Autoritärer Islam

Den Prediger Gülen und Präsident Erdogan verbindet mehr, als es scheint
Fethullah Gülen lebt seit 1999 in den usa. Foto: dpa/ Fgulen.Com
Fethullah Gülen lebt seit 1999 in den usa. Foto: dpa/ Fgulen.Com
Die Gülenbewegung orientiert sich an einem Gesellschaftsbild, das insbesondere Frauenrechten, aber auch der Meinungs- und Religionsfreiheit und der Trennung von Religion und Staat entgegensteht, zeigt Friedmann Eißler, Islamreferent der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen.

Auch wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dem Prediger Fethullah Gülen den Krieg erklärt hat und seine Anhängerschaft massiv verfolgt: Über viele Jahre vertraten sie – und die Milli Görüs-Bewegung – gemeinsam Grundpositionen: Ablehnung der „Verwestlichung“, Stärkung der Einheit von türkischer Nation und islamischer Religion („türkisch-islamischen Synthese“), Verklärung des Osmanischen Reiches und Forderung einer „sittlich-moralischen Erneuerung“ der Türkei. Gülen war immer gegen eine direkte Politisierung des Islam und gründete daher auch keine eigene Partei; das überließ er Necmettin Erbakan (Milli Görüs), Erdogan (AKP) und anderen. Gülen setzte vielmehr auf die Heranbildung einer muslimischen Bildungselite. Sie sollte durch „Dialog und Bildung“ zum Aufbau einer neuen, (islamisch-)sittlich gefestigten Gesellschaft beitragen und intellektuell in der Lage sein, die Konkurrenz mit dem Westen zu bestehen.

Fethullah Gülen wurde 1941 geboren und genoss in islamischen Medresen eine traditionelle religiöse Bildung. Er schloss sich einer sufischen Bewegung an, in der das Lehrer-Schüler-Verhältnis eine wichtige Rolle spielt und unbedingter Gehorsam zu den höchsten Werten gehört. Er predigte die Verbindung von islamischer Frömmigkeit und gesellschaftlichem Engagement. Eine „Goldene Generation“ soll herangebildet werden, die den Islam nach Gülens Vorstellungen in der Gesellschaft festigen soll.

Weltweit ist die Gülenbewegung in über 140 Ländern aktiv, seit 22 Jahren auch in Deutschland. Hier betreiben Träger, die Gülen nahestehen, über dreihundert Kultur- und Bildungsvereine, außerschulische Nachhilfe, fast dreißig Schulen, viele Kindertagesstätten, fünfzehn Dialoginstitutionen, je etwa ein Dutzend Akademiker- und Unternehmerverbände sowie die internationale Mediengruppe World Media Group AG in Offenbach. Tatkräftige Unterstützung kommt aus der mittelständischen Wirtschaft. Im Bundesverband der Unternehmervereinigungen (buv) sind etwa zwanzig regionale Mitgliedsverbände mit rund fünftausend Unternehmen registriert. Und seit drei Jahren ist die Stiftung Dialog und Bildung in Berlin das offizielle Gesicht der Bewegung in Deutschland.

Strenge Disziplin

Kaum eine andere islamische Bewegung wird so kontrovers beurteilt wie die Gülenbewegung, die inklusive Unterstützer weltweit mehrere Millionen Anhänger haben soll. Das Netzwerk übt nach innen strenge Disziplin, versteht sich aber nicht als politische oder religiöse Organisation, sondern als soziale Bewegung. Die freilich ist nicht säkular, sondern religiös motiviert. Befürworter bewerten das Engagement der Gülenbewegung für gute Bildung als wichtigen Beitrag zur Förderung und zur Integration der durch sie angesprochenen türkischen Milieus. Kritiker verweisen hingegen auf die Intransparenz der hierarchischen Strukturen und der Bedeutung des religiösen Hintergrunds für die Ziele der Bewegung. Manche sprechen gar von einer sektenähnlichen Organisation oder sehen in Fethullah Gülen einen islamistischen Wolf im demokratischen Schafspelz.

Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz legte 2014 eine gründliche Bestandsaufnahme zum Thema vor. Sie attestiert der Bewegung eine „die Diskrepanz zwischen dem nach außen hin vermittelten Bemühen um Konsens und Dialog und der religiös-ideologischen Grundlage, auf welcher sich das Handeln der Gülen-Bewegung insgesamt vollzieht und die auch für den Bildungsbegriff Gülens prägend ist“.

