Auch ein Klimawandel

Wider die Empörungs(un)kultur unserer Tage
Foto: privat
Ein Shitstorm geht zwar vorüber, aber es bleibt immer etwas zurück. S(c)h(r)i(t)t für S(c)h(r)i(t)t kommt es zu schwer wieder einholbaren Zivilisationsverlusten

Es ging durch die Tageszeitungen. Wieder einmal gab es in den so genannten sozialen Netzwerken eine Welle eilfertiger Empörung. Der Vorwurf der „Klugscheißerei“ vonseiten der Gewerkschaft der Polizei war da noch eher harmlos. Bayerns Justizminister forderte ihren Rücktritt, und selbst „einige Parteifreunde gingen auf Distanz“. Die Grünen-Politikerin Renate Künast hatte es gewagt, nach der Axt-Attacke in einem Nahverkehrszug bei Würzburg zu fragen, ob die Polizei - es war immerhin ein SEK- anstatt den flüchtenden Täter zu erschießen, ihn nicht durch einen Schuss hätte angriffsunfähig machen können. Möglicherweise war dies tatsächlich nicht möglich; dann wird man dies auch darlegen können, aber stattdessen bricht einer dieser unwetterartigen Shitstorms über der Fragestellerin aus, weil sie die Dinge auf den Kopf stelle und den Täter zum Opfer mache.

Gewiss, in der Regel geht so ein Shitstorm ebenso schnell vorüber wie die meteorologischen Unwetter, aber bisweilen hinterlassen sie wie diese bemerkenswerte Verwüstungen. In diesem Fall hielten sich die freigelassenen Aggressionen noch einigermaßen in Grenzen. Dennoch weist auch dieser Shitstorm auf einen Klimawandel in einer Zivilgesellschaft, der die Notwendigkeit der achtsamen Pflege ihres Zusammenhalts immer weiter aus der Aufmerksamkeit gerät. Es scheint sich auch bei uns eine blindwütige Empörungs(un)kultur auszubreiten, für die wir nicht mehr mit dem Zeigefinger auf andere Kulturen verweisen müssen. Sie ist ein Symptom der gegenwärtig wachsenden gesellschaftlichen Erosionen. Die Hemmungslosigkeit, mit der da andere diffamiert und gnadenlos dem öffentlichen Hass übergeben werden, entspricht mehr und mehr den Agitationsmechanismen, mit denen sich autoritäre Regime oder fanatisierte Gesellschaften zu stabilisieren versuchen.

Man mag diese Entwicklung als einen Authentizitätsgewinn diagnostizieren, tatsächlich aber gerät sie zu einem Katalysator für die wachsende Desolidarisierung der Gesellschaft. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird auf unproduktive Gegensätze gelenkt und dort gebunden. Die merkwürdige Lust an der antagonistischen Selbstpositionierung fördert vor allem die gefährliche Dynamik der Polarisierung. Das ist das klassische Geschäft der inzwischen erfolgsverwöhnten Populisten, die immer schon den Grund für alles Übel ausgemacht haben und dann gegen die ausgemachte Gefahr eine unerbittlich harte Gangart einfordern.

So ein Shitstorm geht zwar vorüber, aber es bleibt immer etwas zurück. S(c)h(r)i(t)t für S(c)h(r)i(t)t kommt es zu schwer wieder einholbaren Zivilisationsverlusten, denn es geht ja nicht um einen möglicherweise heilsamen Tabubruch, sondern um eine Attacke auf geschichtlich teilweise mühsam errungene demokratische Auseinandersetzungskonventionen, die nun, bisweilen unter scheinheiliger Berufung auf die demokratische Freiheit, außer Kraft gesetzt werden. Die so genannten sozialen Netzwerke im Internet haben offenkundig noch einen eigenen Zivilisationsprozess vor sich, bevor sie tatsächlich den Beweis ihrer Nützlichkeit erbracht haben.

——

Michael Weinrich ist Professor em. in Bochum und Herausgeber von zeitzeichen.

Michael Weinrich

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Meinung"