Kampf mit Karten und Schildern
Viele Menschen sind hohen Lärmbelastungen ausgesetzt, die ihre Gesundheit beeinträchtigen und die Lebensqualität mindern. Lärm ist heutzutage praktisch überall und rund um die Uhr vorhanden - in der Stadt und auf dem Land, am Tag und in der Nacht.
Bedingt durch große Infrastrukturprojekte wie Flughafenneu- oder -ausbau rückt Lärm in den Fokus von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Lärm ist ein Umweltschadstoff, der im Gegensatz zu anderen Schadstoffen zwar nur lokal wirkt, aber aufgrund der vielen lärmbetroffenen Gebiete in Deutschland nahezu flächendeckend auftritt. Für die Menschen in Deutschland ist Lärm eine der am stärksten empfundenen Umweltbeeinträchtigungen. Das geht aus einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Umweltbundesamtes zum „Umweltbewusstsein in Deutschland 2014“ hervor. Lärm beeinträchtigt aber nicht nur das subjektive Wohlempfinden und die Lebensqualität, sondern kann auch krank machen. Es ist wissenschaftlich belegt, dass dauerhaft hohe Lärmbelastungen Herz-Kreislauf-Krankheiten hervorrufen können. So zeigen aktuelle Schätzungen der Europäischen Umweltagentur (EEA), dass mehr als 125 Millionen Menschen in Europa Lärmpegeln ausgesetzt sind, die zu gesundheitlichen Problemen führen können.
Die hohe Verkehrslärmbelastung in Europa führt nach den Berechnungen der EEA jährlich zu rund 90?000 Fällen von Bluthochdruck, 43?000 Einweisungen in Krankenhäusern und 10?000 vorzeitigen Todesfällen. Dabei ist der Straßenverkehr die Lärmquelle Nummer eins, gefolgt von Schienenverkehr, Luftverkehr und Industrieanlagen.
Die gravierenden Auswirkungen des Lärms auf den Menschen waren 1996 der Anlass für die Europäische Kommission, mit der Vorlage des Grünbuchs „Künftige Lärmschutzpolitik“ eine neue, umfassende Lärmschutzpolitik einzuleiten. Dieser neue Ansatz führte 2002 zur Veröffentlichung der „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung und die Bekämpfung von Umgebungslärm“. Die sogenannte EU-Umgebungslärmrichtlinie ist die erste Richtlinie der Europäischen Union, die Regelungen über Geräuschimmissionen enthält.
Sie legt ein EU-weites Konzept fest, um die Auswirkungen des Umgebungslärms auf der Grundlage von Prioritäten zu verhindern, vorzubeugen oder zu mindern. Sie verpflichtet die Mitgliedsstaaten zu folgenden Maßnahmen:
Die Ermittlung und Darstellung der Lärmbelastung innerhalb der in der Richtlinie festgelegten Gebiete (strategische Lärmkarten)
die Aufstellung von Aktionsplänen, wenn bestimmte, von den einzelnen Mitgliedsstaaten in eigener Verantwortung festgelegte Kriterien erfüllt sind (Lärmaktionsplanung)
die Information der Öffentlichkeit über Lärmkarten und die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Aufstellung von Aktionsplänen
die Berichterstattung gegenüber der EU-Kommission über die Anzahl der von bestimmten Geräuschimmissionen betroffenen Bürgerinnen und Bürger.
Nach der EU-Umgebungslärmrichtlinie müssen strategische Lärmkarten erstellt werden für Haupteisenbahnstrecken und Großflughäfen. Zudem müssen für Ballungsräume mit mehr als 100?000 Einwohnern die Lärmbelastungen durch Straßen-, Schienen- und Luftverkehr sowie durch Industrieanlagen ermittelt werden. Damit die Ergebnisse zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und Regionen vergleichbar sind und ein Gesamtbild der Lärmbelastung in Europa ergeben, werden EU-weit zwei einheitliche Indizes verwendet: der Tag-Abend-Nacht-Lärmindex (24-Stundenwert) für die allgemeine Belästigung und der Nachtlärmindex für Schlafstörungen.
