Meeresrauschen auf Knopfdruck
zeitzeichen: Frau Professorin Schulte-Fortkamp, viele Menschen sagen, unsere Städte sind zu laut. Haben sie recht?
Schulte-Fortkamp: Ja, wenn sie es so empfinden. Denn was wir als Lärm wahrnehmen, ist ja sehr subjektiv. Der eine empfindet die Geräusche der Großstadt als belastend, der andere nimmt sie als Teil des Stadtlebens hin und fühlt sich manchmal sogar unwohl, wenn plötzlich Stille herrscht.
Das heißt, Lärm ist nicht nur eine Frage von Dezibel.
Schulte-Fortkamp: Richtig, Lärm ist eine psychologische oder sozialpsychologische Bewertung von Umgebungen. Technisch gemessen werden kann nur der Schalldruck. Und wenn dieser besonders hoch ist, wird sehr häufig oder in der Regel von Lärm gesprochen. Der Grenzwert für normale Lebenssituationen in der Stadt liegt bei 65 dBA. Ein Geräusch, das laut ist, empfinden wir oft als Lärm. Aber es gibt auch Geräusche, die eigentlich leiser sind und trotzdem zum Lärm werden können, weil sie stören. Das ist ein hochkomplizierter kognitiver Prozess, der entscheidet, ob wir ein Geräusch als Lärm wahrnehmen. Aufkommende Geräusche etwa haben ein sehr hohes Störpotenzial.
Was sind aufkommende Geräusche?
Schulte-Fortkamp: Zum Beispiel das eines anfahrenden Fahrzeugs. Wir kennen dieses Geräuschmuster und bilden beim Hören schon Erwartungshaltungen heraus, etwa dass dieses Fahrzeug gleich lauter und schneller an uns vorbeifährt. Wir rechnen also damit, dass uns das Geräusch, das jetzt noch nicht laut ist, gleich nerven wird - und das tut es dann meistens auch.
Welche Geräuschquellen stören die Menschen in der Stadt am meisten?
Schulte-Fortkamp: Die, mit denen man unterschwellig Gefahr verbindet. Ein lautes Auto oder ein Motorrad kann gefährlich werden, das lernt man schon im Kindesalter. Straßenverkehrsgeräusche sind immer mit einer notwendigen Habacht-Funktion verbunden. Das Störpotenzial liegt nicht nur im Geräusch an sich, sondern auch in der Information, die es in sich trägt. Das funktioniert auch dann, wenn uns gar keine unmittelbare Gefahr droht. Mütter von Kleinkindern reagieren zum Beispiel auf Straßenverkehrsgeräusche auch dann sehr sensibel, wenn die Verursacher noch relativ weit weg sind.
Das bedeutet, dass die Menschen früher zum Beispiel das Geräusch von fahrenden Pferdekutschen, das wir heute eher nostalgisch und gemütlich finden, als Lärm wahrgenommen haben?
Schulte-Fortkamp: Das ist schwer zu sagen, dazu kenne ich keine Analysen. Es gibt natürlich Texte von Thomas Mann, Gotthold Ephraim Lessing oder Franz Kafka zum Lärm in der Stadt, aber für uns ist das Klangbild einer Stadt vor Beginn der Tonaufzeichnungen kaum zu rekonstruieren. Sicher ist, dass die akustische Abbildung einer Innenstadt sich ständig verändert. Es kommen stets neue Geräusche hinzu, die man zunächst nicht einordnen kann. Handyklingeln war vor zwanzig Jahren noch nicht Teil dieser akustischen Landschaft, Musik aus Kopfhörern zumindest nicht in dem heutigen Maße. Es gab weniger Autos, aber die waren dafür lauter.
Reagieren wir deshalb heute empfindlicher auf Lärm? Weil die Klänge komplexer geworden sind?
Schulte-Fortkamp: Vielleicht ist das eine Ursache. Hinzu kommt aber sicher, dass wir mehr über das Thema Lärm und Geräusche reden. Medien, Politik und Wissenschaft sind stärker sensibilisiert für das Thema Lärm und auch für dessen Folgen, also Krankheiten, die durch Lärm entstehen können.
