Über die Kirche hinaus

Öffentliche Theologie sollte an Diasporaerfahrungen von Christen anknüpfen
Mitglieder der evangelischen Kirche in Minden demonstrieren gegen Neonazis. Foto: epd/ Friedrich Stark
Mitglieder der evangelischen Kirche in Minden demonstrieren gegen Neonazis. Foto: epd/ Friedrich Stark
Für eine „Theologie der Diaspora“ setzt sich der Wiener Theologieprofessor Ulrich H. J. Körtner ein. Er möchte, dass sich Theologie in politische Fragen einmischt und setzt sich kritisch mit den Beiträgen zur Öffentlichen Theologie in zz 5 und 7/2016 auseinander.

Zu den Umbrüchen, die sich seit 1989 vollzogen haben, gehört die verstärkte Präsenz von Religion im öffentlichen Raum. Sie zeigt sich nicht nur in der Politisierung von Religion und Theologie, sondern auch als Retheologisierung von Politik. Es stellt sich nicht allein die Frage, inwieweit Religion zu den geistig-moralischen Voraussetzungen zählt, ohne die selbst ein säkularer Rechtsstaat nicht bestehen kann. Eindringlich wird auch gefragt, wieviel Religion der säkulare Staat und moderne Gesellschaften vertragen. Die Auseinandersetzungen um Mohammed-Karikaturen, Meinungsfreiheit und Rücksicht auf religiöse Gefühle nach islamistischen Attentaten gehören ebenso dazu wie die Kontroversen und gerichtlichen Auseinandersetzungen um religiöse Symbole im öffentlichen Raum.

Zugleich stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig die Religionen sind, das heißt in welchem Maße sie in der Lage sind, sich der Moderne zu öffnen, ohne ihre Substanz preiszugeben und ihre Kritikfähigkeit einzubüßen. Die Religionen sind herausgefordert, sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche und ihrer grundsätzlichen Relativierung in modernen pluralistischen Gesellschaften auseinanderzusetzen.

Auf diese Gemengelage von Religion im öffentlichen Raum reagieren unterschiedliche Konzeptionen einer „Öffentlichen Theologie“. In der internationalen Debatte überschneiden sich verschiedene Diskurse wie derjenige über den Begriff der Zivilreligion und derjenige über Begriff und Konzeptionen einer politischen Theologie. Aber auch der Diskurs über kontextuelle Theologien und die verschiedenen Spielarten einer Theologie der Befreiung findet in der Debatte zur Öffentlichen Theologie seine Fortsetzung. Allerdings gibt es unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob Öffentliche Theologie lediglich ein neues Label für die altbekannte politische Theologie ist, die man vor fünfzig Jahren neue politische Theologie nannte, oder ob sich mit dem neuen Begriff auch eine neue Programmatik verbindet.

Hinzu kommt der Diskurs über öffentliche Religion. Diskutierte man unter diesem Begriff seit Beginn der Neunzigerjahre zunächst die Rolle von Religionen als Quellen und Prägekräfte zivilgesellschaftlichen Engagements, richtet sich das Augenmerk inzwischen auch auf Religionsgemeinschaften als Institutionen und politische Akteure. Zu ihnen zählen auch Diakonie und Caritas.

Der Begriff öffentliche Religion hat inzwischen aber auch noch eine andere Bedeutung. Namentlich im Zusammenhang mit den Fällen von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Raum - vornehmlich, aber eben leider keineswegs nur im Bereich der römisch-katholischen Kirche - ist deutlich geworden, dass die Öffentlichkeit keine Abschottung der Kirchen vor missliebiger Kritik oder gar vor weltlicher Strafverfolgung duldet. Auch beim Umgang der Kirchen mit ihrem Geld wird die Forderung nach Transparenz laut. Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und der professionelle Umgang mit den Massenmedien sind eine Facette öffentlicher Religion. Ein anderes Beispiel für die angesprochene Seite öffentlicher Religion ist die Forderung nach deutschen Predigten in Moscheen, um die dort stattfindende religiöse Kommunikation öffentlich transparent zu machen. Wiederum bemühen sich die Moscheegemeinden selbst um den Abbau von bestehendem Misstrauen, wenn regelmäßig Tage der offenen Moschee abgehalten werden. Auch der Diskurs über die Öffentliche Theologie berührt all diese angeschnittenen Fragen.

