Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. Nach innen geht der Geheimnis“, wusste schon der deutsche Poet und Philosoph Novalis. Und so mag manchen ein Unbehagen überkommen, wenn es gilt, sich dem Schlaf anheimzugeben. Das Beunruhigende, aber auch das Beseligende des Sturzes in Morpheus’ Arme war immer schon ein Thema in der Musik. Zuletzt beschäftigten sich zwei Künstler intensiv damit. Maria Radutu, eine klassische Pianistin mit Rumänien und Österreich als Heimat. Und Max Richter, ein in Deutschland geborener Brite. Beim renommierten Plattenlabel „Decca“ erschien im Frühling Radutus zauberhaftes Opus „Insomnia“. Die international vielfach engagierte Pianistin war ein Wunderkind des ehemaligen Ostblocks. Die nocturnen Stimmungen liegen ihr, aber an Schlaflosigkeit leidet sie im wirklichen Leben dann doch nicht.
Ihre feinsinnige Auswahl an Stücken von Scriabin, Fauré, Sibelius und Arvo Pärt sowie die quecksilbrige Interpretation derselben machen „Insomnia“ zu einem Hörerlebnis ersten Ranges. Das Thema geisterte schon lange in ihrem Unbewussten. Während zahlloser, nächtlicher Bahnreisen lernte sie die temporäre Schlaflosigkeit lieben, denn „die macht sensibel“.
Der britische Komponist Max Richter, der im Herbst 2015 mit „Sleep“ (Deutsche Grammophon) ein achtstündiges Schlaflied kreiert hat, ließ für dessen Aufführung Feldbetten fürs Publikum aufstellen. Manche Hörer schliefen, andere wachten. Dieses Konzept bringt Radutu zum Lachen. „An den Schlaf will ich meine Hörer nicht verlieren, nur eine gewisse Ruhe sollen sie gewinnen.“ Ganz ähnlich war der Ausgangspunkt bei Richter. „Sleep“ will eine Manifestation für eine langsamere Gangart des Lebens sein. Ist das der Inbegriff dessen, was heutzutage an Subversion möglich ist? Richter, lächelnd: „Ja. Wir leben in einem unglaublich beschleunigten Datenuniversum, wo jeder permanent Informationsflüssen ausgesetzt ist. Das erzeugt hohen psychologischen Druck und raubt viel Energie. Aus meiner Perspektive kann kreative Arbeit einen multidimensionalen Raum schaffen, in dem sich das Publikum auf tiefere Weise mit Dingen auseinandersetzen kann. Die Minimal Art hat uns etwa einen neuen, tieferen Blick gelehrt. In ganz ähnlicher Weise suche ich eine neue Beziehung mit dem Hörer.“ Richter ging furchtlos in die Erfahrung. Eigentlich wollte er, dass möglichst viele Menschen während der Aufführung durchschlafen. Aber wie komponiert man für Schlafende? Wie umschifft man das kontrollierende Ich? Richter verweist auf zwei Arten von Musik, die bei „Sleep“ zum Schlaf führen. Sie setzen unterschiedliche Modi des Zuhörens voraus. Richter: „Die eine Art von Material ist thematisch strukturiert. Hier geht es um Variationen, die den eher analytischen, kulturell engagierten Hörer einladen. Die andere Art von Klängen gleicht einer Textur, deren Haptik zu erforschen ist. Das ist dann mehr mit dem Gefühl zu vergleichen, das man hat, wenn man eine Landschaft überschaut und zu erkennen versucht. Diese beiden Pole kommen alternierend vor, manchmal überschneiden sie sich.“ War es für „Sleep“ notwendig, sich in die Schlaflosigkeit anderer hineinzufühlen? „Gewissermaßen, ja. Ich überlegte, was ich denn gerne hören würde, wenn ich nicht einschlafen könnte. Wichtig wäre, dass ein Teil der Musik vertraut, ein anderer fremd sein muss. Es sollte ein ‚low information enviroment‘ sein, das mit Variationen tändelt. Ich habe auch viel mit meiner Frau über die Verbindung von Schlaf und Musik gesprochen. Wir diskutierten über das Universelle der Lullabys. Es gibt sie in allen Kulturen. Der Mensch hat offensichtlich ganz intuitiv eine Verbindung von Schlaf und Musik herbeigedacht.“
Kompositionen für Schlafende