Bevölkerung beteiligen
Die aktuellen Ergebnisse der Lärmkartierung in Deutschland zeigen, dass die Lärmbelastung der Bevölkerung hauptsächlich durch den Straßenverkehr verursacht wird. So sind rund 2,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger mit einem Tag-Abend-Nacht-Lärmindex größer als 65 dB(A) durch Straßenverkehrslärm belastet, beim Schienenverkehrslärm sind dies knapp eine Million Menschen. Beim Schienenverkehr zeigen sich die Einflüsse des nächtlichen Schienengüterverkehrs. 1,9 Millionen Menschen sind von einem Nachtlärmindex über 55 dB(A) betroffen. Oberhalb dieser Werte ist mit einer deutlichen Zunahme der gesundheitlichen Auswirkungen des Lärms, wie Schlafstörungen, zu rechnen.
Die Lärmkarten und die Angaben zur lärmbetroffenen Bevölkerung sind alle fünf Jahre zu überprüfen und bei Bedarf zu aktualisieren. Die nächste Veröffentlichung für 49?000 km Hauptverkehrsstraßen, 14?000 km Haupteisenbahnstrecken, elf Großflughäfen und 70 Ballungsräume erfolgt bis zum 30. Juni diesen Jahres.
Auf der Grundlage der strategischen Lärmkarten sind Aktionspläne auszuarbeiten, die konkrete Maßnahmen zur Lärmminderung vorsehen. Die Endtermine für die Aufstellung der Aktionspläne liegen rund ein Jahr später als die für die Lärmkarten. Aktionspläne sollen ebenfalls alle fünf Jahre überprüft und erforderlichenfalls überarbeitet werden (nächster Termin 18. Juli 2018).
Entsprechend der EU-Umgebungslärmrichtlinie sind Lärmaktionspläne zur Regelung von Lärmproblemen und Lärmauswirkungen aufzustellen. Was Lärmprobleme und Lärmauswirkungen sind, wird allerdings weder in der Richtlinie selbst, noch in der nationalen Umsetzung verbindlich geregelt. Im Rahmen der EU-rechtlichen Vorgaben wird daher von den zuständigen Stellen der Länder und Gemeinden selbstständig über die Notwendigkeit einer Lärmaktionsplanung entschieden. Hierzu haben einige Bundesländer Empfehlungen zu Auslösekriterien herausgegeben, aber die Entscheidung über die Aufstellung eines Lärmaktionsplans hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab.
Die Information und Beteiligung der Öffentlichkeit ist für den gesamten Prozess der Lärmaktionsplanung von besonderer Bedeutung und deshalb verbindlich vorgeschrieben. Dabei soll die Öffentlichkeit nicht nur informiert werden, sondern sie muss auch rechtzeitig die Möglichkeit erhalten, an der Aktionsplanung mitzuwirken. Die Planung soll die Ergebnisse dieser Mitwirkung berücksichtigen. Zudem soll die Öffentlichkeit über die getroffenen Entscheidungen informiert werden. Die Anforderungen an die Öffentlichkeitsbeteiligung sind also hoch. Eine Konkretisierung - wie etwa in den formalisierten Bauleitplanverfahren - gibt es jedoch nicht. Die Kommunen haben daher große Handlungsspielräume bei der Anwendung der möglichen Beteiligungs-instrumente. Hierfür stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, die von der Auslegung des Lärmaktionsplans über die öffentliche Präsentation und Erörterung in politischen Ausschüssen, Diskussionsveranstaltungen bis zur Öffentlichkeitsbeteiligung über das Internet reichen.