Für Günter Seufert, Senior Fellow der renommierten Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, verfolgt Gülen das Ziel, „muslimische Moralität und Sittlichkeit wiederherzustellen und genügend Rückhalt zu sammeln für seine Vision einer muslimischen Gesellschaft“.

Gülens Anhängerinnen und Anhänger Fethullah bevorzugen die Selbstbezeichnung Hizmet. Das heißt auf Türkisch „Dienst“ und meint den Dienst für Gott. Als solcher ist er immer auch Dienst an den Menschen und umfasst alle Lebensbereiche. „Ein erfolgreiches Dienen im Islam in Übereinstimmung mit dem Weg des Propheten ist nur durch eine Islamisierung des Lebens mit all seinen Institutionen möglich“, schreibt Gülen. So gehören Wissenschaft und Glaube, Bildung und Religion aufs engste zusammen.

Charakteristisch ist die Verbindung einer konservativen Frömmigkeit mit zeitgemäßer Bildung und modernen Kommunikationsformen. Gülen selbst hat stets betont, er sei kein Reformtheologe. Die normative Geltung von Koran und Sunna, die Ablehnung individueller Lebensentwürfe, der Gehorsam im Dienst an der Gemeinschaft – all das hat Gülen nie zurückgenommen. Modern sind nur die Formen der Vermittlung.

Es war der türkische Gelehrte Said Nursi (1879?–1960), der diesen Weg für eine Mitgestaltung der modernen Welt vorzeichnete. Im laizistischen Kontext der türkischen Republik schien eine (Re-)Islamisierung der Gesellschaft im Sinn der islamischen Ideale und eine Erneuerung der islamischen Pflichterfüllung auf dem Wege säkularer Bildung am besten möglich. Schon Nursi, Gründer der Nurculuk-Bewegung, vertrat nicht nur die Vereinbarkeit von Wissenschaft – vor allem Naturwissenschaft – und Islam, sondern auch, dass Wissenschaft zur Festigung des islamischen Glaubens genutzt werden könne. Und Gülen nimmt zentrale Gedanken Nursis auf und entwickelt sie weiter. „Baut Schulen statt Moscheen“, soll er als Motto ausgegeben haben. So weisen die privaten, staatlich anerkannten Bildungseinrichtungen keine religiösen Fächerschwerpunkte auf.

Überlegener Islam

Gülens Islamverständnis wird hauptsächlich in kleinen, verbindlich organisierten und nach Geschlechtern getrennten Wohngemeinschaften von Freiwilligen vermittelt, den sogenannten „Lichthäusern“. Hier wird das Leben nach den islamischen Regeln ausgerichtet und der „Dienst“ für Gott eingeübt. Von hier aus bilden sich gleichsam konzentrische Kreise. Je weiter die Aktivitäten in die gesellschaftliche Öffentlichkeit wirken, desto selbstverständlicher wird die Beteiligung von engagierten Freiwilligen bis hin zu völlig Außenstehenden, die als Lehrerinnen und Lehrer an Gülenschulen angestellt sind. Noch weiter ist der Kreis des jeweiligen schulischen Umfeldes, aus dem sich neue Interessenten für die inneren Zirkel oder/und Sponsoren gewinnen lassen.