Uns fällt der Lärm also mehr auf als früher?
Schulte-Fortkamp: Ja, diese Aussage würde ich unterschreiben. Wir leben in einer Gesellschaft, die im Grunde stark durch Komfort geprägt ist. Wenig Lärm ist auch ein Zeichen für hohen Komfort, und somit ist Lärmschutz auch aus diesem Grund ein erstrebenswertes Ziel, weil es etwas über den Entwicklungsstand aussagt.
Lärm ist also ein Luxusproblem?
Schulte-Fortkamp: Kein Luxusproblem. Aber wer sich so intensiv damit beschäftigt, wie wir in Deutschland es tun, hat einen gewissen gesellschaftlichen Standard erreicht, der dann wiederum vom Lärm nicht positiv geprägt wird.
Zu Beginn der industriellen Gesellschaft war der Lärm kein Thema, weil man wusste, dass die Fabrik mit ihren lauten Maschinen ein Weg aus der Armut bedeuten konnte.
Schulte-Fortkamp: Da war Lärm in der Tat kein Thema, vielmehr ging es vor allem um Lohn und Brot. Und man hatte einen Bezug zu dem Klang der Maschinen, empfand ihn nicht unbedingt als Lärm. Das ist uns übrigens noch in den Achtziger- und Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder begegnet. Damals hat die Diskussion um Gehörschutz am Arbeitsplatz viele Arbeiter irritiert. Sie mussten ja hören, ob die Maschine richtig läuft oder irgendetwas nicht in Ordnung ist. Da stört ein Hörschutz natürlich. Heute ist das anders, heute gibt es andere technische, oft computergestützte Kontrollmöglichkeiten. Da ist der Hörschutz kein großes Reizthema mehr.
In den Kommunen ist Lärm ein großes Thema geworden, seitdem die EU 2002 eine Lärmschutzrichtlinie verabschiedet hat. Jetzt haben wir Lärmkarten für jeden Ort in der Stadt, Lärmschutzkonzepte sind zur Pflicht geworden. War dieser Ansatz erfolgreich?
Schulte-Fortkamp: Die EU-Direktive ist wirklich gelungen. Natürlich ist der Ansatz zunächst ein sehr technischer, man misst und berechnet den Schalldruckpegel, der, wie schon erwähnt, nur bedingt aussagekräftig ist. Aber im weiteren Verlauf werden die Betroffenen in bestimmten Planungssituationen stärker miteinbezogen, der technische Ansatz also erweitert. Es wurden große Schritte unternommen, auch wenn alles viel länger brauchte, als es sollte. Aber dennoch, etwa mit Blick auf Berlin, kann ich sagen, es ist einiges geschehen. An vielen Hauptverkehrsstraßen wurde Tempo 30 in der Nacht eingeführt. Das hat enorme Auswirkungen auf die Beruhigung der Straßen, viele Leute können jetzt besser schlafen. Oder nehmen Sie die Aktion „Leises Berlin“. In einer Spanne von drei Monaten konnten die Bürger und Bürgerinnen angeben, was sie als störend empfinden, welche Straßen besonders laut sind. An diesem Punkt wurde über das Internet tatsächlich einmal die E-Partizipation umgesetzt, um möglichst viele Betroffene in die Diskussion einzuschalten.
Wir wohnen seit fast zwanzig Jahren in Berlin und können uns nicht entsinnen, jemals gefragt worden zu sein, ob die Umgebung der Wohnung zu laut ist oder nicht.