Die Städte und Gemeinden entwickeln in den Aktionsplänen überwiegend Maßnahmen gegen den Straßenverkehrslärm - eine Lärmquelle, die flächendeckend auftritt und die tatsächlich von den Kommunen auch auf vielen Wegen bekämpft werden kann. Sie können langfristig-strategische Ansätze der Verkehrsvermeidung verfolgen, aber auch kurzfristig und mit vergleichsweise wenig Aufwand straßenverkehrsbehördliche Anordnungen erlassen, zum Beispiel Tempolimits. Viele lärmmindernde Maßnahmen haben auch Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit, die Qualität des Verkehrsflusses oder die Kapazität des Straßennetzes - das sind Synergien, die es zu nutzen gilt. So sorgt die am häufigsten geplante Maßnahme, die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h in bestimmten Bereichen mit vergleichsweise geringem Aufwand für 2 bis 3 dB(A) weniger Lärm, bessere Luft, weniger Unfälle und höhere allgemeine Lebensqualität.
Tempo 30 hilft
In der Praxis gibt es jedoch oft Schwierigkeiten, wenn Tempo 30 tatsächlich eingeführt werden soll. Auf politischer Ebene und in der öffentlichen Diskussion wird häufig bezweifelt, dass das Aufstellen eines Tempo-30-Schildes an einer Hauptverkehrsstraße ohne Begleitmaßnahmen wirklich zu geringeren Geschwindigkeiten führt. Die bislang vorliegenden Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Anordnung Rückgänge der mittleren Geschwindigkeit um bis zu 16 km/h bewirkt, selbst wenn keine Begleitmaßnahmen ergriffen werden. Die Begrenzung der Geschwindigkeit auf Tempo 30 kann also auch ohne permanente Radarkontrollen oder aufwändige Umbauten Wirkung erzielen, zumal vor allem die akustisch besonders relevanten hohen Geschwindigkeiten reduziert werden.
Zusätzlich zu den Maßnahmen zur Minderung der Lärmbelastungen ist es aber auch wichtig, bestehende ruhige Gebiete zu bewahren und diese gegen eine Zunahme des Lärms zu schützen. Hierbei steht der Vorsorgegedanke im Vordergrund. Genaue Definitionen für die Auswahl ruhiger Gebiete gibt es allerdings weder auf EU- noch auf Bundesebene. Dies sorgt in vielen Kommunen für Verunsicherung. Auch aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit diesem Thema noch nicht sehr verbreitet. Dabei ist das Angebot an wohnungsnahen Erholungsgebieten, in denen man zur Ruhe kommt, ein wichtiges Qualitätsmerkmal von dicht besiedelten (Innen-)Städten. Für die subjektive Wahrnehmung sind neben der reinen Lärmbelastung auch andere Faktoren wichtig. In den Kommunen, die ruhige Gebiete ausweisen, geschieht dies daher meist nicht nur auf der Grundlage von Lärmindizes. Berücksichtigt werden häufig auch geeignete Flächennutzungen und andere Eigenschaften wie allgemeine Aufenthaltsqualität, Zugänglichkeit oder die Lage.
Mit der Lärmkartierung nach der EU-Umgebungslärmrichtlinie liegt erstmalig eine großflächige, vergleichbare Darstellung der Belastung durch Umgebungslärm vor. Sie dient den Gemeinden als Grundlage für die Identifizierung von Handlungsschwerpunkten und der zielgerichteten Durchführung von Lärmminderungsmaßnahmen. Ein wichtiges Element in diesem Prozess ist die sachgerechte Information und Mitwirkung der Öffentlichkeit, denn die Menschen kennen ihre Lärmprobleme vor Ort genau und haben häufig auch schon probate Lösungsvorschläge parat. Der integrative Ansatz der Lärmaktionsplanung als Teil der kommunalen Planungstätigkeit bewirkt, dass den notwendigen Lärmschutzbelangen ein größeres Gewicht eingeräumt wird. Damit gelangt das Problem Umgebungslärm insgesamt stärker in das Bewusstsein von Öffentlichkeit, Politik und Medien und erhöht so den Handlungsdruck. Es ist daher zu erwarten, dass zukünftig eine größere gesellschaftliche Bereitschaft besteht, geplante Lärmminderungsmaßnahmen noch umfassender umzusetzen als bisher, sowie die finanziellen und rechtlichen Gegebenheiten zu verbessern. Hierdurch wird die Lebensqualität in den Städten erhöht und ihre Attraktivität gesteigert.
Matthias Hintzsche