Herausforderungen für den Gottesdienst gibt es viele. Der emeritierte Praktische Theologe Peter Cornehl, der an der Universität Hamburg lehrte, benennt in seinem kürzlich erschienenen Buch vor allem die Herausforderung, Gottesdienst „nach der Aufklärung“ zu feiern. Damit ist eine spannungsvolle hermeneutische Situation beschrieben, die nach Cornehl von Traditionsabbrüchen und Kritik am Christentum, von politischen Konflikten und globalen Katastrophen bestimmt ist, zugleich aber auch durch Hoffnung, Freiheit und neue Lebenschancen charakterisiert wird. In dieser Spannung kommt dem Gottesdienst wesentlich die Aufgabe zu, die Hoffnung zu stärken, den Glauben zu wecken und zur Umkehr zu rufen. „Der Gottesdienst ist herausgefordert - und er ist selbst eine Herausforderung.“
Vision und Gedächtnis nimmt den Titel eines 1994 erschienenen Predigtbandes Cornehls auf, der Predigten aus dem Hamburger Universitätsgottesdienst versammelte. Tatsächlich ist das Hamburger Kolorit auch in diesem Band erkennbar, insbesondere in dem Text, der ausführlich der (poetischen) Sprache und der Theologie Dorothee Sölles (1929-2003) gewidmet ist.
Über weite Teile sind die Texte sehr stark an Mündlichkeit orientiert. Ihr ursprünglicher Charakter als anlassbezogene Vorträge bleibt bei der Lektüre somit ständig präsent. Zugleich nehmen die Texte aber auch den Duktus des Gesprächs an. Das Dialogische, so Cornehl im Vorwort, ist ein wesentliches Prinzip des Nachdenkens über den Gottesdienst. In 19 Studien zu Predigt und Liturgie, auf sieben Kapitel verteilt, verfolgt Peter Cornehl das titelgebende Programm von Vision und Gedächtnis. Visionär, so legt die Lektüre des Buches nahe, ist vor allem die an der Unheilsprophetie geschulte kritische Situationsanalyse zu nennen, die der Wirklichkeitskritik mit wesentlich politischen Implikationen gewidmet ist.
Der zweite Leitbegriff, das Gedächtnis, spielt neben der biblischen Tradition und den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls insbesondere auf solche historischen Konstellationen an, in denen Gottesdienste modellhaft die Herausforderung wahrgenommen haben, zur Umkehr zu rufen und Hoffnung zu wecken: beispielsweise die biblische Predigt im Kirchenkampf oder das Jahr der Taufe nach Fukushima. Die homiletischen und liturgischen Studien Cornehls sind auf Umbrüche zugespitzt, und zwar sowohl auf die von Selbstkritik bestimmten notwendigen Abbrüche als auch auf die Chancen neuer Aufbrüche. Cornehl spielt auf eine solche Dialektik der Aufklärung ausdrücklich an.
Mit seiner doppelten Programmatik, der Vision und dem Gedächtnis, erschließt sich die Kohärenz des Buches, das anlassbezogene Vorträge aus einem weitgespannten Zeitraum versammelt. Das Buch liest sich daher auch als ein Stück Liturgiegeschichte der vergangenen Jahrzehnte. Das politische Nachtgebet, das Feierabendmahl, die Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuches - Phänomene und Debatten, die es wert sind, dass man sich ihrer erinnert. Nachdrücklich, beinahe eindringlich weist Cornehl immer wieder auf Forschungslücken hin, die es wert wären, geschlossen zu werden; weniger aus enzyklopädischen Gründen, sondern vielmehr um der Herausforderung Gottesdienst willen. Bei der Lektüre der Beiträge, so vielfältig die Themen auch aufgefächert sind, kristallisiert sich immer wieder ein Anliegen heraus, das der Autor auch mehrfach ausdrücklich formuliert: Auch eher sperrige theologische Konzepte sollen im Gottesdienst präsent bleiben. „Indem wir ihre Fremdheit und Größe respektieren, wahren wir ihren Mehrwert.“ Das ist die Herausforderung, die das Buch einschärft.
Birgit Weyel
Birgit Weyel
Birgit Weyel ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Tübingen.