Frieden und Wohlstand
Ja, wir haben ein Problem: Zur Zeit ist nicht mehr auszuschließen, dass die Europäische Union (EU) scheitert. Zumindest besteht die Gefahr, dass das europäische Integrationsprojekt soweit werte- und sinnentleert wird, das von der Idee einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Artikel 1 des EU-Vertrags) nicht mehr viel übrigbleibt. Dies aber darf nicht geschehen, weil allzu viel auf dem Spiel steht: Europas innerer und äußerer Frieden, seine Werte, sein Wohlstand, seine Zukunfts- und Überlebensfähigkeit. Darum muss ein Ruck durch Europa gehen, damit alle die Unverzichtbarkeit der EU erneut begreifen.
Derzeit verwendet Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den treffenden Begriff der „Polykrise“ zur Lagebeschreibung der EU. In diesem aktuellen mehrfachen und vielschichtigen Krisenkontext wird offensichtlich, wie brüchig und wenig belastbar die Fundamente des gemeinsamen Hauses Europa geworden sind, wie dünn und oberflächlich der Firnis der europäischen Einigung. Unter dem Ansturm der über die EU hereingebrochenen Krisen – Staatsschulden- und Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Terroranschläge und internationale Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft Ukraine und Naher Osten – zerbröseln die höchsten Güter der EU: Solidarität, gegenseitiges Vertrauen und die Akzeptanz des Einigungsprojektes durch die Bürger. Dieser Zerfall zeigt sich daran, dass an innereuropäischen Grenzen des Schengenraums wieder Schlagbäume niedergehen und manche EU-Staaten ihrer Pflicht nicht nachkommen wollen, Kriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren. Dies zeigt sich auch am Beispiel Großbritanniens, das am 23. Juni 2016 darüber abstimmen wird, ob es künftig sein Heil außerhalb der EU sucht und einen Brexit wagen will.
Erfolge der Populisten
Die aktuelle Misere der EU drückt sich am gravierendsten aber im Wahlverhalten vieler ihrer Bürger aus. Nachdem schon nach den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 europaskeptische und offen europafeindliche Gruppierungen nach Straßburg gelangt sind, verbuchen rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien bei nationalen Wahlen seither wachsende Erfolge. Das gilt – um nur die großen Länder zu nennen – für Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und mit dem Aufstieg der AfD nun auch für Deutschland. All diese Wähler glauben nicht (mehr) daran, dass Europa ihnen nützt, Sicherheit, Wohlstand und ein besseres Leben bringt. Vielmehr sehen sie sich als Verlierer und setzten auf die grobschlächtigen Parolen von Abschottung, Renationalisierung und Fremdenfeindlichkeit als Antworten auf die heutigen, hochkomplexen Problemlagen. Mit ihrer massiven Abwendung von der EU tragen diese Wähler substanziell zur Schwächung des Einigungsprojektes bei und zugleich auch zur Gefährdung rechtsstaatlicher Grundregeln, wie in Ungarn und Polen zu beobachten ist.
Der ursprünglich aus vertrackten innenpolitischen Gründen entstandene Flirt Großbritanniens mit einem Brexit steht exemplarisch für eine Positionierung, die derzeit wieder vermehrt Anhänger findet: Mit dem Verweis auf die Schweiz und Norwegen, die auch als Nicht-EU-Mitgliedstaaten in der internationalen Wirtschaftskonkurrenz gut dastehen, plädieren viele britische Politiker und Bürger für einen nationalen Alleingang, der als Chance stilisiert wird. Sich von den Verpflichtungen eines EU-Mitgliedstaates zu befreien, wird als Vorteil und die Mitgliedschaft als vielschichtiges, vor allem wirtschaftliches Hemmnis interpretiert und als politische Unterwerfung unter „Brüssel“, die die britische Souveränität untergrabe. Diese Einstellung ist in Großbritannien weit stärker verbreitet als in den anderen EU-Staaten, wie die Ergebnisse einer Standardfrage des Eurobarometers regelmäßig zeigen. So antworteten die Briten auf die Frage: „Wäre unser Land besser für die Zukunft gerüstet, wenn es nicht Mitglied der EU wäre?“ im Herbst 2015 zu 47 Prozent mit „stimme zu“. In Deutschland gaben nur 30 Prozent der Befragten die gleiche Antwort, in Frankreich 32 Prozent und in Italien 39 Prozent (Eurobarometer 84).
Die in Großbritannien weit verbreitete Interpretation des Brexit als Chance geht von der Vorstellung aus, man könne auch als Nicht-EU-Mitglied ohne Abstriche uneingeschränkt von den Vorteilen des gemeinsamen Binnenmarktes profitieren. Doch hier irren die Brexit-Befürworter grundlegend: Weder ist garantiert, dass Großbritannien nach einem Austritt zollfreier Zugang zu den verbleibenden EU-Märkten gewährt wird, noch, dass das Land für ausländische Investoren so attraktiv bleibt wie bisher. Es könnten drei bis vier Millionen Arbeitsplätze gefährdet werden, meint der Labour-Abgeordnete Chuka Umunna jüngst in der Süddeutschen Zeitung. Die größte Herausforderung nach einem Brexit würde aber in der Notwendigkeit bestehen, mit zahlreichen Drittstaaten neue Handelsabkommen zu schließen. Kann Großbritannien darauf zählen, ähnlich vorteilhafte Konditionen zu erzielen wie die EU als weltweit größte Handelsmacht? Hier sind ernste Zweifel angebracht. Der Brexit könnte daher „ein Sprung ins Leere“ werden, meint der bekannte britische Ökonom und Publizist Martin Wolf. Und nicht einmal Beiträge zum EU-Haushalt könnten die Briten sich sparen, wie ein Blick auf die Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), zum Beispiel Norwegen, zeigt: Das Land entrichtet beträchtliche Summen an die EU beziehungsweise an besonders zuwendungsbedürftige Mitgliedstaaten.
Zum Alptraum könnte der Brexit auch mit Blick auf den angestrebten Wiedergewinn nationaler Souveränität werden. Denn auch ein Nicht-EU-Großbritannien wird in hohem Maße vom EU-Markt abhängig bleiben, der heutzutage rund 50 Prozent der britischen Exporte aufnimmt. Als Nicht-mehr-EU-Mitglied aber wird London am Setzen der Regeln nicht mehr teilhaben. Sieht so ein Zugewinn an britischer Souveränität aus? Schließlich muss sich die Ex-Weltmacht fragen lassen, wie sie sich die außenpolitische und internationale Rolle des Nicht-mehr-EU-Mitglieds Großbritannien vorstellt. Zweifelsohne lehrt uns der Aufstieg neuer Mächte wie China, Indien, Brasilien et cetera seit Jahren, dass die vergleichsweise kleinen, in einem tiefgreifenden demographischen Wandel begriffenen europäischen Staaten nur gemeinsam und geeint eine Zukunft haben und die internationale Politik noch mitgestalten können. Ist den Briten der außenpolitische Kompass abhandengekommen? Geben sie sich Illusionen über den heutigen Stellenwert ihrer sogenannten special relationship zu den USA hin oder gar über die Tragfähigkeit des Commonwealth? Mutmaßlich nicht wirklich – und deshalb gibt es durchaus Hoffnung, dass die pragmatischen Briten am 23.Juni für einen Verbleib in der EU votieren werden.
Doch selbst wenn es nicht zum Brexit kommt, ist für die EU ein simples „Weiter so“ keine Option. Denn dann gilt der Britanniendeal, den der Europäische Rat Mitte Februar beschlossen hat, und der die Sonderstellung des Vereinigten Königreichs ausweitet, insbesondere durch das Zugeständnis, dass Großbritannien „nicht zu einer weiteren politischen Integration in die Europäische Union verpflichtet ist“. Damit ist das Gründungsziel, eine „immer engere Union der Völker Europas“ zu schaffen, offiziell aufgegeben und die EU substanziell verändert.
Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, empfahl EU und Großbritannien kürzlich in der Süddeutschen Zeitung eine „Paartherapie“, um das drohende Desaster eines Brexit noch zu vermeiden: Wie in jeder lieblosen Ehe müssten beide Seiten ihre Ansprüche verändern und Kompromisse eingehen: „Die derzeitigen Visionen Europas – Brüssels Ansatz einer engeren politischen Union und die britische Idee von der EU als bessere Freihandelszone – sind unhaltbar.“ Snower möchte, um den europäischen Traum zu verwirklichen, die politische Integration durch eine soziale Integration ergänzen. Damit bleibt jedoch umso dringlicher die Frage, wer von den EU-Mitgliedstaaten und Völkern Europas überhaupt noch einen europäischen Traum träumt.
Die riesigen Herausforderungen dieser Polykrise verlangen nach starken und klaren Antworten. Diese müssen sowohl von den Brüsseler als auch den einzelstaatlichen europapolitischen Akteuren kommen. Auf EU-Ebene muss bei der Verteidigung der Grundwerte und -prinzipien ein entschiedenerer, härterer Kurs eingeschlagen werden. So ist das kürzlich eingeleitete Rechtsstaatsverfahren gegen Warschau zu begrüßen. Und auch Budapest sollten derart die Grenzen aufgezeigt werden. London muss im Angesicht der Brexit-Option so manche Illusion genommen werden. Paris, Rom, Madrid, Lissabon und Athen muss Brüssel verdeutlichen, dass Maastrichtkriterien und Fiskalpakt auch für sie gelten. Und Berlin ist klarzumachen, dass niemand ein deutsches Europa will, weder in Sachen Austerität noch Flüchtlingspolitik. Insgesamt müssen die EU-Institutionen selbstbewusster und entschlossener auf die Einhaltung der gemeinsam gesetzten Regeln bestehen und, wenn nötig, auch mal die Zähne zeigen – beispielsweise bei der Realisierung der Flüchtlingsverteilung und der Subventionsvergabe.
Wesentlich mehr noch als die Zentrale in Brüssel müssen aber die 28 Mitgliedstaaten etwas tun, um die EU zu stärken und bei den Bürgern wieder Akzeptanz und Vertrauen für Europa zu schaffen. So müssen Osteuropäer und Balten endlich verinnerlichen, wem sie beigetreten sind: Keiner verkappten Sowjetunion, sondern der antihierarchischen Europäischen Union, die von allen mitgestaltet werden will. Auch die Südeuropäer müssen sich mehr einbringen. Angesichts der Geschichte und Struktur der EU sind Frankreich und Deutschland als unersetzlicher Motor der Integration besonders gefordert. Aber ihre tradierte Rolle muss sich ändern: Auch jenseits ihrer nützlichen, letzthin jedoch kaum mehr ausgefüllten Funktion als Ideengeber und Vorreiter der EU müssen sie Neues wagen.
Zwei große Tätigkeitsfelder bieten sich an: So müssen Berlin und Paris bei der Schaffung effizienterer Führungsstrukturen der EU vorangehen. Es muss Schluss sein mit dem Konkurrenzkampf zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten, der meist zu Lasten der EU ausgeht. Vielmehr gilt es, neue Formen der Kooperation und Arbeitsteilung zwischen den EU-Institutionen und den nationalen Hauptstädten zu finden, die die unterschiedlichen Potenziale besser verknüpfen und Synergien zum Vorteil der EU schaffen. Vorbilder lassen sich bereits in Europas Außenpolitik finden, nämlich die Tandem-, Triumvirats- oder Quadriga-Auftritte mancher Außenminister.
Zweitens müssen Deutschland und Frankreich eine groß angelegte Debatte zum Thema „Warum und wozu Europa?“ entfachen. Sie werden dabei für jede Hilfestellung aus weiteren Mitgliedstaaten aufgeschlossen und dankbar sein. Denn vielen EU-Bürgern ist das Friedens- und Wohlstandsprojekt Europa erneut zu erklären; dies ist die Voraussetzung für die Entwicklung einer neuen, zukunftsgewandten, identitätsstiftenden gemeinsamen Erzählung, die Antworten auf die heutigen Herausforderungen formuliert.
In dieser Debatte müssen dann auch die Bürger Europas bekennen, ob sie noch einen europäischen Traum träumen, und wenn ja, welchen und mit wem zusammen. Letztendlich muss jeder einzelne mündige EU-Bürger darüber entscheiden, ob er den Rückfall in nationale Egoismen mit den unvermeidlichen Folgen von Konflikten und Konfrontationen will, oder ob er aus Europas Vergangenheit Lehren für Gegenwart und Zukunft zieht. Wenn ihm letzteres gelingt, dann wird er die Unverzichtbarkeit des europäischen Einigungsprojektes klar und deutlich erkennen. Darum: Bürger Europas besinnt Euch, nur Ihr könnt Europa retten und nachhaltig mit Leben füllen!
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet