Die Reformation war ein europäisches Ereignis. Von ihren ersten Anfängen an trug sie internationalen Charakter. Obwohl diese Aussagen so selbstverständlich klingen, sind sie es in Wissenschaft und Kirche keineswegs. Bis in die jüngsten EKD-Denkschriften hinein wird die Meinung ventiliert, erst durch Calvin habe die Reformation europäische Dimension erhalten. Luther hingegen sei ein rein deutsches Phänomen. Diese nicht zuletzt in der nationalprotestantischen Geschichtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts wurzelnde Meinung widerlegt Thomas Kaufmann nun überzeugend. In seiner neuesten, gut lesbaren, erhellenden und reich bebilderten Publikation widmet sich der Göttinger Kirchenhistoriker nach 2009 abermals der „Geschichte der Reformation“, die er jetzt in ihrer europäischen Gestalt mitsamt ihrer Wirkungsgeschichte beschreibt.
Neben der Dimension des lateineuropäischen Christentums, die Kaufmann in einem ersten Kapitel prägnant und kenntnisreich entfaltet, richtet er sein Augenmerk besonders auf die Rolle der Publizistik im Prozess der Reformation und verschränkt sie mit der europäischen Perspektive. Durch die publizistische Dynamik der Jahre 1518 bis 1521 sei eine reformatorische Bewegung entstanden, die bis 1530 weite Teile Lateineuropas erreicht hätte und zum europäischen Phänomen avanciert sei. Nie zuvor seien die Grundfragen des christlichen Glaubens derart intensiv und kontrovers überdacht worden, wie in jenen Jahren. Diese und weitere Beobachtungen zu den reformatorischen Druckerzeugnissen, den europäischen Vernetzungen des Buchhandels, den mobilen Verbreitungsakteuren sowie den Lesern beschreibt Kaufmann pointiert als einen komplexen, gesamteuropäischen Kommunikationsprozess. Dabei wird er nicht müde zu betonen, dass keiner der reformatorischen Veränderungsprozesse unabhängig von Luther entstanden sei.
Insofern erstaunt es nicht, wenn Kaufmann im zweiten Kapitel die frühe Reformation im Reich bis 1530 skizziert und hierbei mit Martin Luther ansetzt. Es war das Ringen um das Seelenheil, um Erlösung oder Verdammung, welches den Wittenberger Augustinermönch zur befreienden Einsicht in die paulinisch-augustinische Gnadenlehre führte. Fesselnd und akzentreich wird die Geschichte des „um sein Leben“ schreibenden Luthers bis hin zum Wormser Reichstag und Luthers Rückkehr von der Wartburg erzählt, um sodann Zwingli und die Zürcher Stadtreformation sowie die ersten innerreformatorischen Zerwürfnisse und die territorial- und kirchenpolitischen Entscheidungen profilscharf in den Blick zu nehmen.
Im dritten Kapitel stellt Kaufmann die einzelnen Reformationen in Europa bis 1600 vor, indem er nicht nur die politischen Konstellationen souverän einspielt und mit den theologischen Fragestellungen verknüpft, sondern auch die reformatorischen Veränderungsdynamiken bis hin zur Aufwertung der Volkssprachen und vielschichtigen Strategien differenziert in den Blick nimmt. Calvin und die „reformierte Internationale“ werden ebenso lebendig dargestellt wie die Transformationen des römischen Katholizismus durch das Konzil von Trient.
Während eine Geschichte der Reformation üblicherweise hier endet, erweitert Kaufmann sein Werk um zwei Kapitel, die sich einerseits dem Verhältnis von Reformation und neuer Zeit, andererseits der Wahrnehmung der Reformation in der Neuzeit kritisch widmen. Vom Zeitempfinden der Reformatoren als einer „beschleunigten Zeit“ wird der Bogen zu den Impulsen der Reformation auf die westliche Moderne gespannt und hierdurch eine eigenständige Wirkungsgeschichte der Reformation bis hin zum „globalen Protestantismus“ vorgelegt. Die Memorialkultur der Reformationsjubiläen und die Reformations- und Lutherforschung finden ebenfalls orientierende Erwähnung. Abgerundet wird das von Kaufmann augenzwinkernd als „verwegener Akt“ beschriebene Buch durch ein engagiertes Statement für den Zauber des frühreformatorischen Anfangs, an den es über 2017 hinaus anzuknüpfen gelte.
Christopher Spehr
Christopher Spehr
Dr. Christopher Spehr ist Professor am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.