Nicht Buch, sondern Rede
Der Koran gilt im Islam als die Offenbarung Gottes. Er stellt die Hauptquelle muslimischen Glaubens dar. Nach diesem wurde der Koran dem Propheten Mohammed nicht auf einmal offenbart, sondern über einen Zeitraum von 23 Jahren hinweg. Zwölf Jahre davon lebte Mohammed in Mekka (zwischen 610 und 622) und zehn in Medina (zwischen 622 und 632). Der Koran wurde somit in verschiedenen räumlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten offenbart, in denen er die für den jeweiligen Kontext richtige Option anbietet; so kommen unterschiedliche Optionen zusammen.
Für Muslime ist es keine Frage, dass der Koran einen göttlichen Ursprung hat. Das ist nicht die eigentliche Herausforderung an deren heutigen Umgang mit ihm. Die eigentliche Frage betrifft vielmehr das Verstehen des Aktes der Verkündigung des Koran. Wurde er monologisch als Selbstrede Gottes verkündet oder dialogisch als Akt der Kommunikation? Fundamentalisten bestehen auf eine literalistische Lesart des Koran, die seinen Wortlaut ins Hier und Heute übertragen will. Als wäre der Koran als fertiges Korpus monologisch vom Himmel gefallen. Nach diesem Verständnis spielt der historische Kontext des siebten Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel keine Rolle für den Akt der Verkündigung und somit auch keine für den Akt des Verstehens des Koran. Diese statische Lesart des heiligen Buches der Muslime teilen die Fundamentalisten mit Islamkritikern. Beide unterstellen den Muslimen, bewusst oder unbewusst, sie würden an einem selbstsüchtigen Gott glauben, dem es um seine eigene Verherrlichung geht, und der lediglich Instruktionen offenbart hat. Sie wollen damit begründen, dass jede Abweichung vom Wortlaut des Koran eine Verfälschung und somit einen Akt der Häresie darstellt. Daher erlauben sie sich, einzelne Koranstellen herauszunehmen, um damit die eine oder andere Behauptung über den Islam zu begründen. In der Koranforschung spricht man von einer synchronen Lesart des Koran. Demgegenüber steht die diachrone Lesart, die nicht nur den historischen Kontext der Verkündigung berücksichtigt, sondern auch die innerkoranische Prozesshaftigkeit seiner Entwicklung.
Kein Monolog
Der Begriff Koran bedeutet „das Vorgetragene“. Der Koran versteht sich selbst als Rede, Vortrag und nicht als Buch. Zu einem Buch wurde der Koran später nach dem Tod des Propheten Mohammed zusammengetragen. Wenn man im Koran liest, dann liest man Formulierungen wie: „Sie fragen dich (Mohammed) nach… Sag ihnen dies und jenes“, oder „Ihr Menschen…“, „Ihr Gläubigen...“, „Ihr Leute der Schrift...“ und so weiter. Diese Formulierungen im Koran machen klar, dass es sich bei ihm nicht um einen Monolog handelt, denn es findet hier offensichtlich Kommunikation statt. Und in dieser kommen mehrere Akteure zu Wort.
Der Koran ist also wie der 2010 verstorbene ägyptische Korangelehrte Nasr Hamed Abu Zaid sagt: „Gottes-Menschen Wort“. Der Koran selbst sagte: „Wir haben den Koran in einer arabischen Rede verkündet, damit ihr ihn versteht“ (Sure 43:3), also damit die Erstadressaten, die hier unmittelbar angesprochen werden, ihn verstehen können. Mit anderen Worten können wir sagen: Gott hat sich im Akt der Verkündigung des Koran der menschlichen linguistischen wie psychologischen und kulturellen Sprache seiner Erstadressaten bedient. Gott spricht also nach islamischer Vorstellung im Koran durch den Menschen, er lässt sich auf den Menschen ein. Das heißt, dass nun die Erstadressaten samt ihrer Lebenswirklichkeit, zu denen Gott spricht, konstitutiv an der Rede Gottes beteiligt sind. Sie ist ein Resultat einer Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Mit Mensch meine ich die Erstadressaten.
Der Koran stellt allerdings den Anspruch, nicht nur Mohammed und die Menschen seiner Umgebung, also die Erstadressaten, anzusprechen, sondern versteht sich als Botschaft Gottes an alle Menschen zu allen Zeiten. Er stellt also den Anspruch, dass er mich heute, hier in Europa, genauso anspricht wie jeden anderen auch. Die ersten Adressaten waren konstitutiv an der Form der koranischen Rede beteiligt.
