Freiheit, Gleichheit ... Sicherheit

Der Wunsch nach starken Strukturen macht nationalen Populismus zur Option für die Armen
Foto: privat

In Europa ist ein neuer nationaler Populismus auf dem Vormarsch. Die Hoffnung, Deutschland bliebe wegen der Erfahrungen aus der Nazi-Zeit verschont, hat sich als leere Illusion herausgestellt. Deutsche reagieren in der Krise nicht anders als Österreicher, Franzosen, Dänen oder Polen – um nur einige Länder zu nennen. Es gibt ein übergreifendes Reaktionsmuster, das in der Krise die vermeintlich durch Fremde bedrohte nationale Gemeinschaft beschwört, in der es vor allem eines gibt: Schutz und Sicherheit.

Schnell ist die politische Klasse mit Verurteilungen und Abgrenzungen bei der Hand. In nicht wenigen Äußerungen wird die „Ekelschranke“ deutlich, die angesichts dieser dumpfen und plumpen Gefühlswelten hochkommt. Kontakte, Gespräche? Besser nicht. Aber deutlich ist auch, dass man durch eine Stigmatisierung der Betreffenden als Aussätzige das Problem nicht lösen kann. Zu sehr bestätigt gerade eine solche Haltung ein Kernelement jedes populistischen Diskurses: des Gegensatzes von Volk und Establishment. „Die da oben“, die uns ausgrenzen wollen, haben schon immer das Volk betrogen – und nun haben sie sogar Angst, mit uns zu reden. Das kann dann soweit gehen, dass das alle rationale Argumentationen ignorierende Festhalten eines Donald Trump an seinen Lügen als Beweis seiner Souveränität erlebt wird.

Schon vor mehr als zwanzig Jahren hat der große französische Soziologe Pierre Bourdieu zusammen mit einem Autorenkollektiv die immer prekärer werdende Situation in den französischen Vorstädten untersucht. Sein Buch „Das Elend der Welt“ ist ein bedrückendes Zeugnis der Unfähigkeit der französischen Eliten, das Zusammenleben von (armen) Franzosen und (ebenso armen) Fremden erträglich zu gestalten. Der Ramadan mit seinen abendlichen Feiern ist für die nichtislamischen Mitbewohner eines Hauses schlicht nicht erträglich. Ressentiments gegenüber den Fremden lauern an jeder Ecke, weil nur sie noch ein Stück Identität zu erlauben scheinen.

Ein Schüler Bourdieus, Didier Eribon, hat die Analyse 2009 weitergeführt und macht vor allem den Verfall der klassischen Arbeiterkultur für die Erfolge des Front National verantwortlich. Sie sei nicht fremdenfreundlicher gewesen, einen tiefsitzenden Rassismus hätte es immer gegeben. Den Unterschied mache vielmehr die politische Organisiertheit aus: „... dass man sich als Individuum und Kollektiv repräsentiert fühlt, und das heißt unterstützt von denen, die man durch seine Wahlstimme unterstützt“. Doch die „Linken“ hätten gegenüber dem Neoliberalismus versagt, deshalb wäre der Aufstieg des nationalen Populismus nicht mehr zu bremsen gewesen.

Wie sehr sich in eben diese Richtung der Wind auch in Deutschland gedreht hat, belegen die Umfragen, die Petra-Angela Ahrens vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD seit Herbst 2015 durchgeführt hat. Bereits vor den Pariser Anschlägen und den Silvesterereignissen in Köln ließ sich das gewandelte politische Klima deutlich erkennen. So stehen bei einer allgemeinen Frage nach Sorgen angesichts der Flüchtlingszahlen zwar mit über 83 Prozent der Befragten die Angst vor wachsendem Rechtsextremismus und vor sozialen Probleme (77 – 79 Prozent) ganz oben an. Fragt man jedoch präziser nach Lösungsansätzen, so dominieren die Einschätzungen, dass „Behörden und Polizei die Situation nicht bewältigen können“ und „man sich in bestimmten Gegenden nicht mehr so frei bewegen kann wie heute“.

Das Thema der nächsten Jahre lautet folglich Sicherheit und staatliche Ordnung. Die Angst vor wachsender Angst führt zum Wunsch nach starken beschützenden Strukturen und dies verständlicherweise zunächst bei denen, die den Problemen am direktesten ausgesetzt sind: den Armen. Der nationale Populismus mobilisiert sie gegen die anderen, noch Ärmeren.

Christliche Sozialethik hat es in diesem Kontext schwer. Zwar liebt sie, nach eigener Aussage, die Armen. Wenn sich diese aber von den noch Ärmeren geradezu körperlich bedroht fühlen, steht sie vor einem nicht aufzulösenden Dilemma. Ohnehin ist Sicherheit und Schutz nicht ihr Thema. Im aktuellen evangelischen Standardwerk, dem „Handbuch der Evangelischen Ethik“ kommt Sicherheit schlicht nicht vor. Liegt dies daran, dass man glaubt, sie voraussetzen zu können? Das wäre naiv. Wahrscheinlicher ist eher, dass das Thema ihren Protagonisten einfach nicht nahe genug ist.

Unter den aktuellen Bedingungen wachsender Unsicherheit brauchen die Schwachen einen starken Staat mit kraftvollen Repräsentantinnen und Repräsentanten. Appelle, Spannungen auszuhalten und Empathie zu pflegen, reichen nicht aus. Der Einsatz staatlicher Gewalt ist nötig, um das Ausbreiten von zerstörerischer Gewalt zu verhindern. Sicherheit ist letztlich nichts ohne Gerechtigkeit – aber Gerechtigkeit ohne Sicherheit wäre eine Lüge.

Gerhard Wegner ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD.

Gerhard Wegner

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