Das Bedrohliche des Schlafs war zentrales Thema des vielleicht ungewöhnlichsten Schlummerlieds der Popgeschichte. Metallicas „Enter Sandman“ hat so gar nichts von hypnotisches Um-Sich-Selbst-Kreisen sanfter musikalischer Motive. Das Lied ist stattdessen mit einem maliziösen Gitarrenriff ausgestattet. Die Mission lautet hier: nur ja nicht zu Nahe an den Rand des Schlafs geraten. „Sleep with one eye open, gripping your pillow tight. Exit, light. Enter, night. Take my hand, we’re off to never-never land“ grollt James Hetfield den bedrohlichen Armen von Morpheus. Von einem nicht enden wollenden Albtraum singt auch Ex-Velvet-Underground-Violaspieler John Cale in „The Sleeper“. Die unsicheren Gefühle einer dysfunktionalen Liebesaffäre lassen sich darin nicht einmal im Schlaf abstellen. Der aus dem Lot gekommene Seelenfrieden wird von einem absichtlich billig klingenden Synthesizer und dissoziierten Bassmotiven ideal illustriert. „And you try to forget your past, but it’s just adding to your pain.“ lautet die niederschmetternde Conclusio. Kein Erbarmen hat die Nacht auch mit der libanesischen Bluesband The Wanton Biships im Song „Sleep With The Lights On“. „I cleaned my act for judgement day“ heißt es da zunächst hoffnungsvoll. Dennoch leben die Verlustgefühle nach einer beendeten Beziehung in nocturnen Gegenwelten neu auf. So sehr, dass auch hier die Angst vorm Einschlafen aufkommt. „Sleep with the lights on“ singt Nader Mansour. Dem bedrohlichen Sturz ins Unbewußte wird hier ein kleines Nachtlicht entgegensetzt. Es soll der eventuell rasch notwendigen Rückkehr ins Bewusstsein dienlich sein.
Sturz ins Unbewusste
Wesentlich vertrauensvoller war da der britische Folksänger Donovan. In seinem simpel „Sleep“ betitelten Song fokussiert er die erquickenden Qualitäten der Erneuerung. „Sleep now, sleep and so fade away the sorrow, sleep beloved“, schwärmt er von der Heilkraft des nächtlichen Aufenthalts in den Tiefen des Unbewußten. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy hat in seinem Bändchen Vom Schlaf die Pforte zur anderen Seite unseres Ich, die der Schlaf öffnet, so definiert: „Ich falle ins Innere meines Selbst: meiner Müdigkeit, meiner Langeweile, meiner erschöpfenden Lust, meines erschöpfenden Leids. Ich gleite als Ganzes ins Innerste und ins Äußerste von mir und lösche dabei die Aufteilung dieser beiden vermeintlichen Regionen aus.“ Donovan definierte das Reich des Schlafes ganz in diesem Sinne als „eternal home.“
Auch für Nick Cave steht der Schlummer für unsere im täglichen Leben verloren gegangene Fühlung mit dem Idealen. Er verführt die potenzielle Geliebte, der er im realen Leben wenig bieten kann, ins Reich des Schlafs. In der von einem wunderbaren Xylophon ausgeschmückten Ballade „Come Into My Sleep“ lockt er brummelnd in die Schluchten des Unbewußten: „Now that mountains of meaningless words and oceans divide us, and we each have our own set of stars to comfort and guide us, come into my sleep.“
Um zu dieser weltvergessenen Kehrseite unseres Lebens zu gelangen, bedarf es einer gewissen Ruhe. Die ist paradoxerweise oft besser mit sanfter Musik als mit brüllender Stille zu erreichen ist. Das Wissen um die Macht des Lullabys wurde früh zu Geld gemacht. Nicht nur von den Jazzcroonern der Dreißiger-, Vierzigerjahre, die die unheilvollen „Long and Sleepless Nights“ behutsam romantisierten. Bald waren es kommerzielle Firmen, die deren Geschäftsmodell auf auralen Einschlafhilfen basierten. Etwa die 1934 gegründete Firma „Muzak Holdings llc“, die nicht nur Musik zur Stimulation der Einkaufslust in Kaufhäusern verhökerte, sondern auch Hintergrundmusik für Fahrstühle und Entspannungs-Lounges. Das heutige Äquivalent dazu sind Streamingplattformen wie „Spotify“, die Einschlaf-Playlists feilbieten. Kurios, dass dafür Künstler wie Rihanna, Ed Sheeran und Sam Smith angepriesen werden.