Schulte-Fortkamp: Schade, dass Sie das nicht wahrgenommen haben. Die EU-Direktive sieht eine Bürgerbeteiligung vor. Allerdings gibt es keine Vorgaben, auf welche Weise das geschehen soll. In Berlin trafen sich zunächst ausgewählte Runden im Roten Rathaus, zum Beispiel Vertreter des ADAC, Umweltschützer vom BUND, Radfahrer des ADFC und andere Gruppen. Das war ein erster großer Schritt. In der zweiten Phase wurden die Bürger im Schöneberger Rathaus befragt, man musste allerdings die Termine kennen. Dann gab es die Aktion „Leises Berlin“. Darauf wurde auf jedem großen elektronischen Schild hingewiesen. Ich weiß nicht, ob man das als Fußgänger unbedingt sieht, aber als Autofahrer hat man immer wieder auf den elektronischen Tafeln zur Information über den Straßenverkehr den Hinweis darauf bekommen, dass es eine Möglichkeit gibt, sich über E-Partizipation einzuschalten. Bürgerbeteiligung ist ein zentrales Instrument, das es auszubauen gilt. 3?000 Berlinerinnen und Berliner haben bei „Leises Berlin“ mitgemacht. Bei drei Millionen Einwohnern ist das nicht gerade ein Renner, aber immerhin deutlich mehr als bei den Runden im Rathaus, wo es zunächst 400 Menschen, in der zweiten Phase 800 waren.
Was hat Berlin noch gemacht, außer mehr Tempo-30-Zonen einzurichten?
Schulte-Fortkamp: In ausgewählten Zonen wurden die Straßen zurückgebaut, von vier auf zwei Fahrbahnen. Der neu entstandene Raum wurde für Radwege genutzt. Das ist ein wirksames Konzept, was von der jetzigen Regierung ja auch wieder angegangen wird. Die Folgen sind natürlich mehr Baustellen in der Stadt. Und manchmal wird eine Ruhezone wieder zur Umleitung mit entsprechend mehr Verkehr, weil woanders eine neue Baustelle entsteht. Das läuft dann der Erwartungshaltung der Anwohner zuwider, die sich mehr Ruhe gewünscht haben. Aber das ist wohl für jede Metropole ein Problem, da sie kontinuierlich renoviert werden müssen.
In Ihren Arbeiten taucht immer wieder der Begriff Soundscape auf. Das ist etwas anderes als Lärmschutz. Was steht hinter dem Konzept?
Schulte-Fortkamp: Es geht um die Frage, wie man eine Umgebung mit Blick auf ihre Akustik wahrnimmt, also nicht darum, Pegel zu messen. Im Vordergrund stehen erarbeitete Konzepte, die in die Umgebung passen und mit den dort wohnenden Menschen abgestimmt sind. Wir haben das beim Nauener Platz im Berliner Wedding von A bis Z umgesetzt. Der Verkehrslärm an diesem sozialen Brennpunkt war nur ein Teil des Problems, der Platz selber war unter anderem Treffpunkt für Drogendealer. Gleichzeitig lebten in der Umgebung viele Familien mit Kindern und auch Senioren. Wir wollten diesen Platz für die Familien und die Senioren wieder nutzbar machen.
Und wie hat Ihnen dabei die Idee der Soundscapes geholfen?
Schulte-Fortkamp: Am Anfang stand erst einmal die Bewertung der Umgebung. Mit kleinen Gruppen von Anwohnern haben wir uns auf so genannte Soundwalks begeben, so dass die Leute uns mitteilen konnten, wo es ihnen gefällt und wo nicht. Wo sie lautes akustisches Aufkommen ertragen können und wo auf gar keinen Fall. So bekamen wir Hinweise für die Umgestaltung des Platzes...
...etwa mit Bänken, auf denen man per Knopfdruck Naturgeräusche wie Wasserfälle oder Vogelzwitschern hören konnte.
Schulte-Fortkamp: Ja, wobei die Lautsprecher nur ein Element der Audio-Islands waren. Die Bänke haben hohe Rückenlehnen, die den Schall mindern, und sie sind seitlich begrenzt, ähnlich wie bei Ohrensesseln. Und in diese seitlichen Begrenzungen sind die Lautsprecher eingelassen. Dort kann man auf Knopfdruck das Meer rauschen oder einen Bach plätschern hören.
Also den Lärm der Stadt ein bisschen übertünchen mit angenehmeren Geräuschen?
