Keine entscheidende Kardinalsünde macht den Westen schwanken. Der Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio zählt vielmehr eine ganze Reihe von Trends und Tendenzen auf, denen gemeinsam ist, dass sie gefährlich vom goldenen Mittelweg abweichen – ob nun, um nur zwei Gefahren von vielen besprochenen zu nennen, ganze gesellschaftliche Sub-Gruppen das Gewaltmonopol des Staates als Gewaltherrschaft mediengestützt verschreien oder ob Europapolitiker meinen, Recht und Verträge nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ außer Acht lassen zu dürfen. Der Mittelweg aber ist die Demokratie westlicher Prägung, bestimmt durch Rechtsstaatlichkeit, durch die Freiheit des Individuums und den freien Markt – Elemente, die nach Di Fabios Überzeugung untrennbar zusammengehören.
Lange schien es, als sei das westliche Gesellschaftsmodell dazu bestimmt, sich weltweit durchzusetzen. Inzwischen wird in Asien demonstriert, dass der Kapitalismus nicht auf Demokratie angewiesen ist, und eine politisierte Form des Islam definiert sich nicht zuletzt aus seiner Gegnerschaft zum Westen.
Aber woher stammt es, das Gesellschaftsmodell „des Westens“? Eine auf eine Kurzformel geschrumpfte Meistererzählung lautet, der Urknall hierzu habe sich in der Aufklärungszeit mit der Französischen Revolution ereignet. Diese Herkunftsgeschichte rückt Di Fabio in die realistischere Perspektive, bei Pico della Mirandola, in dessen „Rede über die Würde des Menschen“ (posthum 1496), findet er so etwas wie eine Initialformel: „Ein heiliger Ehrgeiz dringe in unsere Seele, dass wir … nach dem Höchsten verlangen und uns mit ganzer Kraft bemühen, es zu erreichen – denn wir können es, wenn wir wollen.“ Das Entfaltungspotenzial dieses „mirandolischen Axioms“ liege gerade in seiner Unbestimmtheit, die keine Beschränkung hinsichtlich der Rasse, der Religion oder sonst einer Unterscheidungsgröße zulasse, sondern alle Menschen einbeziehe, es gewinne seine „weltverändernde Wucht aus der religiösen Grundierung, der Mensch sei gottesebendbildlich geschaffen“. Di Fabio legt Wert darauf, die „religiöse Grundierung“ zu betonen, macht aber im Folgenden keinen Hehl daraus, dass für ihn der entscheidende Schritt zur Emanzipation in der Säkularisierung theonomer Vorstellungen und Bindungen liegt.
Als Verfassungsrichter galt Udo Di Fabio als konservativ. Im Buch erscheint er es nur in dem Sinne, als er die Grundlagen des Westens klar benennt und sie verteidigt wissen möchte. Wer glaubt, diese Gesellschaft, ihre Freiheit, ihr Wohlstand, ihre Rechtssicherheit, sei ein Selbstläufer, wird vom Autor kühl und ohne große emotionale Appelle aus seinem schönen Traum geweckt. Nicht dass Di Fabio die Kassandra gibt, er prophezeit nicht, er diskutiert Bedrohungen, setzt gern Positiv- und Negativszenario gegeneinander und erlaubt sich so viel Optimismus, wie es einem vernünftigen Menschen ohne freiwillige Intelligenzbeschränkung möglich ist.
Die Grundfrage lautet: Wird „der Westen“ die Kraft finden, von der Illusion zu lassen, das eigene Modell sei ohnehin unwiderstehlich, kann er sich zu der Einsicht durchringen, dass er sich in einem Konkurrenzkampf befindet, dessen Ausgang ungewiss ist?
Udo Di Fabio, der bis 2011 Richter des Bundesverfassungsgerichts war, fordert mit seinem Geschwindmarsch durch die Geschichte und die Gefährdungen des westlichen Gesellschaftsmodells immer wieder zum Abgleich der vorgebrachten Erkenntnisse und Mutmaßungen mit den eigenen heraus – die sollte der Leser aber schon mitbringen, denn um einen Crashkurs für Ahnungslose handelt es sich bei diesem Buch nicht.
Helmut Kremers
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .