Widerspruch

Luther und die Mystik
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Volker Leppins neuestes Buch will Luthers intellektuelle Geschichte durchgängig aus „mystischen Wurzeln“ herleiten und daraus auf die Geschichte der Reformation insgesamt schließen.

Jubiläen erzeugen ihre eigene Dialektik. An Vergangenes wird erinnert, weil es Bedeutung für die Gegenwart haben soll. Es bleibt aber Vergangenes, das seine eigene Herkunft und seine historischen Grenzen besitzt. Darum rufen Erzählungen der Kontinuität Widersprüche auf den Plan. In die Reihe dieser Widerreden gegen die vermeintliche Meistererzählung von der Reformation als Wegbereiterin der Moderne gehört auch Volker Leppins neuestes Buch, das Luthers intellektuelle Geschichte durchgängig aus „mystischen Wurzeln“ herleiten und daraus auf die Geschichte der Reformation insgesamt schließen will. Doch es entkommt der Jubiläumsdialektik nicht. Auch mit ihm verbindet sich ein geschichtsphilosophisches Programm.

„Mystik“ ist nämlich alles andere als eine Markierung historischer Distanz. Nach Ernst Troeltschs scharfsinniger Diagnose tritt sie in der Neuzeit mit dem Anspruch auf eigene Gestalt hervor – und kann sich gleichwohl in einer Kirche bewegen. Mystik, so könnte man Leppins Option formulieren, stellt die Reformation in die Geschichte der Kirche zurück und erlaubt dem Protestantismus einen spezifisch religiösen Akzent in der einen Kirche: Mystischer Protestantismus ist ökumenisch einheitsfähig.

Doch diese Option scheitert. Denn der Mystikexperte Leppin handhabt seinen eigenen Leitbegriff hier überaus undifferenziert. In den vielen Welten der Mystik, zu denen ja auch eine Teresa von Avila gehört, wäre, statt überall Andeutungen zu finden, Luthers eigene Position genau zu bestimmen. Sie meint nicht eine innerliche Christusgemeinschaft im Gegensatz zu einer kirchlich verordneten Äußerlichkeit. Vielmehr kommt es darauf an, wodurch die „mystische Entleerung“ des Ich sich bestimmt und woher alsdann seine göttliche Erfüllung stammt. Auf beides gibt es bei Luther eine klare Antwort, die ihn von Staupitz, Tauler und anderen unterscheidet. Es ist, wie man im sechsten Abschnitt der Freiheitsschrift lesen kann, das „Wort“ Christi, das als Wort Gottes auf den Menschen trifft und ihm allein schon dadurch die Zerrissenheit auch seines eigenen Innersten zu Bewusstsein bringt, welche in dem Bekenntnis des Sünderseins menschlich zu Wort findet. Auf diesen durch die Ansprache des Wortes verzweifelten Menschen trifft dasselbe Wort Christi als Evangelium, nämlich als die Zusage der Gegenwart Gottes an der Stelle des zugrundgegangenen eigenen Ichs, wie sie in Christus selbst begegnet, und provoziert den Glauben als Antwort.

Es handelt sich also in beiden Vorgängen um die Wirkung des göttlichen Wortes, wie es durch Christus in die Welt gekommen ist, in der Bibel aufgeschrieben wurde und in der Verkündigung ausgesprochen wird. „Wer diesen Worten Gottes“, sagt Luther, „mit einem rechten Glauben anhängt, dessen Seele wird mit diesem Wort vereinigt, so ganz und gar, daß alle Eigenschaften des Wortes auch der Seele zu Eigen werden (Abschnitt zehn)“. Der Glaube ist der Ort „mystischer“ Einheit. Dagegen bildet die oft zitierte, poetisch eindrucksvolle, aber durchaus mystisch traditionelle Stelle von der geistlichen Ehe (Abschnitt zwölf) bei Luther gerade nicht den Höhepunkt einer mystischen Vereinigung, sondern dient als Bild dafür, dass die der Seele in der Hochzeit zugeeigneten Güter Christi auch eventuelle künftige Sünden überwiegen werden. Das Wort besitzt seine Tiefendimension in der Konzentration auf die Innerlichkeit des Glaubens. Darum muss man die Bibel auf Deutsch lesen können. Das Wort der Schrift stellt gerade keine Veräußerlichung des Inneren dar, um sich der Autorität des Papstes zu widersetzen.

Luther sucht auch nicht das Neue, wie Leppin mit der katholischen Standardpolemik meint. Kurzum: Luthers „Mystik des Wortes“ samt ihrer Konsequenzen verlangt noch geschrieben zu werden. Der Dialektik der Jubiläen entkommt man kaum. Doch statt sich von geschichtspolitischen Kontroversen aufhalten zu lassen, sei eine eigene Luther-Lektüre empfohlen, die reiche Aufschlüsse für das geistliche Leben verspricht.

Dietrich Korsch

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