Originell

Die evangelikale Bewegung
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Es wäre dem Buch zu wünschen, dass es frischen Wind in das Gespräch zwischen Evangelische aller Couleur bringt.

Aktuell und allgemeinverständlich, kritisch und wohlwollend zugleich, wertend und dennoch nicht polemisch, gibt dieses Buch aus einer originellen Perspektive heraus einen Überblick über Entwicklung und brisante Themen der evangelikalen Bewegung in Deutschland.

Zwei Besonderheiten sind hervorzuheben: Da ist die Fülle und Aktualität des Stoffes. In der bisher spärlichen Literatur zum Thema wird meist nur eine der vielen Strömungen betrachtet, bezogen auf einen begrenzten Zeitraum der Vergangenheit. Hier liegt der Fokus gerade auf den gegenwärtigen Herausforderungen durch die Gemengelage unterschiedlicher Strömungen und Konfliktthemen in der Bewegung. In bewundernswerter Weise ist es Hansjörg Hemminger gelungen, dieses komplexe Feld auf 240 Seiten kompakt darzustellen. Dass hier mancher Sachverhalt holzschnittartig dargestellt ist, wird man hier und da monieren, meistens aber als Konzentration auf Wesentliches schätzen, etwa auf treffende Unterscheidungskriterien. Dennoch bleibt Raum für Humorvolles, Überraschendes.

Im ersten, dem geschichtlichen Kapitel, teilt der ehemalige Weltanschauungsbeauftragte der Württembergischen Landeskirche nach einem erhellenden Blick auf die Glaubensbasis der „Evangelischen Allianz“ die komplexe Entwicklung der Bewegung beherzt in drei Phasen ein. Das zweite Kapitel verhandelt schwergewichtige theologische Themen, wie „Mission und Toleranz“ oder das Bibelverständnis. Erstaunlich leichtfüßig führt der Autor durch diese Themen, indem er den „Reichtum“ evangelikalen Glaubens aufzeigt, von reformatorischer Theologie her Einseitigkeiten kritisiert, wie die Konzentration auf das eigene fromme Bewusstsein, und vor Irrwegen, wie dem fundamentalistischen Glaube an die Bibel, warnt. Während hier noch viel Sympathie für die Grundanliegen der Evangelikalen zum Ausdruck kommt, herrscht im dritten Kapitel ein kritisch mahnender Grundton. Dort geht es um die Beziehung zu den Kirchen und zur Welt, um Reizthemen wie Homosexualität oder Kreationismus. Der Autor bedauert die Tendenz, sich vom Feindbild her zu definieren und damit selbst wieder Feindbilder zu bestätigen, und auch den Mangel an Selbstkritik.

Die zweite Besonderheit betrifft die Perspektive und den eigenwilligen Stil. Da ist einmal der Einfall des Autors, immer wieder einen fiktiven Völkerkundler von der Erforschung des religiösen Stammes der Evangelikalen berichten zu lassen. So gelingt es ihm, Eigenheiten „der Evangelikalen“ aus neugierigem Abstand heraus und ohne die üblichen Klischees zu beschreiben, und so Freunde und Gegner der Bewegung zu einem Perspektivwechsel einzuladen.

Ansonsten spricht Hansjörg Hemminger sehr persönlich: ein Naturwissenschaftler mit pietistischen Wurzeln; ein evangelischer Christ, der darunter leidet, wenn sich seine Mitchristen hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen; ein Weltanschauungsbeauftragter im Ruhestand, der viele Menschen begleitet hat, die durch evangelikale Rechthaberei und Lieblosigkeit verletzt wurden; aber auch solche, die an konfliktträchtige Gruppen gerieten, weil sie in der Landeskirche zu wenig Orientierung und Wärme gefunden hatten. Vor diesem Erfahrungshintergrund wagt er auch entschiedene, manchmal geradezu direktive Urteile und Ratschläge.

Das Buch hat etwas von einem Vermächtnis; aber einem vorläufigen, das zur Diskussion anregt. Und es wäre dem Buch zu wünschen, dass es frischen Wind in das Gespräch zwischen Evangelische aller Couleur bringt, mit seinem leidenschaftlichen Plädoyer für ein gemeinsames, aber vielstimmiges Bezeugen eines befreienden Evangeliums, jenseits aller Rechthaberei.

Annette Kick

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