Übung mit Energie

Das Gebet ist eine Grundhaltung christlichen Lebens
Oft gehören zum Gebet bestimmte Körperhaltungen. Foto: epd/ Paul Jeffrey
Oft gehören zum Gebet bestimmte Körperhaltungen. Foto: epd/ Paul Jeffrey
Beten hat viele Gesichter. Es geht um Lob und Dank, um Bitte und um Klage. Es gibt vom kurzen Stoßseufzer bis zu sehr elaborierten Formen alles. Johanna Lunk, Pfarrerin im fränkischen Schwarzenbach an der Saale, hat über das persönliche Gebet promoviert und gibt einen Überblick.

"Da hilft nur noch beten.“ Wenn dieser Satz fällt, ist jemand mit seiner eigenen Weisheit am Ende. Er gesteht sich ein, dass er das Leben letztlich nicht selbst in der Hand hat. In seiner Verzweiflung wendet er sich an eine Macht, die möglicherweise mehr vermag als er selbst.

Dort, wo die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens deutlich wird, neigen sogar ungläubige Menschen zu gebetsähnlichem Verhalten. Das gilt nicht nur für negative Grenzerfahrungen. Auch die Bewahrung in Gefahr oder ein unverhoffter Glücksmoment kann zu einem spontanen Stoßgebet führen: „Gott sei Dank“. Manche sehen daher im Gebet ein Grundphänomen menschlichen Daseins.

Im christlichen Kontext findet im Gebet die Beziehung zwischen Gott und Mensch ihren Ausdruck. Damit umfasst das Gebet sehr viel mehr als Spontanhandlungen in Grenzsituationen. Weit gefasst ist es die Grundhaltung christlicher Existenz. Und um diese lebendig zu halten, ist eine regelmäßige Gebetspraxis hilfreich.

Am häufigsten wird das Gebet als Gespräch zwischen Gott und Mensch beschrieben. Als Antwort auf Gottes Zuwendung in Wort und Sakrament bringen Betende in freier Rede oder überlieferten Gebetstexten vor Gott, was sie bewegt. Es kann hörbar gesprochen oder gesungen werden, aber auch leise, inwendig geschehen. Oft werden mit dem Gebet Körperhaltungen verbunden, wie das Falten der Hände oder das Knien. Darüber hinaus bestehen nonverbale Formen. In Gebärden oder im Tanz braucht das Gebet nicht zwingend Worte.

Die christlichen und auch biblisch-belegten Grundformen des Gebets sind auf der einen Seite Lob und Dank und auf der anderen Seite Bitte und Klage. In den ersten beiden Grundformen findet das Gefühl des Beschenktseins einen Ausdruck, in den anderen beiden das Gefühl der Bedürftigkeit und des Mangels. Im Rahmen von christlichen Gebetslehren wird immer wieder diskutiert, ob einer der beiden Seiten der Vorzug zu geben ist. Die einen stufen Lob und Dank als die Hingabe an Gott höher ein, da sich hier der Betende selbst zurücknimmt und in letzter Konsequenz ganz in den Willen Gottes fügt. Andere schätzen mit Hinweis auf Lukas 18,9ff. (...?„Der Pharisäer dankt, der Zöllner bittet.“?...) die Bitte als die demütigere und damit wertvollere Gebetsform ein. Biblisch gesehen gehören beide Seiten zur Gebetspraxis. In der Spannung, die sie hervorbringen, spiegelt sich das widersprüchliche Grundempfinden menschlicher Existenz, das es auszuhalten gilt. Beide Seiten sind daher als gleichberechtigt anzusehen.

In ähnlicher Weise gibt es eine Spannung zwischen der freien Gebetssprache und der Verwendung geprägter Texte. Wer frei betet, bringt seine Wünsche, Sorgen und Ängste ungefiltert vor Gott. Freie Rede kann aber auch ins Plappern (Matthäus 6,7) abdriften, so dass der Betende mehr um sich kreist als sich wirklich auf Gott hin öffnet. Hier kann ein geprägter Text hilfreich sein, der einem Worte schenkt, mit denen schon viele vorher gebetet haben. Umgekehrt haben geprägte Texte den Nachteil, dass sie formelhaft wirken können und sich ein Betender in ihnen nicht wiederfindet. Auch hier wird deutlich: Beide Formen haben ihre Berechtigung und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Erfahrung im Glauben

Die eben dargestellten Spannungen beziehen sich in erster Linie auf Gebetsinhalte und -formen. Bereits hier zeigt sich, dass sich das Gebet nicht eindimensional definieren lässt. Das Gebet ist eine Erfahrung im Glauben und kann daher denkerisch nie ganz erfasst werden.

