Deutsche Aufgabe

Warum Europa ohne mehr Solidarität nicht mehr handlungsfähig ist
ie Zukunft Europas... Foto: picture alliance/ Stephen Chung
ie Zukunft Europas... Foto: picture alliance/ Stephen Chung
Europas Misere reicht weit über die Flüchtlings- und die Finanzkrise hinaus. Denn nun erkennen die Mitgliedstaaten, dass sie keine Solidargemeinschaft bilden und keine tragfähige Vorstellung davon haben, wie die Union zu einer solchen entwickelt werden könnte. Diese Meinung vertreten die Europaexperten Annegret Bendiek und Jürgen Neyer.

Spätestens seit 1993, seit dem Vertrag von Maastricht, befindet sich die Europäische Union in einer Phase der verfassungsmäßigen Selbstvergewisserung. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Anfang Dezember 2009 sollte der Prozess über die Verfassung der EU auf ein neues Niveau gehoben werden. Gleichzeitig ist der alte Brauch der schrittweisen Fortentwicklung auf der Basis eines Konsenses in die Kritik geraten. Zwei wesentliche Forderungen werden seither an die Union herangetragen:

Auf der einen Seite wird der weitere Ausbau der institutionellen und materiellen Kompetenzen der Union von jenen gefordert, die deren politische Handlungsfähigkeit für unzureichend halten. Hinzu gekommen ist inzwischen die (alte) Forderung nach der Kompetenz zur Verteilung von Flüchtlingen, Erhebung von Steuern, nach wirtschaftspolitischen Gestaltungskompetenzen, nach finanzpolitischer Koordinierung und vielem mehr. Die Union – so die weitverbreitete Überzeugung – muss sich in einem komplexer, globaler und insgesamt anspruchsvoller werdenden politischen Umfeld behaupten, und dazu müsste sie einen ambitionierten Integrationsschritt nach vorn vollziehen. Forderungen nach einem weiteren Ausbau ihrer materiellen Kompetenzen treffen allerdings auf den Widerstand von Integrationsskeptikern, deren Lager in den vergangenen zwanzig Jahren kräftig gewachsen ist. Die EU wird bereits heute in vielen Mitgliedstaaten als übermächtig und als Bedrohung sozialer Besitzstände wahrgenommen. In der Außenpolitik – gerade in der Flüchtlingskrise – gibt es eine breite Weigerung, nationale Politiken der EU unterzuordnen, und ein stark ausgeprägtes Beharren auf eigenständigen politischen Gestaltungskompetenzen.

Auf der anderen Seite wird von der EU verlangt, dass sie ihre Exekutivlastigkeit überwindet, dem Parlament mehr Kompetenzen zuweist, Transparenz und öffentliche Teilhabe fördert sowie insgesamt bürgernäher wird. Europas aktuelle Misere reicht weit über die Flüchtlings- und auch über die Finanzkrise hinaus. Nun erkennen die Mitgliedstaaten der EU, dass sie keine Solidargemeinschaft bilden und keine tragfähige Vorstellung davon haben, wie die Union zu einer solchen Gemeinschaft entwickelt werden könnte. Deshalb gilt es, Wege zu weisen, wie diese Selbsterkenntnis konstruktiv gewendet werden kann, um dem Anspruch auf Solidarität Taten folgen zu lassen.

Die europäischen Verträge stellen hohe Ansprüche an die Solidarität der Mitgliedstaaten. In der Präambel des EU-Vertrags ist die Rede vom „Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken“. Weiter wird hervorgehoben, dass die Solidarität allen Mitgliedstaaten gemeinsam sei (Artikel 2) und die „Solidarität zwischen den Generationen“ sowie „zwischen den Mitgliedstaaten“ zu fördern sei (Artikel 3 Absatz 3). Auch als Ziel ihrer internationalen Politik hat die EU Solidarität genannt (Artikel 3 Absatz 5). Der Vertrag zur Arbeitsweise der EU kennt sogar eine eigene Solidaritätsklausel: „Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatas-trophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist.“ (Artikel 222, Absatz 1) Diese Ansprüche lassen allerdings viel Interpretationsspielraum und sind kaum in direkte Politik zu übersetzen. Auch in der politischen Theorie werden unterschiedliche Dinge mit dem Begriff Solidarität verbunden. Nicht bezweifelt wird, dass Solidarität auf starker Verbundenheit fußt und eine Erwartung gemeinsamer Handlungen speist. Uneinigkeit herrscht indes darüber, ob Verbundenheit aus freien Stücken entsteht, erstritten werden kann oder mitunter sogar erzwungen werden muss. In jedem Fall ist Solidarität von Nothilfe und einer bloß karitativen Handlung abzugrenzen. Eine solidarische Gemeinschaft hält zusammen und versucht alles zu verhindern, was ihre Mitglieder bedroht oder ernsthaft schädigt.

