Die Essensjünger

Der Veganismus wird mitunter zur Ersatzreligion
Ein veganes Weltrettungsprogramm tritt mit einem universalen Anspruch auf Gültigkeit für alle Menschen auf. Fotos: dpa
Ein veganes Weltrettungsprogramm tritt mit einem universalen Anspruch auf Gültigkeit für alle Menschen auf. Fotos: dpa
Seit einiger Zeit geraten Menschen in der Kantine oder in der Mensa, zuhause oder im Restaurant in hitzige Diskussionen über das richtige Essen. Essen wird zur Weltanschauung und manchmal zu einer Art Ersatzreligion, wie besonders das Beispiel des Veganismus zeigt, erläutert Kai M. Funkschmidt, Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin.

Noch vor zehn Jahren hätte man erklären müssen, dass Veganer sich von Vegetariern dadurch unterscheiden, dass sie neben Fleisch auch auf alle anderen tierischen Nahrungsmittel verzichten. Heute sind Begriff und Sache so weit verbreitet, dass nicht nur Eltern, deren halbwüchsige Töchter plötzlich Fleisch, Milch und Eier ablehnen, wissen, worum es geht. Veganismus ist in kurzer Zeit zum Massentrend geworden. Bahnhofsbuchhandlungen bieten fast ein Dutzend vegetarische und vegane Periodika an, die weit mehr sind als Rezeptsammlungen, vegane Restaurants und die Supermarktkette „Veganz“ verbreiten sich in allen größeren Städten. Die Hälfte der Deutschen drückt die gesellschaftliche Anerkennung des Trends dadurch aus, dass sie sich selbst als „Teilzeitvegetarier“ einschätzt, obwohl sich das bei näherem Hinsehen meist als Wunschdenken entpuppt. Längst sind Essensvorlieben mehr als Geschmackssache. Die Frage, was man isst, wird von der Kantine bis zur Mensa zum Diskussionsfeld weltanschaulicher Grundsätze. Unterschiedliche Essensphilosophien konkurrieren: Vegetarisch, Bio, Regio- oder Paleo-Food (Steinzeitnahrung) verfolgen jeweils unterschiedliche persönliche und gesellschaftliche Ziele und werben um Anhänger. Die propagierten Essensregeln können sich dabei diametral widersprechen, selbst wenn das angestrebte Ziel identisch ist. Aber auch unter den Zielen gilt es oft auszuwählen und Prioritäten zu setzen, weil nicht alles kombinierbar ist: Was ist wichtiger, meine Gesundheit, Tierschutz oder die Umwelt? Klimarettung, Regionalität oder globale Gerechtigkeit?

Ging es beim Essen einst vor allem um überschaubare Fragen wie ausgewogene Nährstoffaufnahme, Körpergewicht und Geschmack, stehen nun weit größere Anliegen im Vordergrund. Kaum eine Lehre verspricht dabei so viel und ist so schnell gewachsen wie der Veganismus, eine soziale Bewegung, die für viele ihrer Anhänger so lebensbestimmend geworden ist wie eine Religion.

Essen und Religion hängen eng zusammen. Juden essen koscher, Muslime halal und Mormonen verzichten auf Tee, Kaffee und Alkohol, traditionelle Katholiken freitags auf Fleisch - ein Brauch, der in vielen Kantinen als freitägliches Fischgericht fortlebt. Hinzu kommen Fastenzeiten, zum Beispiel leben orthodoxe Christen vor Ostern vegan. Manche Religionen sind völlig vegetarisch oder gar vegan. Nur die Sexualität wird ähnlich umfassend in allen Religionen und Kulturen geregelt.

Der Protestantismus, dem Speisegebote fehlen, ist eine Ausnahme. Vielleicht machen deswegen so viele bei der Fastenaktion „Sieben Woche ohne“ mit oder legen so viel Wert auf strenge Observanz beim Konsum von „Fair Trade“-Produkten. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme, es ist eine physische und soziale Grunddimension des Lebens. Selbst säkulare Essensregeln sind gemeinschaftsprägend: Wer isst mit wem? Wer sitzt wo zwischen Ehrenplatz und „Katzentisch“? Was kann man Gästen anbieten, was nur in der Familie? Wer bestimmt, was gegessen wird?

Aus der Glaubensperspektive drücken Speisegebote Gehorsam gegen Gott aus und dienen dem Heilsgewinn. Religionspsychologisch haben sie identitätsstiftende Funktion. Dabei steht nicht das Individuum, sondern die religiöse Gruppe im Vordergrund. Erstens bin ich in gemischter Gesellschaft gezwungen, mich zu meinem Glauben zu bekennen. Zugleich bekomme ich die Chance ihn nach außen zu bezeugen. Zweitens geschieht durch diese Unterschiedenheit Vergewisserung nach innen.

Wo gehöre ich hin? So sollen die Israeliten Passah halten, damit die Kinder „Warum?“ fragen und die Gründungsgeschichte ihres Volkes hören (Exodus 12,16f). Jeder Religion wohnt ein elitärer Anspruch inne, der die Zusammengehörigkeit stärkt. Und darum führen Speisegebote drittens zu Abgrenzung. Das ist keineswegs eine Nebenwirkung, sondern ein wesentlicher Zweck. Aus praktischen und kultischen Reinheitsgründen sind interreligiöser Essensgemeinschaft Grenzen gesetzt. Denn wo man gemeinsam isst, entsteht Gemeinschaft. Das ist nicht immer erwünscht. Darum sollen sich die Israeliten von den Kanaanäern nicht einladen lassen (Exodus 34,15), und darum ist es so provokant, wenn Jesus mit Sündern isst.

Religiöse Heilshoffnungen

Traditionell werden Speisegebote also mit religiösen Heilshoffnungen begründet. Im Veganismus der Gegenwart werden nun die Ernährungsregeln selbst zum Heilsversprechen. Wie viele Veganer es hierzulande gibt, ist umstritten. Nach Eigenangaben der Verbände sind es acht Millionen Vegetarier und darunter eine Million Veganer. Unabhängige Zahlen gibt es kaum. Das Ernährungsministerium fand in einer Studie 2007 nur 80 000 Veganer und zehnmal so viele Vegetarier. Besser bekannt ist die Zusammensetzung: Knapp Dreiviertel sind Frauen, mehrheitlich 30 bis 50 Jahre alt, überdurchschnittlich gebildet, städtisch und gutsituiert, ein Milieu, das man als „grüne Bourgeoisie“ bezeichnet hat. Sonderfälle sind der Jugendveganismus als Statusübergang und der gewaltaffine Veganismus im linksextremen „AntiFa“-Milieu.

Es gibt zwei Grundströmungen, die sich in der Radikalität des Lebensstils und ihren Zielen unterscheiden. Für die so genannten Gesundheitsveganer steht die Sorge um das körperliche Wohl im Vordergrund. Diese Szene überlappt sich mit dem Trägermilieu der modernen Esoterik. Tatsächlich beschäftigen sich praktisch alle esoterischen Zeitschriften und Gruppen mit dem Veganismus. In diesem Bereich dominieren individuelle Heilsversprechen durch veganes Essen. Laut zahlreichen Berichten soll Ernährungsumstellung zur Befreiung von allerlei Malaisen und teilweise sogar zur Heilung schwerer Krankheiten geführt haben. Darum ist in veganen Rezeptsammlungen gerne von „Lebenselixier“ und „Verjüngungskuren“ die Rede - nicht immer metaphorisch: Mancher behauptet, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass veganes Essen den Alterungsprozess umkehren könne. Stars dieses Segments sind der Bodybuilder Karl Ess und der Fernsehkoch Attila Hildmann, die ihren hedonismusverträglichen veganen Lebensstil auf Bildern gerne durch die Kombination von prominenten Bauchmuskeln mit potenten Sportwagen zeigen. Coolness statt Jesuslatschen-Müsli-Image, damit erreichen sie auch szeneuntypische junge männliche Zielgruppen.

Viel weiter gehen die „Lebensstilveganer“, die auf die ich-bezogene Motivation der Gesundheitsveganer herab schauen. Sie lehnen nicht nur tierische Nahrungsmittel, sondern jede menschliche Tiernutzung ab, etwa Daunendecken, Lederschuhe und Wollpullover und erwarten davon eine Gesundung nicht nur für sich, sondern für die Welt. Veganismus „macht Sie gesund, glücklich und zufrieden. Diese Idee rettet die Welt, sie beseitigt den Hunger und schafft Frieden“, verspricht in seiner Autobiographie Jan Bredack, vom Mercedesmanager zum Veganer konvertierter „Veganz“-Gründer. Es ist die Variation eines ständig wiederkehrenden veganen Mantras. Man erkennt im Ausmaß des modernen Fleischkonsums und der Massentierhaltung die Wurzel aller Übel. Fleischproduktion verknappe die Nahrung, zerstöre Klima und Umwelt und fördere damit Kriege. Neben diese praktischen Argumente tritt eine Tierrechtsbewegung, deren Anstoß 1975 das Buch Animal Liberation des australischen Philosophen Peter Singer gab, und die Tieren prinzipiell gleiche Rechte wie Menschen zubilligt. Die Anhänger dieses „Antispeziesismus“ sehen ihren Kampf analog zum Widerstand gegen Sklaverei und Holocaust, mit denen sie moderne Tierhaltung regelmäßig vergleichen.

Vor allem in dieser Szene finden sich Züge religiöser Gemeinschaften. Viele Veganer schildern ihre Entscheidung als „Umkehr“ und Bekehrungserlebnis, wobei Heilungswunder oder mindestens eine verbesserte Lebensqualität den Anfang machen, bevor man zu den oben genannten globalen Heilsversprechen fortschreitet. Es ist nur logisch, dass ein solches Weltrettungsprogramm auch mit einem universalen Anspruch auf Gültigkeit für alle Menschen auftritt. Es „ist nicht deine persönliche Entscheidung. Es ist der einzige Weg, dein Leben ethisch zu führen“, wie es in einem veganen Blog heißt. Ziel ist eine vegane Welt. Zum Lebensstilveganismus gehört darum auch ein stark missionarischer Impuls, also Info-Stände, Demonstrationen, Flugblätter und Überzeugungsarbeit im Bekanntenkreis.

Wie religiöse Essensgebote kann auch Veganismus zur Abschottung führen. „Mir tut es nicht gut, mit Fleischessern am selben Tisch zu speisen“, erklärt der Aktivist Erwin Kessler im Interview. Er vollzieht eine gewollte soziale Trennung aufgrund seiner Lebenseinstellung. Andere wollen lieber gar keine Freunde haben als sich mit gedankenlosen Menschen abzugeben, die den „Tierholocaust“ mit ihrem Konsum unterstützen. Man isst nicht nur vegan, sondern man ist Veganer. So haben sich geschlossene Milieus mit eigenen Dating-Webseiten - Stichwort „Ich küsse keinen Fleischesser“ -, veganen Wohngemeinschaften und Reiseveranstaltern ausgebildet. Anhänger mit feingestimmtem Gewissen quälen sich alltäglich mit kasuistischen Fragen à la: Darf meine Katze draußen mausen?

Regelmäßige Leserbriefflut

Nicht selten steht der identitätsstiftende Anspruch, Teil einer verkannten Avantgarde und wegweisenden Elite zu sein, unverbunden neben dem Universalismus des Anliegens. Der elitäre Anspruch und das dazugehörige selbstgerechte Auftreten führen oft zur Außenablehnung. Diese wiederum verstärkt die Abschottung bis zur Belagerungsmentalität, in der jede Außenbeschreibung als Kritik, und jede sachliche Kritik als Angriff wahrgenommen wird. Zeitungsartikel zum Thema führen regelmäßig zu einer Leserbriefflut.

Innerhalb der Szene kommt es zu Konflikten, die wie Konfessionskriege ausgetragen werden. Veganz-Supermärk-te tragen die vegane Botschaft in den gesellschaftlichen Mainstream und genau wegen dieser „Kommerzialisierung“ der reinen Lehre werfen ihnen andere Veganer die Schaufenster ein. Dahinter steht ein kleines, aber lautstarkes Trägermilieu, ein fundamentalistischer Flügel, der auch Mastbetriebe zerstört und Tiere befreit: die „Antispeziestische Aktion“, eine Untergruppe der „Antifaschistischen Aktion“ (AntiFa). Zunächst überrascht diese Sorge um das Tierwohl bei Leuten, die kaum Hemmungen bei der Gewalt gegen Menschen haben. Aber es geht hier um die Verbindung eines tierrechtlich orientierten Veganismus mit politischer Theorie. Der Veganismus soll „nach einer Zeit des Niedergangs linker Bewegungen dem Denken erneute Ausgangspunkte für eine kritische Sicht der Gesellschaft bieten“. Veganismus ist demnach die „Fortsetzung der historischen Befreiungsbewegungen, weil eine Linke, die Tierausbeutung nicht thematisiert, nicht an der Spitze der fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräfte steht und auch schlicht nicht radikal ist“, schreibt Martin Rude in seinem Buch Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und in der Linken.

Die vegane Bewegung ist inzwischen so verbreitet, dass auch die Volkskirchen sie aufzugreifen beginnen. An der Universität Münster besteht das ökumenische „Institut für theologische Zoologie“, und der Grazer katholische Theologe Kurt Remele erklärt, mindestens „vegetarisches Essen ist Christenpflicht“, veganes wäre wünschenswert. Tatsächlich lenkt der vegane Trend die Aufmerksamkeit auf exzessiven Konsum und eine Tierhaltung, die aus christlicher Sicht ethisch bedenklich sind. Problematisch sind allerdings die monokausalen Problemanalysen und unbegrenzten Heilsversprechen. Wie allen menschlichen Versuchen, das Leid des Lebens an einem archimedischen Punkt aus den Angeln zu heben, wohnt ihm ein gnadenloses, bisweilen totalitäres Moment inne. Hier ist aus christlicher Perspektive an die Grenzen menschlicher Selbsterlösungsversuche zu erinnern. Veganismus macht uns nicht unsterblich und rettet nicht die Welt. Auch beim Essen gilt: Das Gesetz ist um des Menschen, nicht der Mensch um des Gesetzes willen da, so dass Allesesser und Veganer gemeinsam eingeladen sind zu „sehen und zu schmecken, wie freundlich der Herr ist“.

Literatur

Kai M. Funkschmidt: Erlösung durch Ernährung. Veganismus als Ersatzreligion. Materialdienst der EZW 2015 p.403-12 und 445-55, zu beziehen über die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. www.ezw-berlin.de

Kai M. Funkschmidt

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