Hinter dem Vorhang

Warum die Theologie sich mehr mit der Nahtodforschung beschäftigen sollte
Berichte von der Grenze zum Tod sind keine reinen Jenseitsvisionen. Foto: dpa/ Susan Dykstra
Berichte von der Grenze zum Tod sind keine reinen Jenseitsvisionen. Foto: dpa/ Susan Dykstra
Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt sich die Nahtodforschung mit Erlebnissen, die Menschen an der Schwelle zum Tod gemacht haben. Doch in der evangelischen Theologie finden ihre Ergebnisse kaum einen Niederschlag. Werner Thiede, der an der Universität Erlangen-Nürnberg Systematische Theologie lehrt, hält das für einen Fehler und fordert eine Abkehr von der herrschenden Ganztod-Theologie.

Vor rund vier Jahrzehnten hat sich die interdisziplinäre Erforschung von Erfahrungen in unmittelbarer Todesnähe international etabliert. Populär gemacht haben die Thematik allen voran Ärzte wie Elisabeth Kübler-Ross, Raymond Moody, Maurice Rawlings und Michael Sabom. Aber auch Theologen standen nicht abseits. So veröffentlichte Johann Christoph Hampe bereits 1975 in Deutschland den Bestseller „Sterben ist doch ganz anders. Erfahrungen mit dem eigenen Tod“. Dieses Buch wandte sich explizit gegen die sogenannte Ganztod-Theologie, die im frühen 20. Jahrhundert aufgekommen war und vor allem im Protestantismus die Lufthoheit erringen konnte. Sie geht davon aus, dass es keine unsterbliche Seele oder dergleichen gibt und der Mensch erst am Jüngsten Tag aus Gottes Erinnerung heraus wieder auferweckt werden wird. Trotz Hampes Erfolg – sein Buch erlebte zahlreiche Auflagen und wurde auch für die amerikanische Leserschaft übersetzt – und ungeachtet der intensiven weiteren Forschung in verschiedenen Ländern hat sich im deutschen Sprachraum bis heute kaum etwas an der Vorherrschaft der Ganztod-Theologie geändert. Im Gegenteil: Gerade diese Vorherrschaft hat dazu beigetragen, dass die religiös eigentlich brisante Thematik von spontanen visionären Erfahrungen an der Todesgrenze und ihre systematische wissenschaftliche Beleuchtung auf theologischem Sektor überraschend wenig berücksichtigt worden ist. Und wo das vereinzelt doch geschah, behielt meist die skeptische Sicht die Oberhand – kraft Übernahme jenes weltanschaulich auf den Ganztod festgelegten Forschungsstandpunktes, der sich innerhalb der internationalen Diskussionen selbstverständlich auch findet, kenntnisreich vertreten namentlich durch Susan Blackmore und den Ethnologen Hans Peter Dürr.

Wie wenig überzeugend die radikal-skeptische Deutungsposition mit ihren hier nicht näher zu erörternden Argumenten bei gründlicher Betrachtung des bisherigen Forschungsstandes der Thanatologie, also der Wissenschaft von Tod und Sterben, ist, zeigt J. Steve Miller in seinem Buch „Erkundung der Ewigkeit“ (2012). Klar ist, dass beim Thema Tod und namentlich auch bei der Befassung mit Grenzerfahrungen in unmittelbarer Todesnähe immer Glaubens- und Weltanschauungselemente bei Herangehen, Deutung und Darstellung einfließen. Auf Grund dieser Grundeinsicht erklärt sich zum einen die verkürzende Wahrnehmung der merkwürdigen Spontanphänomene im Umfeld von Tod und Sterben seitens der Radikalskeptiker. Zum andern versteht sich von daher, dass dieses Themenfeld zum Einfallstor von religiösen, esoterischen und sektiererischen Interpretationen werden konnte. Auch sie verdienen entsprechend kritische Reflexion.

Aber wer sich dem spannenden Gebiet möglichst unvoreingenommen zu nähern versucht, muss die Hypothese gelten lassen, dass der Tod möglicherweise nicht den totalen Abbruch bedeutet. Gerade die theologische Tradition hat in dieser Hinsicht fast immer und überall für eine Kontinuität im Tod und Jenseits des Todes votiert. Das war in der Alten Kirche ebenso der Fall wie bei den Reformatoren und später noch bei den moderneren Theologen des 18. und 19. Jahrhunderts. In diesem Sinn war das breitflächige Umdenken, ja Umkippen zur Schulrichtung der Ganztod-Theologie im protestantischen Abendland eine Abkehr von einer langen Glaubenstradition. Sie widersprach nicht nur theologischen Grundeinsichten vieler Jahrhunderte, sondern auch der modern formulierten psychologischen Erkenntnis Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs, dass der Mensch in den Tiefen seines Seelenlebens sich selbst keineswegs sterblich denkt. Zu den indirekten Folgen der durch die Ganztod-Theologie geprägten kirchlichen Verkündigung zählte seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wachsende Hinwendung der Bevölkerung zur Esoterik inklusive nichtchristlichem Seelenwanderungsglauben und eine verstärkte Abkehr von kirchlicher Spiritualität. War doch die Ganztod-Theologie kaum die Frucht einer wichtigen theologischen Einsicht, die all den früheren Zeiten gefehlt hätte, sondern eher ein nur scheinbar notwendiger Tribut an die Säkularisierung der westlichen Kultur.

Die breit gefächerte Erforschung und populäre Darstellung von visionären Erfahrungen in Todesnähe konnte nur deshalb auf so breites, internationales und anhaltendes Interesse stoßen, weil hier berechtigte Fragen der Vernunft – so würde es Immanuel Kant ausgedrückt haben – und ein grundseelisches Bedürfnis wenigstens ansatzweise Antwort erhielten. In einer Zeit, da selbst Kirchenleute Zweifel an der ur-christlichen Botschaft von der leiblichen Auferweckung Jesu äußern, ist es angebracht, dass sich gerade auch Theologie und Kirche neu berühren und inspirieren lassen von den Hoffnungsbildern aus Todesnäheerfahrungen, die den Tod – in freilich immer noch geheimnisvoller Weise – transparent werden lassen.

Mit Blick auf diese besonderen Erfahrungen sprach schon der dänische Domprobst von Roskilde Hans Martensen-Larsen (1867–1929) im Titel eines mehrbändigen Werkes vom „Schimmer durch den Vorhang“ . Die betreffenden Visionen und Auditionen enthalten in ihrem Verlauf oft selber Grenzbilder: Da taucht etwa ein großes Tor in einer Mauer auf, durch dessen Ritzen Licht und wunderbare Musikklänge dringen, oder ein breiter Fluss, der die zur Begrüßung gekommenen Verstorbenen (und es pflegen da stets nur bereits Verstorbene zu kommen, nie etwa noch Lebende wie in Träumen) von dem Neuling noch trennt. Allein dieser Umstand, dass Bilder, Symbole und auch Dialoge immer wieder von der Grenzsituation als solcher zeugen, verdeutlicht hinreichend, dass selbstverständlich immer noch kulturelle und lagebedingte individuelle Informationsanteile in das Geschaute eindringen, es mit formen. Um reine, klare Jenseitsvisionen kann es sich insofern definitiv nicht handeln – wohl aber möglicherweise doch um einen Schimmer durch den Vorhang, um eine Andeutung von überraschender Kontinuität im radikalen Umbruch.

Christliche Theologie sollte solche Kontinuität mitnichten überraschend finden, sondern sie vielmehr auf Grund der in Jesus Christus offenbarten Liebe und Treue des Schöpfer- und Erlösergottes erwarten, der den Menschen zugetan ist und bleibt, auch wenn sie seine Feinde waren. Zwar ist der Tod der Sünde Sold und darum auch das unerlässliche Ende des Daseins in einer von Gott entfremdeten Welt. Dennoch spricht das Evangelium davon, dass der Gekreuzigte den Sold der Sünde stellvertretend entrichtet hat. Luther hat gerade von daher die These entwickelt, dass die Toten mitnichten mausetot, sondern Schläfer bis zum Jüngsten Tag seien – Raum und Zeit entnommen, vielleicht aber so oder so träumend.