Schulte-Fortkamp: Nicht übertünchen, das funktioniert nicht. Es geht darum, anders hinzuhören und wahrzunehmen. Eigentlich sorgen die Bänke für eine mentale Abschirmung oder auch Maskierung. Die Geräuschkonstellationen haben wir im Übrigen nicht einfach festgelegt, sondern gemeinsam mit den Bewohnern ausgewählt: Waldvögel und Stadtvögel und Wassergeräusche und zwar im Rahmen einer Masterarbeit. Insgesamt waren 82 Anwohnerinnen und Anwohner daran beteiligt, in strukturierten Beurteilungsverfahren aus 64 Geräuschen die Geräusche auszuwählen, die nach ihrer Meinung den Platz akustisch gestalten sollten. Trotz des multikulturellen Hintergrundes der Anwohnerinnen und Anwohner in der Umgebung des Platzes haben sich alle in den Naturgeräuschen wiedergefunden. Es hat mich begeistert, dass die Betroffenen so aktiv mitgearbeitet haben - und das über einen Zeitraum von drei Jahren.
Der Platz wurde 2009 umgestaltet. Wer jetzt dorthin geht, sieht leider recht verwahrloste Bänke. Aus den meisten Lautsprechern kommen keine Töne mehr. Ist Soundscape den Leuten also doch nicht so wichtig?
Schulte-Fortkamp: Wer sind die Leute? So ein Platz muss gepflegt werden, und dafür ist der Bezirk verantwortlich. Die dort wohnenden Menschen können das nicht. Sie sind vor allem damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und zu sichern. Diejenigen, die mitgemacht haben, leben unter Umständen auch nicht mehr am Nauener Platz. Und auch der Radiosender, der die Lautsprecher bespielt hat, ist aus dem benachbarten Gebäude weggezogen. Was macht man nun? Im Bezirk gab es zunächst sehr viel Engagement, noch einmal Geld für den Platz einzuwerben. Aber das lief ins Leere. Trotzdem konnten wir zeigen, dass über das Thema Lärm und Klang viele Anwohner zur Mitgestaltung ihrer Umwelt gewonnen werden konnten. Nachhaltigkeitskonzepte für solche Projekte sind eine andere große Herausforderung.
Wird das Soundscape-Konzept auch in der Ausbildung von Stadtplanern berücksichtigt?
Schulte-Fortkamp: In der Technischen Universität Berlin ist die Thematik zur Zeit in der Psychoakustik angesiedelt. Soundscape und Community-Noise sind jeweils im Sommersemester Bestandteil der Ausbildung. Die Seminare und Vorlesungen werden interessanterweise von Studierenden unterschiedlicher Studiengänge besucht. Viele Studierende haben im Kontext dieser Thematik ihre Abschlussarbeit geschrieben, oft diejenigen, die dann in die Stadtplanung gehen. Einige meiner Absolventen arbeiten bereits als Stadtplaner in städtischen Verwaltungen und bringen dort ihre gewonnenen Kenntnisse ein. Das ist eine Chance für den neuen Umgang mit Lärm. Und in die Novellierung der EU-Richtlinie ist das Soundscape-Verfahren aufgenommen worden. Gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen aus 47 Ländern haben wir es weltweit geschafft, eine internationale Norm zu schaffen. Der erste Teil des Standards ist 2014 veröffentlich worden, der zweite steht in diesem Jahr vor dem Abschluss. Man sieht: Normierungen brauchen ihre Zeit. Aber am Ende wird eine internationale Norm stehen: das Standard-Soundscape-Verfahren. Die Chance, dass es in den beteiligten Ländern jeweils auch eine nationale Norm wird, ist groß. Das ist das Beste, was wir erreichen konnten. Denn so wird das Thema Lärm eine wachsende Bedeutung auch in der Stadtplanung gewinnen.
Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Stephan Kosch am 28. Februar in Berlin.
Brigitte Schulte-Fortkamp
Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Psychoakustik an der Technischen Universität in Berlin.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.