Luther als großer Rebell

Kirchenvertreter aus der ganzen Welt diskutieren über Reformation, Transformation und Bildung
Foto: privat
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In diesem Monat treffen sich in Halle/Saale etwa 120 Kirchenvertreter aus rund vierzig Ländern. Christoph Anders vom Evangelischen Missionswerk in Deutschland ist einer der Organisatoren der „Twin Consultation“, deren erste Versammlung im November in Brasilien stattfand.

zeitzeichen: Herr Anders, was ist das Ziel der Konferenz in Halle/Saale?

Christoph Anders: Wir wollen die Einsichten, die wir in der ersten Versammlung in Sao Leopoldo gewonnen haben, bündeln und vertiefen. Die Schlüsselbegriffe sind „Reformation“, „Transformation“ und „Bildung“. Welche Schwerpunkte können und wollen Kirchen mit reformatorischer Tradition in diesen Themenbereichen setzen? Welche Rolle können sie bei der sozialen und ökologischen Transformation der Gesellschaften spielen? Was ist ihr Beitrag zu einer lebenswerteren Gemeinschaft? Diese und andere Fragen werden bei der Begegnung der Kirchen aus dem Norden und dem Süden in Halle/Saale im Zentrum stehen.

Welcher Gedanke der Reformation ist denn den Kirchen außerhalb Europas besonders wichtig?

Christoph Anders: In Europa wird die Reformation heute stark eingebunden in die Freiheitsgeschichte des Individuums. Im Süden der Welt werden häufig andere Akzente gesetzt. Dort wird – etwa in lateinamerikanischen Kontexten – angesichts der oft größeren katholischen Kirche die Leitungsverantwortung der Laien aus der kirchlichen Basis betont. Zudem wird Reformation stärker als eine soziale Protestbewegung verstanden. Martin Luther wird nicht, wie häufig bei uns, an der Seite der Mächtigen verortet, sondern als Vorbild, als großer Rebell gesehen, der den Aufstand gegen die herrschenden Strukturen seiner Zeit ausgelöst hat. Zudem legen viele reformatorische Kirchen einen Schwerpunkt auf einer vernunftorientierten Auslegung der Bibel, in Abgrenzung von Pfingstkirchen und anderen charismatischen Gruppen, die ja derzeit sehr großen Zulauf haben. Wobei mir wichtig ist, dass auch Vertreter der Pfingstkirchen und der katholischen Kirche an der Twin Consultation teilnehmen. Es ist ja bedeutsam, dass reformatorische Kirchen sich heute in der Regel nicht durch Abgrenzung von anderen Kirchen definieren, sondern ihre Identität im ökumenischen Dialog konturieren..

Das klingt sehr harmonisch. Wird denn nicht auch gestritten? Etwa über das Thema Homosexualität?

Christoph Anders: Über dieses Thema wird in der Weltchristenheit herzhaft gestritten, auf der Versammlung in Brasilien spielte es allerdings keine große Rolle. Es gibt aber durchaus Fragen, die kontrovers diskutiert wurden: Wie weit geht die praktische Zusammenarbeit mit anderen Kirchen? Welche Rolle spielt der interreligiöse Dialog für die Gestaltung des Gemeinwesens? Eine Minderheitenkirche in bedrängter Situation hat an diesem Punkt größere Sorgen um die eigene Identität als europäische Protestanten in einer relativ komfortablen Mehrheitssituation wie etwa in Skandinavien oder Deutschland.

Am Ende der ersten Versammlung entstand ein gemeinsames Communiqué. Was soll am Ende dieser Konferenz stehen?

Christoph Anders: Wir haben uns noch nicht abschließend darüber verständigt, aber wir gehen auf ein stärker zugespitztes Thesenpapier zu, das fokussiert auf die drei genannten Schlüsselbegriffe eingeht. „Transformation“ aber auch „Transformatorische Bildung“ sind ja eher Containerbegriffe, die, speziell wenn es um deren Verankerung im Handeln unterschiedlicher Kirchen geht, mit konkreteren Inhalten gefüllt werden wollen. Wir wollen aber auf jeden Fall das, was wir in den Versammlungen erreicht haben, einspeisen in den gesamten Prozess der Jubiläumsfeiern. Das soll auf dem Kirchentag in Berlin und Wittenberg geschehen, wo es ja voraussichtlich ein eigenes Zentrum zum Thema „Reformation – Transformation“ geben wird. Auch auf der Weltausstellung in Wittenberg und bei den zentralen Veranstaltungen des Lutherischen Weltbundes und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen – die übrigens auch wichtige Mitträger der Twin Consultation sind – sollen die Inhalte, besonders wegen des gemeinsamen Interesses an kirchlicher Bildungsarbeit – präsentiert werden. Wenn die Reformation sich als „Weltbürgerin“ versteht, ist es ja notwendig, dass das Jubiläum in möglichst großer ökumenischer Weite gefeiert wird und die Dialoge über die vielschichtigen Aneignungen des reformatorischen Erbes auch nach 2017 fortgesetzt werden.

Welche Rolle spielt der Veranstaltungsort?

Christoph Anders: Die Franckeschen Stiftungen und die Universität Halle-Wittenberg sind phantastische Orte für den zweiten Teil der Konsultationen. Denn die diakonische und weltweite Missions- und Bildungsarbeit, die August Hermann Francke Ende des 17. Jahrhunderts dort ins Leben rief, ist ja vielen Teilnehmern aus dem Süden ein Begriff. Gleichzeitig befinden wir uns mit der Veranstaltung im geschichtsträchtigen Kernland der deutschen Reformation. Aber Halle/Saale ist auch ein Ort, an dem heute Säkularisierungs- und Entkirchlichungsprozesse exemplarisch für die Länder des Nordens sehr deutlich werden. Hier sind Protestanten eine echte Minderheit geworden. Das ist mit den Vorstellungen, die manche Kirchen des Südens über Europa haben, nicht so leicht zu vereinbaren. Umso spannender wird es für alle Teilnehmenden, die vielschichtige Situation konkret vor Ort zu erleben.

Das Gespräch führte Stephan Kosch am 7. April.

Information

Vom 18. bis zum 22. Mai findet in den Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale und der Universität Halle-Wittenberg die zweite Versammlung der so genannten Twin Consultation statt. Die Veranstaltungen werden organisiert unter anderem vom Evangelischen Missionswerk in Deutschland, Brot für die Welt- Evangelischer Entwicklungsdienst, den Frankeschen Stiftungen Halle/Saale und der Universität Halle-Wittenberg, den Faculdades est in Sao Leopoldo/Brasilien, dem Ökumenischen Rat der Kirchen, dem Lutherischen Weltbund und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, sowie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

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Christoph Anders

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