Links und Rechts

Punktum

Nein, hier kommen nicht schon wieder oder immer noch die letzten Wahlkampfwehen. Dieser Platz soll ein Freiraum bleiben, ohne rechte oder linke Parolen, ohne lautes Links und Rechts am Rand. Nur ist das leichter gesagt, als geschrieben. Haben es doch beide Seiten geschafft, das zentrale Nervensystem der Menschheit zu treffen. Weil es irgendwann nervt, wenn aus jeder rüden Bemerkung vom Rand eine fette Schlagzeile wird. Medienkritische Gedanken am dunklen Feierabend auf dem Weg nach Hause. Sie finden ihr jähes Ende auf dem Bürgersteig. Hierher hat mich der automobile Innenstadtverkehr mit meinem Fahrrad verdrängt.

Einspurig und schulterbreit versuche ich meine gleichberechtigte Rolle im Personennahverkehr zu wahren. So trete ich mich im Schritttempo vorsichtig heran an eine Touristengruppe, die vor mir auf dem Steig raumgreifend von links nach rechts die bürgerliche Mitte bildet. Sie ist in der Betrachtung des historischen Gebäudes vertieft, das rechts vor mir liegt. Seine Kubatur ergibt wiederum einen rechten Winkel mit einer uneinsehbaren Grauzone, der wir uns nun unaufhaltsam nähern. Ich halte mich auf der in Deutschland vorgeschriebenen Spur, kann aber die Situation von der rechten Ecke nicht überschauen. Bin orientierungslos, angespannt, friedvoll gerüstet nur mit einer Fahrradklingel, die „Bing“ macht.

Droht aus dem toten Winkel Gefahr? Vielleicht durch einen Sportler der Sorte schmale Reifen, schnittiger Helm, Verzicht auf Licht? Fährt er auch rechts, dann weichen die Touris nach links aus, mir direkt vor die Räder. Schneidet er aber die Ecke links in Schräglage, gibt es mit mir den frontalen Konflikt! Noch zwei Meter bis zum Showdown.

Doch wie so oft kommt es anders, als gedacht. Wie durch Zauberhand teilt sich die Menge mittig und bildet respektvoll eine Gasse. Denn vor uns naht Deutschlands zukünftige Mehrheit - in Person eines Rollatorfahrers. Die Frage nach links oder rechts nach bürgerlichem Entscheid stellt sich damit nicht mehr auf dem Bürgersteig, das Altern bekommt Vorfahrt.

Aus meiner Bredouille hilft mir diese Einsicht wenig. Wie wird sich der seniore Fahrer des Rollis verhalten? Erkennt er mich rechtzeitig? Wird er vor mir erschrecken und ausbrechen? In Sekundenbruchteilen entscheide ich mich für ein Handzeichen, will rechts am Senioren vorbei. Kurz vor dem Zusammenprall erkenne ich im letzten Augenblick, dass statt der rechten die linke Hand ausgestreckt ist. Im letzten Moment rettet mich die Vollbremsung, allgemeines Kopfschütteln.

Mit gut 30 Prozent der Menschheit teile ich diese Rechts-Links-Schwäche. Kurz: Die Sinne bekommen in vulgo die egozentrische versus der allozentrischen Sichtweise nicht geregelt. An Bonobos und Schimpansen wird bereits trainiert, wie meiner Orientierung beizukommen ist. Für die richtige Richtung gibt es ein Stück Banane.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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