John Wesleys Leben ist filmreif. Im reetgedeckten Pfarrhaus von Epworth, wo er als fünfzehntes Kind geboren wird, führt die puritanische Mutter ein strenges Regiment. Sie verbietet ihren Kindern zu weinen und zu schreien. Der Vater nimmt es dagegen im Leben nicht so genau, lebt auf Pump und wandert ins Schuldgefängnis. Und nach einem Streit mit seiner Frau über ihr fehlendes „Amen“ im Gebet für den König weigert sich der Mann, weiterhin das Bett mit ihr zu teilen. Es kommt zur Ehekrise, er will die Familie verlassen – bei Wesleys brennt die Hütte. Aber nicht nur im übertragenen Sinn. Denn eines Nachts bricht Feuer aus. Das Haus brennt lichterloh, Eltern und Kinder können sich mit Mühe ins Freie retten. Nur einer fehlt – der kleine John, der unterm Dach schläft. Die Treppe ist schon eingestürzt, und eine Rettung scheint unmöglich. Während im Garten die Eltern niederknien und für die Seele ihres Kindes beten, erscheint dessen Gesicht oben am Fenster. Ein Knecht steigt beherzt auf die Schultern eines anderen, und gemeinsam fangen sie den Knaben auf, während hinter ihm das Dachgebälk zusammenbricht. Dieses Erlebnis wird John Wesley für den Rest seines Lebens prägen. Seine Autobiografie überschreibt er später: „Ein Scheit, aus dem Feuer gezogen.“
John wird nach London auf die Schule geschickt und erhält danach als „armer Junge“ ein Stipendium in Oxford. Dort gründet er den „Holy Club“ mit zwei weiteren Mitstudenten und seinem Bruder Charles (1707–1788), der der bedeutendste Kirchenliederdichter des angelsächsischen Protestantismus werden wird. Täglich lesen sie stundenlang die Bibel, beten, singen und grübeln über den Weg zur wahren Frömmigkeit. Ein Freund wird darüber wahnsinnig, doch sie machen weiter. Zweimal wöchentlich fasten sie, besuchen Gefangene, Kranke und Arme. Wegen ihrer strengen Disziplin und des strukturierten Tagesablaufs werden sie von den Kommilitonen bald spöttisch als „Methodisten“ bezeichnet.
1728 wird John Wesley zum Pfarrer der anglikanischen „Kirche von England“ ordiniert. Aber er hat keine Gemeinde. Also muss er abwechselnd in Kirchen seiner Kollegen predigen. Die aber nervt Wesleys frommer Eifer irgendwann, und er erhält Hausverbot. So verfällt er auf eine Idee, die als ungeheuerlich empfunden wird. Auf einem Pferd reitet Wesley durchs Land und predigt unter freiem Himmel! „The world is my parish“, „die Welt ist meine Gemeinde“, wird Wesleys Motto, das auch seine Statue vor der Wesley's Chapel in London ziert.
Therapie gegen Rheuma
Man trifft den Prediger auf den Marktplätzen der lieblichen Dörfer Südenglands wie in den Zechentäler von Wales und bei den Arbeitern der Baumwollfabriken Nordenglands. Oft wird er von der Menge niedergebrüllt, mit Steinen und Kot beworfen und immer wieder auch mit dem Tode bedroht. Einmal steigt Wesley von seinem Schemel herab, geht auf den Anstifter zu und betet für ihn. Der schlägt nicht zu, sondern bricht in Tränen aus, fällt auf die Knie und stimmt in das Gebet ein.
Auf seinen Reisen lernt Wesley das Leben der einfachen Leute kennen. Und kaum einer von ihnen kann sich ärztliche Behandlung oder gar Medikamente leisten. Ebenso besorgt wie um das Seelenheil seiner Schäfchen ist Wesley um ihre Gesundheit. So sammelt er medizinisches Volkswissen und veröffentlicht 1747 – zunächst anonym – das Buch Primitive Physic, was so viel heißt wie „ursprüngliche Heilkunst“. Der Untertitel verspricht „eine einfache und natürliche Methode, die meisten Krankheiten zu kurieren“. Es ist das erste und populärste Buch für Allgemeinmedizin, das in Großbritannien erscheint. Genau 288 Krankheitsbilder werden aufgezählt und über 900 Therapien und Rezepte zu ihrer Heilung empfohlen. Das Spektrum reicht von Syphilis bis Schlaganfall, von der Lepra bis zur Glatzenbildung. Besonders ausführlich werden die Krankheiten besprochen, die damals in England offenbar weit verbreitet waren: Husten, Schwindsucht und Rheumatismus.
