemeinschaft für die Lutheraner in Eritrea ist bitter nötig und sehr wichtig. „So fühlen wir uns nicht ganz vergessen“, sagt Temesghen Berhane Zecharias. Das Ziel der Kirche ist es, Eltern zu entlasten, die sich keine hohen Gebühren für private Kindergärten leisten können. In den lutherischen Kindergärten liegen die Kosten bei lediglich 7,20 Euro pro Kind im Halbjahr, in den Dörfern sind es 2,20 Euro. Insgesamt besuchen rund 600 Mädchen und Jungen die Kindergärten der ELKE.
Eritrea leidet noch immer unter den Folgen eines dreißig Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieges mit Äthiopien, der 1991 endete. Zusätzlich verschlimmern die von den Vereinten Nationen 2009 verhängten Sanktionen die Lage für die Menschen. Die Wirtschaft liegt am Boden. In dem ostafrikanischen Land lebt die Bevölkerungsmehrheit von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in einfachen Verhältnissen auf dem Land.
Die Kindergärten zu betreiben sei keine einfache Aufgabe, sagt Temesghen Berhane Zecharias. Im Zuge der Renovierung der Toiletten wurde eine Abwasserleitung rund um das Grundstück verlegt. „Das ist ein großer Schritt vorwärts“, betont er. Aber es bleibt noch viel zu tun. So gibt es kein fließendes Wasser in den Toiletten. „Wir wollen Plastiktanks installieren, um für die Toiletten Wasser bereitzustellen“, so Zecharias. Ernüchterung bringt ein Blick in die benachbarte Musikschule der Kirche: Die Posaunenchöre können nur proben, weil das Evangelische Jugendwerk Württemberg die Instrumente gespendet hat. Aber die Saiten der Gitarren sind gerissen und die Klaviere verstimmt. Es gibt in ganz Asmara keine erschwinglichen Gitarrensaiten, und Menschen, die ein Klavier stimmen können, sind längst nicht mehr da. Sie sind alle geflohen.
In der kleinen Stadt Mendefera, etwa 50 Kilometer südlich von Asmara, ist die Sonntagsschule der lutherischen Kirche bei der Bevölkerung sehr beliebt. Bis zu 180 Kinder aller Glaubensrichtungen besuchen die Schule jeden Sonntagmorgen. „Wir sind stolz, dass so viele Kinder kommen. Aber das zeigt auch, dass in der Stadt und den umliegenden Dörfern großer Bedarf an einem Kindergarten besteht“, erklärt Pastor Zienawi Medhanie, der die lutherische Gemeinde in Mendefera leitet. Die Kirche könnte die Klassenzimmer der früheren lutherischen Schule benutzen. Aber zur Eröffnung eines Kindergartens braucht es zusätzliche Mittel. Doch es gibt nicht einmal genügend Mittel, für ein HIV/Aids-Projekt, in dem Frauen an Webstühlen ausgebildet werden.
Wie stark die Menschen von Unterstützung abhängen, zeigt der Fall der Erzieherin Almaz: Da sie nicht genug verdient, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können, wohnt sie mit ihren beiden kleinen Kindern bei ihrer Mutter. Diese hat gerade mal ein Zimmer, das ihr von der lutherischen Kirche in Asmara im Rahmen eines Projekts für alleinstehende und mittellose Frauen zur Verfügung gestellt wird. Da es vom Staat keine Unterstützung gibt, sammeln die Kirchengemeinde in Markgröningen und die Paulusgemeinde in Stuttgart Geld, damit die Kirche den Frauen eine kleine Rente ausbezahlen kann. Rund 3?000 Euro kommen so im Jahr zusammen. Durch solche Unterstützung ist es der Kirche möglich, sich im Gesundheits- und Bildungswesen zu engagieren. Sie hat auch Dämme für Bewässerung und Wasservorräte gebaut sowie Schulen und Kliniken eröffnet. Die lutherische Kirche betreibt auch die einzigen beiden Gehörlosenschulen des Landes.
Ohne kirchliche Hilfe hätten Almaz und ihre Mutter kein Dach über dem Kopf. Denn der Vater der Kinder leistet seit zehn Jahren im Rahmen des National Service seinen Militärdienst. Nur alle paar Monate kann er für kurze Zeit nach Hause. Als Sold bekommt er gerade mal ein Taschengeld, er kann seine Familie nicht unterstützen. Es stimmt also, was die Flüchtlinge erzählen, nämlich von jahre- und jahrzehntelangem Militärdienst ohne Sold und ohne Aussicht auf ein Ende. Dieser National Service betrifft die unterschiedlichsten Berufe. Er wurde bislang nicht bezahlt. Da dies von Flüchtlingen neben Perspektivlosigkeit und Repression als einer der Hauptgründe für die Flucht genannt wird, hat offenbar beim Regime in Eritrea ein Umdenken begonnen. Wer Dienste im National Service ableistet, wird jetzt entlohnt, allerdings bisher noch nicht im reinen Militärdienst. Verrückt.
Sorgen machen sich die Lutheraner um den Nachwuchs, denn es gibt nur einen einzigen Dozenten für lutherische Theologie in Eritrea. Dieser Mangel sei ein großes Problem, sagt Generalsekretär Temesghen Berhane Zecharias. Es sei dringend erforderlich, die Kapazität für theologische Schulungen zu erhöhen, denn die lutherische Kirche wächst und ihre Angebote werden gut angenommen. Eine große Zahl von Besuchern muss den Jugend-Gottesdienst in der ehemaligen anglikanischen Kirche in Asmara von draußen mitverfolgen - so viele sind gekommen. Aber es ist ein Hoffnungszeichen in einem Land, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Das freut Besucher, die die alten Kolonialbauten bewundern, aber weniger die, die darin leben müssen.
Rainer Lang (Text und Fotos)