Mit dem Berliner Systematischen Theologen Florian Höhne lassen sich drei Grundfragen Öffentlicher Theologie formulieren: die sozialethische nach der öffentlichen Geltung partikularer religiöser Orientierungen, die fundamentaltheologische nach der öffentlichen Kommunizierbarkeit derartiger Geltungsansprüche und ihrer Begründungen sowie schließlich die ekklesiologische Frage nach der Rolle der Kirche in den genannten Kommunikationsprozessen.

Alle drei Grundfragen sind heute in Richtung auf eine „Theologie der Diaspora“ hin zu vertiefen. Dieser Aufgabe widmet sich ein Studienprozess zum Thema Theologie der Diaspora, den die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 2012 begonnen hat und der 2018 zum Abschluss kommen soll.

Neues ökumenisches Projekt

Die Partikularität christlicher Überzeugungen und Orientierungen in der modernen pluralistischen Gesellschaft hängt mit dem theologischen Thema der Diaspora auf engste zusammen. Konkrete Erfahrungen der Diasporaexistenz zum Beispiel protestantischer Kirchen sind exemplarisch für die Diasporaexistenz der Kirche in dieser Welt überhaupt. Migration und die Existenz von Migrationskirchen und -gemeinden sind in diesem Kontext ebenso zu bedenken wie der interreligiöse Dialog und die Pluralität der Religionen.

In vielen Ländern Europas bilden evangelische Christen und Kirchen eine Minderheit. Gesamteuropäisch betrachtet ist die Zahl der Protestanten in Europa geringer als die von römischen Katholiken und orthodoxen Christen zusammen. Selbst in Deutschland beträgt ihre Zahl nur noch gut 22 Millionen. Aber auch das katholische Christentum kennt die Situation der Diaspora.

Theologie der Diaspora als eine Gestalt Öffentlicher Theologie könnte ein neues ökumenisches Projekt für Europa und eine ökumenische Zeitansage werden. Nicht als Ausdruck des Rückzugs aus der säkularen Welt, sondern im Gegenteil als Ermutigung, sich in diese Welt einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes, seiner Agape oder Caritas, in Wort und Tat zu bezeugen.

Für eine öffentliche Theologie der Diaspora finden sich wegweisende Impulse bei Ernst Lange (1927-1974) sowie im Werk des österreichischen Theologen Wilhelm Dantine (1911-1981), einer der Väter der Leuenberger Konkordie. Unter dem Titel „Ekklesia und Diaspora“ hat Lange die Existenz und das Leben der Kirche im Wechselspiel zwischen Sammlung und Zerstreuung beschrieben. Sein Phasenmodell zeichnet sich dadurch aus, dass es den Diasporabegriff nicht auf die demographische Minderheitensituation beschränkt, sondern auf die Existenz von Kirche und Gemeinde in der modernen säkularen Gesellschaft anwendet.

Weitere Impulse für eine Theologie der Diaspora, die sich als Öffentliche Theologie versteht, findet man bei Wilhelm Dantine. In ökumenischer Ausrichtung hat er die Diasporaexistenz der evangelischen Kirche in Österreich als „protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt“ beschrieben. Ihm war daran gelegen, die biblische Botschaft der Freiheit in einer Gesellschaft zu Gehör zu bringen, die noch immer tief durch das Erbe der Gegenreformation und der Restauration nach dem Wiener Kongress geprägt war. Als Institution der Freiheit könne der „Minderheitsprotestantismus aus einem Kuriosum zu einer ‚Stadt auf dem Berge‘“ werden, freilich nur dann, wenn sich die evangelische Kirche nicht als Selbstzweck begreife.

Weil es die eine Öffentliche Theologie nicht gibt, sollte der Begriff nicht einseitig besetzt und zum Synonym für eine EKD-Theologie mit quasi lehramtlichem Anspruch verkürzt werden. Es geht nicht darum, für oder gegen die Öffentliche Theologie Partei zu ergreifen, sondern in theologischer Weite über die Sinnhaftigkeit und Leistungsfähigkeit des Begriffs zu diskutieren. „Ergebnisoffene Diskursivität“ (Heinrich Bedford-Strohm) ist nicht nur mit Blick auf die politischen Konsequenzen zu fordern, die aus dem Evangelium gezogen werden, sondern ebenso für die Klärung der theologisch-ethischen Grundlagen.

Schließlich war es gerade Dietrich Bonhoeffer, auf den sich besonders in Deutschland Vertreter einer Öffentliche Theologie beziehen, der die Kirche - aufgrund ihres eigenen Verschuldens - wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen sah. Was die überlieferte Sprache des Glaubens, seine Worte und Handlungen bedeuten sollen, werde allenfalls nur noch erahnt. Bonhoeffer hoffte auf eine Zeit, in der es wieder möglich sein werde, „das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert“. Dazu bedürfe es aber einer neuen Sprache, „vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden“. Bis dahin werde „die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten“.

Bonhoeffer schrieb diese Sätze 1944 im Gefängnis. Sein historischer Kontext war nicht derselbe wie der unsrige. Dennoch möchte ich in selbstkritischer Absicht die Frage stellen, ob Theologie und Kirche denn heute nicht mehr auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen sind, und ob ihre Verkündigung heute so vollmächtig, befreiend und erlösend ist, wie es Bonhoeffer ersehnte.

Wenn von ihm etwas für Öffentliche Theologie im säkularen und pluralistischen Kontext zu lernen ist, so an erster Stelle, die elementare Frage zu stellen, wer Jesus Christus für uns heute ist. Diese Frage ist keineswegs schon beantwortet, so dass nur noch über das zeitgemäße Wie christlicher Verkündigung zu diskutieren ist. Theologie, die sich mit letzter Redlichkeit einer Situation stellt, in welcher der christliche Glaube eben nicht fraglos gegeben ist, ist wartende Theologie, die eben nicht zu allem und jedem etwas zu sagen hat, sondern - wie schon Bonhoeffer meinte - zu manchen ethischen Fragen nur qualifiziert schweigen kann und auch in Glaubensfragen ihre Sprachnot nicht herunterspielt.

Diskurs mit der modernen Welt

Bedford-Strohm, der Bonhoeffers zitierte Sätze natürlich kennt, deutet das Problem selbst an, wenn er in zz 7/2016 schreibt: „Was wir heute brauchen, ist eine geistliche Erneuerung, die Glaube und Frömmigkeit als Schlüssel für eine erfülltes Leben deutlich macht.“ Für ihn ist freilich auch klar, dass aus einer solchen erneuerten Frömmigkeit keine politische Abstinenz erwachsen wird. Aber wie steht es um die theologische Substanz einer Öffentlichen Theologie, solange die geistliche Erneuerung ein Postulat bleibt? Kann man dann den zweiten Schritt - nämlich das vollmächtige Sprechen im politischen Raum - vor dem ersten tun?

Wenn sich Theologie und Kirche auf den Diskurs mit der modernen Welt und der pluralistischen Gesellschaft einlassen, hat das Rückwirkungen auf die Bestimmung der Glaubensinhalte, mit anderen Worten auf die Dogmatik. Und darum möchte ich Öffentliche Theologie so verstehen, dass sie nicht etwa nur der Transmissionsriemen für theologisch-ethische Grundüberzeugungen ist, die bereits feststehen, sondern ein gesellschaftlicher Lernort, in der nun gerade theologische Grundfragen in „einer ergebnisoffenen Diskursivität“ im öffentlichen Raum neu durchdacht werden. So sind ja auch staatliche Universitäten eine Form der Öffentlichkeit und keine abgeschiedenen Institutionen. Damit kommen wir aber zu der Frage, was nicht etwa nur die säkulare Gesellschaft von der Kirche oder den Kirchen lernen kann, sondern auch, was Kirche und Theologie von der säkularen Gesellschaft, der modernen Wissenschaft, dem modernen Recht, den Künsten und so weiter lernen können, so gewiss die Wirklichkeit Christi im Sinne Bonhoeffers über die Grenzen der Kirche hinausreicht.

Zu den Aufgaben Öffentlicher Theologie, die mit der öffentlichen Rede von Gott auf biblischer Grundlage unmittelbar zusammengehören, rechne ich schließlich die Religionskritik. Grundsätzlich ist kein Bereich der Wirklichkeit von der Wirklichkeit Gottes getrennt. Es gibt so gesehen keine theologisch neutralen Zonen. Wenn Martin Luther im Großen Katechismus erklärt, unser Gott sei das, woran wir unser Herz hängen, hat Theologie die kritische Aufgabe im öffentlichen Raum und in den verschiedenen Öffentlichkeiten zu fragen, woran Menschen ihr Herz hängen und welche Folgen dies nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene hat.

Freilich ist auch die eigene Rede Öffentlicher Theologie von Gott im Sinne des ersten Dekaloggebots der beständigen Kritik und Selbstkritik zu unterziehen, steht doch alle Rede von Gott - auch und gerade in Theologie und Kirche - in der Gefahr, für politische oder sonstige Zwecke instrumentalisiert und missbraucht zu werden.

Ulrich H. J. Körtner

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