Wesley schreibt allgemeinverständlich und macht Therapien der Allgemeinheit zugänglich. Damit riskiert er bewusst den offenen Konflikt mit den Ärzten seiner Zeit, die die Medizin zu einer abgehobenen, teilweise abstrusen Wissenschaft gemacht haben, auch um ihre Honorare in die Höhe zu treiben.
Wesleys Heilmittel sind „safe, cheap, and easy“, billig und für jedermann einfach zu bekommen. So verwendet er für unterschiedlichste Erkrankungen Honig, Pflaumen, Limonade und Lakritz. Und Brennnessel, Zimt und Zwiebeln gehören zu seinem Erste-Hilfe-Kasten. Besonders rührend ist die Empfehlung, bei Magenschmerzen eine Katze auf dem Bauch schlummern zu lassen.
Bäder und Limonade
Natürlich ist Wesley ein Kind seiner Zeit. Deshalb erscheinen uns seine Therapien teilweise skurril. So empfiehlt er Bei „hysterischer Kolik“ kalte Bäder oder warme Limonade. Esssucht, „wenn sie ohne Erbrechen einhergeht, wird oft geheilt durch ein kleines bisschen Brot, in Wein getunkt und an die Nase gehalten“.
Keuchhusten war offenbar häufig und auch damals schon hartnäckig und langwierig. Dementsprechend füllen die Empfehlungen zwei ganze Seiten. „Benutze das kalte Bad täglich, oder reibe die Füße vor dem Zubettgehen vor dem Feuer gründlich mit Schweineschmalz ein, und halte das Kind darin warm. Oder reibe den Rücken im Liegen mit altem Rum ein. Das misslingt selten.“
Man amüsiert sich heute beim Lesen und tut das Ganze schnell als Quacksalberei ab. Doch dann liest man überrascht von der Behandlung des Skorbut: „Ernähre dich einen Monat lang von Steckrüben, oder nimm morgens und abends einen oder zwei Löffel voll Zitronensaft und Zucker. Das ist ein wertvolles Mittel, und gut erprobt.“ Tatsächlich sind Steckrüben wie Zitronen ein Lieferant von Vitamin C, dessen Mangel ja Skorbut hervorruft. Zweihundert Jahre, bevor die genauen biochemischen Zusammenhänge erkannt wurden, hatte Wesley also die korrekte Therapie benannt.
Ganz selbstverständlich hebt er auch die Trennung von körperlichen und psychischen Erkrankungen auf. Hysterie, Bulimie, Wahnsinn und Tobsucht werden ebenso selbstverständlich abgehandelt wie Erkältung, Krebs und Würmer. Damit entfällt die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, was selbst in unserem doch so aufgeklärten Zeitalter noch nicht gelungen ist.
Versuch und Irrtum
Und da ist noch eine frappierend moderne Idee. Zwar schöpft Wesley aus dem Erfahrungsschatz der Volksmedizin, doch er geht einen entscheidenden Schritt weiter. Denn alles muss auf den Prüfstand. Überlieferte Rezepte, schön und gut, aber sie müssen der empirischen Verifikation standhalten. Wesley befragt daher die Kranken und schreckt auch vor Selbstversuchen nicht zurück. Das wertvollste Prädikat in seinem Buch ist daher die kleine Bemerkung „tried“ – „selbst ausprobiert“. Damit wird der Pfarrer zu einem Vorläufer unserer heutigen evidence-based-medicine, die nur gelten lässt, was sich in Studien bestätigt hat.
Absolut ungewöhnlich, geradezu revolutionär für seine Zeit ist auch der politische Aspekt seines Wirkens. Während seine Zeitgenossen die sozialen Missstände als gottgegeben hinnehmen, setzen sich die Methodisten von Anfang an für die Versorgung armer Familien, Arbeitsbeschaffung und hygienische Lebensverhältnisse ein. Wesley gründet Armenapotheken und die ersten free clinics des Königreichs, die auch Mittellose behandeln.