Fragwürdige Migrationspolitik

Die Flüchtlingskrise hat nur allzu deutlich vor Augen geführt, dass es kaum Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der EU gibt. Seit September 2015 haben Länder der Union wie Ungarn, Slowenien, Österreich und Kroatien nach eigenem Ermessen auf die Flüchtlingsströme reagiert, überwiegend ohne sich mit betroffenen Nachbarstaaten abzusprechen. Sie schlossen ihre Grenzen teilweise oder ganz und verlagerten das Problem damit auf ihren nächsten südostwärts gelegenen Nachbarn. Infolgedessen sitzen im Frühjahr 2016 tausende Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze fest. Über einen Nachtragshaushalt hat deshalb die Europäische Kommission ein Nothilfepaket für Mitgliedstaaten geschnürt, die stark von der Flüchtlingskrise beeinträchtigt sind.

Für den Zeitraum bis 2018 will die Kommission 700 Millionen Euro bereitstellen. Die 2015 beschlossene Umsiedlung von 160?000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien allerdings ist auf ganzer Linie gescheitert, denn nur wenige Hundert Menschen konnten in anderen EU-Ländern untergebracht werden. Zwar soll die NATO seit Februar 2016 die griechische Küstenwache in der Ägäis entlasten. Ein großzügiger Akt der Solidarität gegenüber Griechenland ist dieser Einsatz aber nicht, denn er beschränkt sich darauf, die EU-Grenzschutzagentur Frontex zu unterstützen, und sieht keine Möglichkeit direkten Eingreifens vor. Auch die Tätigkeit der mehreren hundert Mitarbeiter, mit denen Frontex seit Dezember 2015 in den Erstaufnahmezentren (Hot Spots) auf den griechischen Inseln präsent ist, kann nur ein Anfang sein. Griechenland fordert, die Hilfe beträchtlich aufzustocken, um seine Grenzen und damit auch die Außengrenzen der EU effektiv schützen und Flüchtlinge registrieren zu können. So überfordert sind Griechenlands Grenzschutz und Asylbehörde mit der Situation, dass EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos sich genötigt sah, den Einsatz einer EU-Grenzschutzpolizei vorzuschlagen. Seit dem EU-Türkei-Gipfel Mitte März 2016 liegt die Flüchtlingspolitik der EU nunmehr weitgehend in Händen der Türkei. Diese nimmt alle illegal nach Griechenland gekommenen syrischen Migranten zurück, wenn die EU der Türkei im Gegenzug bis zu 72?000 registrierte syrische Flüchtlinge abnimmt. Illegale Migration soll bekämpft werden, indem sie in legale überführt wird.

Diese Migrationspolitik ist rechtlich fragwürdig und hat wenig mit Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und erst recht nicht gegenüber den Flüchtlingen zu tun. Griechenland und künftig auch Italien werden nur dann nicht unter der Last der Einwanderung zusammenbrechen, wenn die Türkei und die nordafrikanischen Staaten, die als sichere Herkunftsländer eingestuft wurden, eng mit der EU kooperieren. Dazu müssten nicht nur die Außengrenzen wirksam kontrolliert, sondern auch eine europaweite Kontingentlösung oder gar Einwanderungspolitik beschlossen werden. Möglich wird dies aber erst, wenn die Mitgliedstaaten nationale Egoismen hintanstellen. Ohne umfassend verstandene europäische Solidarität auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention wird sich die Flüchtlingskrise in Europa nicht bewältigen lassen.

Aber wie wahrscheinlich ist eine gemeinschaftliche Politik zwischenstaatlicher Solidarität, in der kollektive Problemlösung sich gegen nationale Egoismen durchsetzt? Erfahrungen mit der europäischen Integration geben nicht viel Anlass zu Optimismus. Die politische Verwendung des Begriffs Solidarität in Europa lässt sich bis 1950 zurückverfolgen, als der französische Außenminister Robert Schuman (1886–1963) seinen Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorstellte. Darin forderte er eine „Solidarität der Tat“, die über rechtlich bindende Entscheidungen eine unwiderrufliche Verbindung Frankreichs und Deutschlands begründen sollte.

Allerdings hat sich die Hoffnung zerschlagen, dass EU-Institutionen ein starkes Gegengewicht zu nationalen Egoismen bilden können. Nach wie vor sind es die Mitgliedstaaten, die alle größeren und solidaritätsrelevanten Entscheidungen dominieren. Zwar werden Einführung und Ausdehnung der Strukturfonds und des Kohäsionsfonds in der EU häufig als wichtiges Element zwischenstaatlicher Solidarität bezeichnet. Indem sie der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 und dem Binnenmarktprogramm zustimmten, beschlossen die Mitgliedstaaten, den einkommensschwächsten Regionen Europas zusätzliche Hilfen zu gewähren, damit diese dem verschärften Wettbewerb würden standhalten können. Wirft man aber einen genaueren Blick auf die Ereignisse, zeigt sich schnell, dass nicht Solidarität zum Ergebnis führte, sondern harte Verhandlungen. So verkündete der spanische Ministerpräsident Felipe González vor der versammelten europäischen Presse, er habe die Zustimmung zum Binnenmarktprojekt so lange verweigert, bis die anderen Mitgliedstaaten sich endlich zu umfangreichen Finanztransfers in die ärmeren EU-Länder bereit erklärt hätten.