Nun haben wir die hermeneutische Herausforderung, dass die Form durch ihre schriftliche Erfassung fixiert wurde. Der Koran als Rede ist dynamisch, er passt sich der Sprache der jeweiligen Situation seiner Erstadressaten im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel an. Der Koran als Buch, als Schrift ist hingegen fixiert. Die Form verändert sich nun nicht mehr. Ich muss heute im 21. Jahrhundert im Koran lesen, dass Esel und Pferde meine Transportmittel sind (Sure 16:8). Ich muss ein bestimmtes Frauenbild und bestimmte Körperstrafen aus dem siebten Jahrhundert und so weiter lesen. Ich kann diese nicht durch die Worte Auto oder Flugzeug oder Gleichberechtigung oder Menschenrechte ersetzen, denn wie schon erwähnt, die Form der Sprache ist schriftlich fixiert. Und eine Veränderung der Sprache wäre eine Verfälschung des Koran. Es bleibt mir also nur, im Sinne von Paul Ricœur, meine Lebenswirklichkeit in den Text hineinzuprojizieren, so dass ich anstelle von Pferde und Esel zum Beispiel Autos und Flugzeuge als Transportmittel verstehe.
Aber warum ist dies überhaupt möglich? Das ist nur unter der Bedingung möglich, dass ich den Koran nicht als Text, als Buch auffasse, sondern als Rede, als Kommunikation, die auch jetzt und hier stattfindet, wenn ich den Koran lese oder ihn höre. Es geht nicht mehr darum, dass ich passiv lese, was drinnen steht, sondern der Koran spricht zu mir, ja Gott spricht gerade im Akt des Lesens beziehungsweise des Hörens des Koran zu mir. Er verwendet in seiner Rede an mich zwar dieselbe Form seiner Rede, wie bei den Erstadressaten, überlässt es allerdings mir, diese Form zu decodieren, um seine Botschaft an mich heute und hier entsprechend meiner Lebenswirklichkeit zu verstehen, die ich in die Kommunikation mitbringe. Deshalb bin auch ich heute mit meiner Lebenswirklichkeit konstitutiv für diese Rede mit Gott. Meine Lebenswirklichkeit und ich als Individuum kommunizieren mit Gott auch hier und jetzt, der Leser ist, wie Paul Ricœur betont, stets Mitautor, daraus resultiert kein fixierter schriftlicher Koran mehr, weil dieser schon in seiner Form fixiert wurde, sondern es resultiert eine Rede, eine Kommunikation zwischen Gott und mir.
Offene Kommunikation
Daher ist es im Islam geboten, den Koran immer und immer wieder zu lesen und zu rezitieren. Wäre der Inhalt statisch, würde es ja ausreichen, den Koran ein oder zwei Mal im Leben zu lesen, und dann hat man die Botschaft verstanden, danach braucht man den Koran nie wieder zu lesen, wozu auch noch? Aber so ist es eben nicht, denn der Koran vermittelt keine objektiven Erkenntnisse, die für sich im Raum unabhängig vom Leser und Hörer stehen, sondern er entwickelt seine Botschaft stets in einer Interaktion mit dem Leser. Schon der Imam Ali, der vierte Kalif, sagte: „Es ist nicht der Koran, der spricht, sondern die Menschen bringen ihm zum Sprechen.“ Pauschale Sätze über sein eigenes Verstehen vom Koran wie: „der Koran sagt…“ oder „der Koran meint …“, muss man daher mit sehr viel Vorsicht betrachten. Es ist richtiger zu sagen: „Ich verstehe, dass der Koran mir sagen will…“ oder: „Morgen werde ich verstehen, dass der Koran mir etwas anderes sagen will…“ So bleibt die Interaktion zwischen Gott und Mensch als offene Kommunikation aufrecht. Der Einwand könnte nun erfolgen, eine solche Vorgehensweise führe zu einer Beliebigkeit in der Auslegung. Das stimmt jedoch nicht, denn der Koran selbst gibt den Rahmen, innerhalb dessen wir uns in seiner Auslegung bewegen können. Der Koran selbst bezeichnet das höchste Attribut Gottes als: der Barmherzige. Und er stellt die Barmherzigkeit als den entscheidenden Anspruch an sich selbst und an die Verkündigung Mohammeds auf: „Wir haben dich Mohammed lediglich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt“ (Sure 21:107). Jede Lesart des Koran, die im Widerspruch zu diesem Kriterium der Barmherzigkeit steht, ist daher zu verwerfen. Denn die Barmherzigkeit spielt im Koran eine zentrale Rolle.
Wir Menschen haben unterschiedliche Anliegen, die wir mit Gott kommunizieren, und der Koran soll jeden in seinem individuellen Anliegen ansprechen. Das Kriterium der Barmherzigkeit soll dabei vor einer Beliebigkeit des Verstehens schützen, vor allem dann, wenn jemand menschenfeindliche Positionen im Namen des Koran zu legitimieren versucht. Dies ist zum Beispiel bei Salafisten und Extremisten zu beobachten. Im Namen des Koran wird etwa Hass gegen Andersgläubige geschürt und Gewalt legitimiert, auch gegen Frauen, wenn zum Beispiel der Vers 34 der vierten Sure wortwörtlich verstanden wird, anstatt ihn in seinem historischen Kontext zu verorten.
Im Leben lebendig halten
Eine historische Kontextualisierung bedeutet nicht, den Koran zum Schweigen zu bringen, im Gegenteil: Gerade durch die Kontextualisierung können Gläubige dem spirituellen und ethischen Geist des Korans gerecht werden. Wenn heute zum Beispiel die koranischen Körperstrafen nicht wortwörtlich verstanden werden, können wir den ethischen Geist dahinter erkennen. Sie dienten einerseits als Beitrag zur Zivilisierung der damaligen Gesellschaft, indem sie den damaligen unverhältnismäßigen Gepflogenheiten - zum Beispiel der Blutrache - entgegengesetzt waren und andererseits als Präventionsmaßnahme, dienten also zur Abschreckung von Verbrechern. Diese Ziele können wir im 21. Jahrhundert durch zeitgemäße und effektive Maßnahmen erreichen. Die Mittel wandeln mit dem Wandel der Zeit, nicht aber die spirituellen und ethischen Maximen, die überzeitlich zu verstehen sind.
Das koranische Kriterium der Barmherzigkeit verhindert, dass ich alles in den Koran hineinlese. Könnte ich alles in den Koran hineinlesen, brächte ich ihn zum Verstummen, und spätestens dann wäre auch Gott als Partner dieser Kommunikation nicht mehr vorhanden, der Koran würde aufhören, Kommunikation zu sein. Muslime müssen den Koran immer neu lesen und neu auslegen, um ihn in ihrem Leben lebendig zu halten und sich zu vergewissern, ob man dem koranischen Kriterium der Barmherzigkeit im jeweiligen Kontext gerecht wird. Muslimische Fundamentalisten lehnen in der Regel die islamische Tradition ab und fixieren sich auf den Koran und die Sunna (Tradition) des Propheten, denn sie haben ein Verständnis des Islam als eine vom Himmel gefallene Religion. So verkennen sie die Dynamik und Prozesshaftigkeit der islamischen Lehre. Die bekannten islamischen Konfessionen Sunniten, Schiiten, Ibaditen, Ahmadeyya und so weiter, aber auch die sunnitischen Rechtsschulen haben sich viele Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammed gebildet und etabliert und sind nicht vom Himmel gefallen. Diese innerislamische Vielfalt hat Thomas Bauer in seinem Buch über die Kultur der Ambiguität im Islam eindrucksvoll dokumentiert.
Laut der Überlieferung, der Hadithen, des Ab Huraira sagt der Prophet Mohammed: „Gott schickt dieser Gemeinschaft [der Muslime] alle hundert Jahre jemanden, um ihre Religion zu erneuern.“ Es geht hier nicht um die Zahl Hundert oder darum, ob es sich um eine oder mehrere Personen oder Institutionen handelt, sondern um die Haltung, zu der aufgerufen wird - eine Haltung, die die Religion in einem offenen, nicht abgeschlossenen Prozess sieht. Eine ständige Reform ist nicht deshalb notwendig, weil dem Islam womöglich etwas fehlt, es geht vielmehr darum, ihn und seine Auslegung im Leben des Muslim immer neu zu aktualisieren, wie es der Koran nahelegt, denn nur so hält man ihn lebendig.
Reform in diesem Sinne bedeutet also nicht, die Grundsätze der Religion zu verändern. Verändert und aktualisiert werden soll vielmehr unser Verständnis von ihr, überprüft werden sollen die jeweiligen Positionen und Argumente. Denn nur in der ständigen Auseinandersetzung und in der ständigen Konfrontation zwischen der Lebenswirklichkeit und der Religion können Muslime immer neu aus dem Islam schöpfen, ansonsten verharren wir starr auf der Ebene der Rekonstruktion vorhandener Positionen und Traditionen - und so stirbt auch der Islam.
Literatur
Hamed Abdel-Samad/Mouhanad Khorchide: Zur Freiheit gehört, den Koran zu kritisieren. Ein Streitgespräch. Verlag Herder, Freiburg 2015. 128 Seiten, Euro 14,99.
Mouhanad Khorchide