Aber bei aller Nächstenliebe und Fürsorge bleibt er ein strenger Theologe. Krankheit ist für Wesley die Folge des Sündenfalls. Im Vorwort zu seinem Buch erklärt er: „Als der Mensch erstmals aus den Händen des Großen Schöpfers kam, an Körper und Seele ausgestattet mit Unsterblichkeit und ohne Fehl, war gar kein Platz für die Heilkunst.
D a er keine Sünde kannte, so kannte er auch keinen Schmerz, keine Krankheit, Schwäche oder körperliche Störung. Aber seit der Mensch gegen den Herrscher des Himmels und der Erde rebellierte, … ist die Saat von Heimtücke und Schmerz, Krankheit und Tod in uns beheimatet, woraus tausende Leiden unentwegt hervorgehen.“
Woraus zog dieser schmächtige Mann mit der Schuhgröße 37 seine erstaunliche Kraft und Energie? Im Londoner Stadtteil Shoreditch befindet sich das historische Kraftzentrum des Methodismus, „Wesley’s Chapel and Leysian Mission“. Neben dem Museum und der Kirche mit ihren bunten Glasfenstern steht ein unscheinbares Mietshaus. Hier wohnte Wesleys, wenn er zwischen seinen Predigtreisen in London Pause machte. In einem Zimmer steht ein Stuhl mit ungewöhnlich hohem Sitzpolster, das beim Sitzen federnd nachgibt. Hier imitierte Wesley in den ruhigen Wintermonaten das Reiten und hielt seine Muskeln in Schwung, bis er im Frühjahr wieder aufbrach. In der hinteren Ecke des Arbeitszimmers entdeckt der Besucher einen Glaskolben mit einem Metallstab in der Mitte, außen dran eine hölzerne Kurbel und ein Lederlappen, mit einer Kugel am oberen Ende.
Wer sie in die Hand nahm, erhielt einen elektrischen Schock, sobald an der Kurbel gedreht wurde. Nachdem John Wesley im Oktober 1747 auf einem Jahrmarkt beobachtet hatte, dass Menschen Branntwein mit einem Funken aus ihrem eigenen Finger entzünden konnten, kaufte er einen tragbaren elektrischen Apparat und begann seine medizinischen Experimente. „Es scheint, dass das elektrische Feuer die kleinen Gefäße und Kapillaren erweitert, es beschleunigt den Blutfluss und beseitigt viele Hindernisse“, notierte er seine Beobachtungen. Mehr als 3.000 Patienten wurden in den folgenden Jahren auf diese Weise behandelt, wenn sie über Taubheit, Blutarmut, Nierensteine, Herzklopfen, Rheumatismus und Ringwürmer klagten. Aber die besten Erfolge beobachtete Wesley bei nervösen Störungen, Kopfschmerzen, Epilepsie und hysterischen Anfällen. Selbst blinde Menschen will er durch die „medizinische Elektrifizierung“ geheilt haben. Mehrfach behandelte er sich sogar selbst damit.
Für Wesley offenbarte sich in der Elektrizität die „Seele des Universums“. Die aber fand er wohl vor allem in einer kleinen Kammer neben seinem Schlafraum. Jeden Morgen stand er um 4.30 Uhr auf und ging hinüber. Neben dem Ofen steht ein niedriger Tisch auf dem eine aufgeschlagene Bibel liegt. Das kleine Zimmer gilt als der „power room of Methodism“, denn hier tankte Wesley durch Gebet und Schriftlesung spirituelle Kraft für den Tag und seine Reisen. Aus dem peinlich genau geführten Tagebüchern ist ersichtlich, dass er bis zu seinem Tod unermüdlich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf ritt und täglich vier bis fünf Predigten hielt. Insgesamt soll John Wesley in seinem Leben 250.000 Meilen geritten sein und 40?000 Predigten gehalten haben. Mit 87 Jahren stirbt er in seinem Londoner Haus, mit einen Choral auf den Lippen
Information
Wesley's Chapel and Leysian Mission, 49 City Road London; geöffnet Montag bis Samstag 10-16 Uhr; www.wesleyschapel.org.uk
Martin Glauert (Text und Fotos)
Martin Glauert
Martin Glauert ist Arzt, Theologe und freier Autor der "zeitzeichen". Er lebt in Kassel.