Auch das „soziale Europa“, oft im Zusammenhang mit der Einführung des Binnenmarktes beschworen, blieb Wunschdenken. Kommissionspräsident Jacques Delors hatte es als Versprechen der Solidarität zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedstaaten sowie zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern bemüht. Die Integration sollte nicht nur ein Europa der Wirtschaft befördern, sondern auch die Schwächsten mitnehmen. Doch die wohlhabenden Staaten der EU waren nicht bereit, eine europäische Arbeitslosenversicherung oder andere wirkungsvolle Umverteilungsmechanismen zu etablieren.

Ein weiteres gern vorgebrachtes Beispiel für angebliche europäische Solidarität, die Osterweiterung der EU, zeugt ebenfalls eher von Interessendurchsetzung als von hehren Motiven. Die Bereitschaft, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen, speiste sich hauptsächlich aus ökonomischen und politischen Interessen Deutschlands. Solidarität spielte dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle. Ein Europa der Solidarität, so ist zu resümieren, hat es bisher nur auf dem Papier gegeben, kaum jemals in der praktischen Politik.

Aus dem Blickwinkel eines nationalistischen Verständnisses ist Solidarität lediglich innerhalb einer Nation denkbar. Jenseits der Nation aber gebe es ausschließlich interessenbasierte oder rechtliche Verpflichtungen. Viele mittel- und osteuropäische Staaten wie Ungarn, Tschechien und die Slowakei handeln nach dieser Auffassung und lehnen das deutsche Ansinnen europäischer Solidarität folgerichtig ab. Deutschland, die Niederlande oder Schweden beharren dagegen weiterhin auf europäischer Solidarität. Europa bildet in diesem Verständnis eine Wertegemeinschaft, in der sich die Mitgliedstaaten auf Achtung und Weiterentwicklung gemeinsamer Normen verpflichtet haben. Aus dieser Perspektive ist ein nationalistischer Solidaritätsbegriff notwendig „unsolidarisch“. Dass vor allem Deutschland sich für europäische Solidarität stark macht, ist allerdings recht neu. Als 2013 tausende nordafrikanische Flüchtlinge die italienische Insel Lampedusa erreichten, stieß Italien mit seiner Forderung nach Solidarität noch auf taube Ohren in Berlin.

Die Vorstellung einer europäischen Solidarität erntet auch von Vertretern einer kosmopolitischen Konzeption Kritik. Sie weisen jede unterschiedliche Behandlung von Menschen zurück, die mit Kriterien wie Nationalität begründet wird. Stattdessen verlangen sie die strikte Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention sowie eine enge Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.

Verliefe die Grenzschutzlinie künftig nicht mehr zwischen Mazedonien und Griechenland, sondern zwischen Griechenland und der Türkei, entspräche dies zwar eher dem europäischen Solidaritätsverständnis, da Griechenland dann einbezogen wäre. Aus kosmopolitischer Sicht jedoch würde damit lediglich ein Unrecht das andere ablösen. Die einzig akzeptable Form der Ausübung von Solidarität bestehe vielmehr darin, allen Menschen gleichermaßen Zugang zu Asyl zu gewähren, jeden einzelnen Fall sorgfältig in Erstaufnahmezentren zu prüfen und das UNHCR daran zu beteiligen. Doch in der Praxis wird sich ein rein kosmopolitisches Solidaritätsprinzip nicht durchsetzen, auch weil es in Europa kaum machtvolle Fürsprecher hat.

Ein angemessener Umgang mit den Flüchtlingen lässt sich nur mit einer Kombination aus Elementen europäischer und kosmopolitischer Solidarität bewerkstelligen. So verstanden würde Solidarität bedeuten, dass kein Mitgliedstaat aus der EU hinausgedrängt werden darf und jede mehr als zeitweilige Grenzziehung zwischen Staaten der EU zurückzuweisen ist. Außerdem würde eine solche Art Solidarität sich nicht auf den Binnenraum der EU beschränken. Europa kann sich nicht damit zufriedengeben, seine Außengrenze weiter zu befestigen und den Lastenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten zu regeln. Ebenso wichtig ist ein gestaffeltes Schutzsystem der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Notwendig dafür sind eine weitaus aktivere Unterstützung durch Herkunfts- und Transitländer, enge Zusammenarbeit mit dem UNHCR und legale Einwanderungswege. Jedenfalls taugt weder ein rein nationalistisches noch ein ausschließlich europäisches Verständnis von Solidarität, um Europas selbstgesetzten Anspruch zu erfüllen, ein Kontinent der Menschenrechte zu sein. Einen Konsens aller Mitgliedstaaten dafür wird es nicht geben, so dass Auseinandersetzungen nicht ausbleiben werden. Die deutsche Europapolitik ist darum aufgerufen, für Solidarität zu streiten und die nötigen finanziellen Anreize zu setzen.

Informationen

Annegret Bendiek/?Jürgen Neyer: Europäische Solidarität – die Flüchtlingskrise als Realitätstest. swp-Aktuell, 2016.

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