Unsterblichkeit als Dogma

Es gibt bekanntlich auch andere theologische Denkmodelle hinsichtlich des Zustands, in dem sich die Toten bis zur Auferstehung, der Vollendung der gesamten Schöpfung befinden. Namentlich mit Blick auf die Getauften war aber schon immer klar, dass sie keineswegs in einer Art Ganztod bis auf Weiteres vernichtet, sondern in Christus geborgen, jedenfalls „des Herrn“ sind, wie der Apostel Paulus versichert. In der Verbindung mit ihm werden sie „nimmermehr sterben“, heißt es in Johannes 11. Auch anderen Toten werde das Evangelium gepredigt, erklärt der Erste Petrusbrief. Mit guten Gründen hat die katholische Kirche 1513 die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele zum Dogma erhoben. Auf dem Hintergrund der theologisch weithin selbstverständlichen, christologisch durchaus fundierten Kontinuitätsannahme sollten spontane, bewusstseinserweiternde Erfahrungen in unmittelbarer Todesnähe mit ihren anschaulichen Hinweisen auf eine sich ankündigende Transzendenz im Tod, von Theologie und Kirche keineswegs als abwegig und obsolet eingestuft werden – freilich auch nicht direkt als Offenbarungen.

Der Mathematikprofessor Günther Ewald hat Theologie und Kirche in mehreren Publikationen engagiert nahelegt, Todesnäheerfahrungen und Religiosität enger aufeinander zu beziehen, nämlich die Visionen auf der Todeslinie in „eine christliche Religiosität“ zu integrieren und dadurch letztere zu erneuern. Auch die neueste theologische Veröffentlichung zum Thema hierzulande von Herbert Koch deutet „Nahtod-Erfahrungen als Herausforderung für die Theologie“. Beide Autoren gehen aber in nicht unproblematischer Weise auf biblische Stoffe ein, die sich keineswegs so einfach mit den Grenzerfahrungen in unmittelbarer Todesnähe kombinieren lassen.

Schon 1979 hat Wolfgang Behnk in einer Studie herausgearbeitet: Bei den spontanen Todesnäheerfahrungen und in der Kreuzesbotschaft geht es beide Male um die Anwesenheit Gottes im Tod. Der Unterschied zwischen beiden Perspektiven wird sodann prägnant benannt: Während die Christusoffenbarung vom Tod Jesu ausgeht und festhält, dass der Auferstandene über Tote und Lebendige Herr ist, gründet die auf Nahtoderfahrungen basierende Sichtweise auf „einer natürlichen mystisch-synkretistischen Theologie“. Solcher „Erfahrungsmystik mit ihren beinahe gnostischen Zügen“ wirft der evangelische Theologe vor, sich letztlich wissend über die biblische Offenbarung zu stellen. Entschieden tritt er Ansprüchen von Elisabeth Kübler-Ross oder Martin Ebon entgegen, die einschlägigen Erfahrungsberichte seien postmortaler Natur und entsprechend beweiskräftig. „Theologische Relevanz“ spricht Behnk seriöser Todesnäheforschung dabei keineswegs ab: Er weiß um die Bedeutung der Frage einer Kontinuität im Tod für die religiöse und weltanschauliche Orientierung des Menschen, der in seinem Sein zum Tode eine seine Identität garantierende Unsterblichkeit ersehnt. Von daher resümiert er, dass zwar einerseits ein Todesnäheerlebnis „durchaus als von Gott geschenkte tröstliche Erfahrung im Glauben dankbar angenommen werden darf, dass aber andererseits auch solche tröstliche Erfahrung ... der Bestätigung und kritischen Begrenzung und Korrektur von Seiten der in der Schrift bezeugten Christusoffenbarung her untersteht.“

Behnk sieht also immerhin eine relative Relevanz der Nahtodesforschung für die christliche Eschatologie als gegeben an. Diese Ansicht teilt auch Herbert Koch im Jahr 2016, und ich selbst teile sie ebenfalls, nachdem ich mich etliche Jahre hindurch intensiv mit der Materie befasst habe. Es gilt, die hoffnungsstärkenden Indizien der spontanen Nahtod- und Sterbebett-Erfahrungen weiter interdisziplinär zu erforschen, konstruktiv-kritisch zu deuten und darum endlich auch verstärkt theologisch aufzunehmen – jenseits von bornierter Skepsis, von sektiererisch-esoterischer Vereinnahmung und von schultheologischer Verkürzung.

Werner Thiede

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