Dieses handliche, gut lesbare Buch zeigt auf dem Cover „Gelmeroda IX“ von Lyonel Feininger, eines seiner typischen Gemälde von Thüringer Dorfkirchen. Die Wahl dieses Bildes passt gut zu den inhaltlichen Akzenten, die diesen Band aus der Fülle von Sach- und Meinungsbüchern über die Kirche herausheben.
Auf Feiningers Bild lösen sich die Konturen des Gebäudes in zahlreiche Farbflächen und Schattenrisse auf - und zugleich bleibt deutlich, dass hier eine Kirche zu sehen ist. Nur durch die Kombination vielfältiger Perspektiven lässt sich sagen, was die Kirche heute ist - das ist auch das durchlaufende Motiv des Buches. So werden im dritten Kapitel drei „kontrastreiche Kirchenideale“, drei „Gestaltungslogiken“ nebeneinander gestellt: Die Kirche kann als ein Zusammenspiel von engagierten Gruppen erscheinen, oder als eine soziale Institution, die religiöse Angebote für die ganze Gesellschaft bereit hält, oder als zielorientierte Organisation, die für ihre Anliegen um Mitglieder, Mitarbeitende und Finanzen werben muss. Typisch für Uta Pohl-Patalongs und Eberhard Hauschildts Vorgehen ist nun, dass sie nicht eines dieser Modelle präferieren, sondern für ein Verständnis von Kirche als Hybrid werben: Ähnlich wie bei einem Hybridmotor sollte - je nach Kontext - die eine oder andere Gestaltungslogik in den Vordergrund treten, ohne die anderen abzuwerten.
Ein dezidiert plurales, gleichsam vielfarbiges Verständnis zeigt auch das vierte Kapitel über die Strukturen der Kirche. Zunächst wird hier ein konfessionskundliches Panorama skizziert: Gegenüber den orthodoxen Kirchen, der römisch-katholischen Kirche und den rasch wachsenden evangelikalen oder Heiligkeitskirchen stellt der (liberale) Protestantismus, zu dem die evangelischen Großkirchen hierzulande zählen, im globalen Maßstab nur eine kleine Kirchenfamilie dar. Sie sollte von den Anderen lernen und zugleich ihre eigenen Stärken - eine gegenwartsoffene Theologie und eben ihre Pluralitätsfähigkeit - ernstnehmen. Auch der organisatorische Aufbau der deutschen Kirchen ist von jener Vielfalt geprägt, ebenso das Nebeneinander unterschiedlicher Gemeindeformen: Ohne die Stärken der traditionellen Ortsgemeinde zu negieren, plädiert das Buch für ein „Netz von Gemeinden“, die ganz verschieden ausgerichtet und organisiert werden können; und es skizziert recht handliche Kriterien dafür, wann eine bestimmte Form religiösen Handelns „Gemeinde“ genannt werden sollte.
In einem weiteren Kapitel werden - in engem Anschluss an die EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen - die vielen „Weisen, zur Kirche zu gehören“, vor Augen geführt: Kirchentreue, -fremde und Mitglieder in „Halbdistanz“; oder hochkulturelle, bodenständige oder mobile Milieus. Im sechsten Kapitel wird die Vielfalt der kirchlichen Akteurinnen und Akteure diskutiert, von den Ehrenamtlichen über verschiedene Berufe in der Kirche bis zu den Pfarrerinnen und Pfarrern - diese bekommen allerdings auch hier besonders viel Aufmerksamkeit, denn ihr Beruf zeichnet sich besonders durch theologische Tiefe, durch ökumenische Weite und durch „Repräsentations- und Leitungskompetenz“ aus. Und im letzten Kapitel werden sechs Aufgaben der Kirche entfaltet, die ihren Grundauftrag, die Kommunikation des Evangeliums, in unterschiedlichen Handlungsfeldern konkretisieren.
Die Grundeinsicht, dass die gegenwärtige Kirche nur in einer mehrschichtigen, vielfältigen Herangehensweise zu erfassen ist, markiert den Mainstream der universitären Kirchentheorie. Zu dieser Theorie haben die beiden Autoren - sie lehren Praktische Theologie in Kiel und Bonn - durch ihr Lehrbuch Kirche aus dem Jahr 2013 selbst einen umfänglichen Beitrag geleistet, der hier - mit einer fast identischen Gliederung - für die Gestaltungsaufgaben vor allem von Kirchenvorständen und kirchlich Engagierten zugespitzt wird. Die Elementarisierung gelingt hier ganz ohne inhaltliche Trivialisierung, und lässt einige Thesen des Lehrbuchs pointierter hervortreten.
Zu diesen Pointen gehört nicht zuletzt der starke Gegenwartsbezug dieser Kirchentheorie - auch dies passt zu Feiningers Bild auf dem Cover, das eine alte Kirche aus dezidiert moderner Perspektive zeigt. Das Buch verzichtet auf historische Rekurse; auch biblische Belege sind selten und eher zufällig; das wird nicht allen gefallen. Stattdessen werden hier, im ersten Hauptkapitel, recht ausführlich die gegenwärtige „spätmoderne“ Gesellschaft sowie die religiösen Verhältnisse bedacht, die unter anderem durch individuelle Selbstbestimmung und das Suchen nach spirituellen Erlebnissen gekennzeichnet sind. Eine solche (religions-) soziologische Reflexion ist zwar in der Praktischen Theologie gängig, in der binnenkirchlichen Debatte aber leider kaum üblich - und darum höchst verdienstvoll.
Dem Buch ist sehr zu wünschen, dass es sein Ziel erreicht: Die ehren- und hauptamtlich Leitenden „mit Informationen und Deutungen auf(zu)klären über die Vielfalt der Muster, die sich in der Kirche finden“.
Jan Hermelink
Jan Hermelink
Dr. Jan Hermelink ist Professor für Praktische Theologie und Pastoraltheologie an der Universität Göttingen.