Der Islam ist Gülen zufolge anderen Religionen durch die Verbindung von Wissenschaft und Glauben überlegen. „Eine Wissenschaft, die den Menschen nicht in Richtung der erhabenen Ziele führt, ist ein Trugbild“, schreibt Gülen, und: „Die Religion leitet die Wissenschaft an, bestimmt ihr wahres Ziel und stellt ihr moralische und universelle menschliche Werte zur Verfügung.“ Die Überlegenheit des Islam besteht darin, dass er das Potenzial hat, dem dekadenten materialistischen Westen Werte zu vermitteln, die diesem abhandengekommen seien. Der Islam besitzt, lautet der Anspruch, im Unterschied zu den anderen Religionen und Ideologien die für ein gelingendes Zusammenleben unabdingbaren „unveränderlichen Prinzipien“ und „die universellen ethischen Werte, die bereits von den Gesellschaften der ersten Menschen anerkannt und akzeptiert wurden“. Jene „unveränderlichen Prinzipien“ sind in konkrete und menschenverständliche Normen gegossen, die als „Scharia“ überliefert worden sind. Es handelt sich daher mitnichten um Werte, die philosophisch, theologisch, politisch diskutiert werden können, sondern um in der islamischen Tradition vorgegebene Regeln und deren verbindliche Auslegungen. Sie würden „den Staatsgebilden der Menschen einen gewissen Spielraum“ lassen, dürften aber „der Gesellschaft nicht geopfert werden“, betont Gülen. Mit Begriffen wie Recht, Gerechtigkeit, Tugend und Moralität spricht Gülen häufig diese grundlegenden Zusammenhänge an. Auch wo die fünf Grundrechte des Individuums auf „Leben, Glauben, Vernunft, Eigentum und Familie“ angesprochen werden, wird gerade nicht auf unveräußerliche individuelle Menschenrechte Bezug genommen, sondern auf das von der Scharia verbriefte Recht, das Männer und Frauen ungleich behandelt und keine Religionsfreiheit kennt. Das traditionelle Bild der Frau, das dem Mann das Erziehungs- und Züchtigungsrecht über seine Frau zuspricht und Frauen nicht nur erworbene, sondern auch charakterliche Schwächen wie Unzuverlässigkeit und Parteilichkeit zuschreibt, sowie der Frau „das Anrecht auf Respekt“ abspricht, „wenn sie sich unsittlich benimmt“, wird teilweise pragmatisch modifiziert, jedoch nicht grundsätzlich angetastet.

Werden solche Perspektiven eingenommen und für allgemeingültig erklärt, sprechen wir von einem Schariavorbehalt im Blick auf die Akzeptanz demokratischer Verfassungen. Die islamische Religion wird ganzheitlich als Regelsystem für alle privaten und öffentlichen Lebensbereiche verstanden. Denn dieses sei allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen (Teil-)Systemen überlegen. Gülen stellt die Demokratie als menschliche, variable Größe dar. Sie sei defizitär, genauer: entwicklungsfähig und -bedürftig gegenüber der Religion, die „Regeln und Werte für das menschliche Leben“ bereithält. So gibt der Islam in diesem Weltbild die Grundprinzipien vor, denen auch Politik und Gesellschaft folgen müssen.

Heimlicher Einfluss

Natürlich muss in Deutschland den Anhängerinnen und Anhängern Fethullah Gülens wie allen Bürgern Sicherheit, Bürgerrechte und Wahrung des Respekts ohne Einschränkung gewährt werden. Aber es sollte nicht vergessen werden: Inhaltlich steht Gülen Erdogan nach wie vor nahe. Das umfangreiche Gülenschrifttum durchzieht eine programmatische Orientierung an einem konservativ-islamischen Gesellschaftsbild, das in wichtigen Aspekten der Menschen-, insbesondere der Frauenrechte, der Meinungs- und Religionsfreiheit sowie der Trennung von Religion und Staat der Werthaltung der Mehrheitsgesellschaft entgegensteht. Sicher machen sich nicht alle Anhängerinnen und Anhänger die Lehren Gülens in gleicher Weise zu eigen. Die Cemaat, Gemeinde, eine weitere Bezeichnung der Bewegung, ist flexibel, dezentral und pragmatisch. Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz der von Gülen Inspirierten für zeitgemäße säkulare Bildung und für Gülens islamischer Vision für Deutschland und Europa ist jedoch erhebbar und wird weithin unterschätzt. Während die Gülenbewegung in der Türkei bis zum Bruch mit Erdogan zu einem unübersehbaren Machtfaktor wurde, vollzieht sich der Kampf um Macht und Einfluss in Deutschland fast unbemerkt. Die Diskrepanz zwischen dem säkularen Bildungsdiskurs nach außen und dem konservativ islamischen Diskurs nach innen wird wenig beachtet. Es wäre viel gewonnen, wenn die Zugehörigkeit zu einem der zahllosen Gülenvereine transparent gehandhabt und offen kommuniziert werden würde, welche religiös-ideologische Ausrichtung sich hinter den Begriffen „Dialog und Bildung“ versteckt. Religiöse Motivation für das gesellschaftliche Handeln ist völlig in Ordnung – wenn sie klar formuliert und damit diskutierbar ist.

Information

Friedmann Eißler (Hg.): Die Gülen-Bewegung (Hizmet). ezw-Texte 238, Berlin 2015.

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Friedmann Eißler

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Friedmann Eißler

Dr. Friedmann Eißler ist Wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin.


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