Dann schon lieber ehrliche Ambient-Musik à la Brian Eno oder jene der deutschen Elektronikpioniere Tangerine Dream, die auf ihrem Album „Stratosfear“ 1976 todesverachtend „The Big Sleep In Search Of Hades“ propagierten. Ihr Mastermind Edgar Froese, im Januar in Wien verstorben, setzt seine elektronischen Signale jetzt vielleicht schon von der anderen Seite. Andreas Spechtl, Sänger von Ja, Panik musiziert aber noch munter im Diesseits.
Auf seinem gerade erschienenen, „Sleep“ genannten Solowerk zelebriert er die Wonnen der körperlichen Regeneration, die der Schlaf schenkt. Sämtliche Stücke wurden in den frühen Morgenstunden aufgenommen. Da fühlte er eine, durch die Müdigkeit ausgelöste, besondere Sensibilität, die seinen inneren Zensor, der tagsüber waltet, kurzerhand außer Kraft setzt. Nicht viele forcieren die Schlaflosigkeit. Meistens wird unter ihr gelitten. Das belegt zumindest die Popgeschichte. Es existieren weit mehr Lieder über Schlaflosigkeit als über den Schlaf selbst. So grübelte etwa der irische Barde Van Morrison 1973 in „Snow In San Anselmo“ über die Zerstreuungsmöglichkeiten von kalifornischen Schlaflosen: Klassische Musik, Massagesalon und Pancake House samt langdienender Kellnerinnen schienen ihm am empfehlenswertesten.
Rhythmus und Wiederholung
Zwei Jahre später variierte er das Thema in enigmatischer Weise in „Try For Sleep“ wieder. Blueser Gary Clark Jr. ist in „Can’t Sleep“ nach der Begegnung mit einem Fräulein derart mit Verlustangst geschlagen, dass er nicht mehr einschlafen will. Während es Morrisey von The Smiths in „Asleep“ genau nach dem Gegenteil gelüstet. „Sing me to sleep and then leave me alone.“ Die Schlaflosigkeit von der Dandy Bryan Ferry in „Both Ends Burning“ jault, ist, wie könnte es anders sein, durch die Pfeile Amors ausgelöst.
Und beim Schotten Edwyn Collins verrutscht im rasanten „Losing Sleep“ etwas nicht Unwesentliches. „I’m losing sleep, I’m losing dignity“ heißt es da geradeaus. Von Schlaflosigkeit Gefährdete sollten sich, geht es nach dem Philosphen Jean-Luc Nancy, ihrer Kindheit besinnen. Er sieht den Schlüssel für guten Schlaf im in allen Kulturen praktizierten, mütterlichen Wiegen ihrer Kinder. „Es schläfert uns ein, weil der Schlaf in seinem Wesen selbst ein Wiegen ist, kein stabiler, unbeweglicher Zustand. Was zum Schlaf führt, hat die Form des Rhythmus, der Regelmäßigkeit und der Wiederholung.“ In diesem Sinne kann kein Ende von Ambientmusik, Chill-Sounds und Lullabys ausgerufen werden.
Samir H. Köck