Das wird noch deutlicher, wenn man von einer theoretischen Reflexion etwas Abstand nimmt und zu erforschen versucht, was Menschen empfinden oder erleben, wenn sie beten. Umfragen der letzten Jahre haben gezeigt, dass mindestens die Hälfte der Deutschen betet. Die Unterschiede zwischen West und Ost sind hier nach wie vor sehr groß: Während im Westen 24 Prozent sagen, dass sie nie beten, sind es im Osten 67 Prozent. Von denen, die beten, schätzt etwa ein Viertel das persönliche Gebet als häufig ein. Diese Zahlen zeigen, dass das Gebet mehr Relevanz hat als oft vermutet, aber sie geben keinen Aufschluss darüber, wie Menschen beten und was sie dabei bewegt. Qualitative Erhebungen können hier Abhilfe schaffen, sie gewähren einen tieferen, wenn auch nicht umfassenden Einblick in das Gebetsleben einzelner Menschen.

Mit Ausnahme von denjenigen, die sich eng an eine Kirche oder Glaubensgemeinschaft gebunden fühlen, halten sich Betende meist nicht an eine bestimmte Gebetslehre und überprüfen die eigene Praxis auch nicht an einer solchen. Betende schöpfen in der Regel aus den Erfahrungen, die sie selbst im Laufe ihres Lebens mit dem Beten gemacht haben und entwickeln daraus – meist unbewusst – ihre ganz eigenen Gebetsauffassungen.

In einer Kirchengemeinde können ganz unterschiedliche Gebetstypen vereint sein: Da kann es zum Beispiel einen geben, der evangelikal geprägt wurde, freie Gebetssprache bevorzugt und jedwede Form von Yoga als Anbetung fremder Götter erachtet. Daneben betet eine ältere Dame mit Freude Liedverse aus dem Gesangbuch und spricht in ihrem freien Gebet aber nicht nur zu Gott, sondern auch zu Engeln. Da sind Menschen, die sich wöchentlich einmal zu einem Gebetskreis versammeln, und andere, die vermutlich nur im Sonntagsgottesdienst beten. Betende behalten die Deutungshoheit über ihr Gebet. Manche betonen sogar explizit, dass sie auch ohne Kirche – respektive Gottesdienst – beten können.

Dennoch hat auch das individuell geprägte Gebet ein kollektives Moment: Niemand erhält seine Gebetserfahrungen und seine Kenntnisse über das Gebet aus sich selbst. Die ersten Gebetserfahrungen macht jeder Mensch in Gemeinschaft mit mindestens einem anderen Menschen. Dabei kann es sich um ein Familienmitglied handeln oder um die Erzieherin im Kindergarten und einen Pfarrer im Gottesdienst. Die Gebetspraxis des Einzelnen und ihre Deutung sind ganz wesentlich geprägt durch Vorbilder im Glauben. Vor allem die Gute-Nacht-Gebete, die mit Kindern abends im Bett gebetet werden, haben auf verschiedene Weise Einfluss auf das Gebet des Erwachsenen.

Bei aller Individualität in den Gebetsauffassungen gibt es natürlich auch Aspekte, die allgemein zutreffen: Die Atmosphäre, in der Gebet stattfindet, ist mindestens genauso prägend für ein Gebetsleben wie das Hineinfinden in eine Gebetssprache. Darüber wird deutlich, dass das Gebet neben einer kognitiven immer auch eine sinnliche und körperliche Komponente hat. Konkrete Plätze in der Natur oder im eigene Zuhause, aber auch Kirchenräume werden als Orte genannt, die das Gebet fördern.

Die Frage nach der Gebetserhörung, die Religionskritiker heranziehen, um das Gebet als Ausdruck mangelnder Aufgeklärtheit darzustellen, stellt für Betende kaum ein Problem dar. Viele erwarten keine konkreten Gebetserhörungen. Sie fühlen sich vielmehr durch das Gebet gestärkt, bekommen Kraft für den neuen Tag oder Unterstützung in einer schwierigen Situation. Manchen schenkt eine bewusste Gebetszeit Ruhe. Im Gebet werden Betende daran erinnert, dass nicht alles von ihnen abhängt, was wiederum dazu beiträgt, mit der Unverfügbarkeit des Lebens besser zurechtzukommen.

Vom Gebet als einer Lebenseinstellung wird kaum gesprochen. Bei Betenden aus dem freikirchlichen Bereich oder auch bei kirchlichen Mitarbeitern findet man häufiger ein ritualisiertes Gebetsverhalten: ein Gebet zu einer festgelegten Tageszeit, manchmal verbunden mit einer Bibellese oder einer Gebetsstille. Viele andere beten hingegen situationsabhängig. Dabei liegt das Bittgebet meist näher als das Dankgebet. Es gibt durchaus ein Bewusstsein dafür, dass eine regelmäßige Gebetspraxis gut tun würde, aber dennoch pflegen viele das Gebet nur in schweren Zeiten. Sie erleben es dann als eine Energiequelle. Die Unverfügbarkeit des Lebens wird im Mangel offensichtlich deutlicher als im Überfluss. Mit ihren Anliegen im persönlichen Bittgebet bleiben die Betenden meist in ihrem persönlichen Umfeld. Es geht um Hilfe in konkreten, schwierigen Situationen oder um das Wohl von nahestehenden Menschen. Gesellschaftliche oder politische Themen werden außen vor gelassen. Das mag christlichen Gebetslehren auf den ersten Blick entgegenstehen, die von Betenden einen Blick über den eigenen Tellerrand erwarten. Ritualtheoretisch ist das aber wenig verwunderlich: Der Zuständigkeitsbereich für das private Gebet ist die nächste Umgebung. Die Zuständigkeit für Gesellschaft und Gemeinde wird hingegen auf das Gebet im Gottesdienst als Teil eines öffentlichen Rituals übertragen.

Notwendige Reflexion

Auch wenn Betende keiner bestimmten Gebetslehre oder -theologie folgen und ihr persönliches Gebet bisweilen sogar ganz bewusst von dem der Kirche abgrenzen, braucht die persönliche Gebetsauffassung doch Nahrung von außen. Neben dem Bedürfnis nach Deutungshoheit über das eigene Gebet besteht auch das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Schon allein deshalb bleiben die theologische und kirchliche Reflexion über das Gebet wichtig. Geht man davon aus, dass das Gebet in den Familien nicht mehr in dem Maß vermittelt wird, wie es einmal der Fall war, bleiben die Kirchen neben anderen Glaubensgemeinschaften die einzigen Vermittler des Gebets. Die kirchlichen Angebote bilden dann die Folie, an der sich einzelne Betende reiben oder die ihre Gebetspraxis bereichern kann. Im besten Fall bieten sie Menschen die Möglichkeit, sich Formen zu erschließen, die ihnen helfen, mit dem Unverfügbaren im Leben umzugehen.

Offene Kirchen

Damit kommt den Kirchen die Verantwortung zu, weiterhin Räume anzubieten, in denen das Gebet erlebbar ist. Das kann ganz wörtlich umgesetzt werden: Offene Kirchengebäude oder Andachtsräume laden zu Momenten der Stille ein. Gebetswände und Gebetskerzenständer eröffnen die Möglichkeit, das Gebet mit einer Handlung zu unterstützen. Ein Kerzenritual kann für Kinder eine sehr ansprechende Weise sein, um mit dem Gebet in Berührung zu kommen. So wie auch eine lebendige Gebetspraxis in kirchlichen Kindertageseinrichtungen nicht zu unterschätzen ist. Bisweilen bringen Kinder das Tischgebet, das sie dort erleben, in den Familienalltag ein und bestehen auch zuhause darauf.

Dort, wo es konfessionellen Religionsunterricht gibt, sollten in diesem nicht nur über das Gebet gesprochen, sondern auch Räume eröffnen werden, in denen Schülerinnen und Schüler verschiedene Gebetspraktiken kennenlernen und ausprobieren können.

Pilgern und Auszeiten in Klöstern oder geistlichen Gemeinschaften haben einen starken Zulauf. Hier können Erwachsene wieder zum Gebet finden oder auch im Rahmen von Kursangeboten ihr Gebetsleben bereichern. Das öffentliche Gebet sollte seine Zuständigkeit für Anliegen in Gesellschaft und Gemeinde wahrnehmen. Gottesdienstbesucher, die nur hier zum Gebet finden, brauchen zusätzlich auch Gebetsphasen, in denen sie im Stillen eigene Anliegen anbringen können. Grundsätzlich sollte das öffentliche Gebet so beschaffen sein, dass es die verschiedenen Dimensionen menschlichen Lebens in all ihren Widersprüchen einbezieht.

Sinnlichkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten in den protestantischen Kirchen an Stellenwert gewonnen. In Vergessenheit geratene Gebets- und Meditationsformen sind wiederentdeckt und wiederbelebt worden. Da offenbar bei vielen Menschen nach wie vor Anknüpfungspunkte für das Gebet vorhanden sind, wäre es – für Einzelne wie auch für die Kirchen – lohnend, weiterhin Energie in den Bereich der Gebetseinübung zu geben.

Literatur

Johanna Lunk, Das persönliche Gebet – Ergebnisse einer empirischen Studie im Vergleich mit praktisch-theologischen Gebetsauffassungen, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2014. 336 Seiten, Euro 48,–.

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Johanna Lunk

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