Nach Licht strebender Geist

Für Aufklärer und Liberale war Martin Luther ein Freiheitsheld
Luther auf dem Reichstag zu Worms. Gemälde von Anton von Werner (1843–1915). Foto: akg-images
Luther auf dem Reichstag zu Worms. Gemälde von Anton von Werner (1843–1915). Foto: akg-images
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fragten liberale Protestanten und konservative Katholiken nach der Bedeutung der Reformation. Heftig stritten sie dabei über die Beziehung zwischen der Reformation in Deutschland und der Revolution im katholischen Frankreich. Der emeritierte Münchner Professor für Systematische Theologie, Friedrich Wilhelm Graf, gibt einen Überblick. Und er zeigt, welche Folgen die Reformation für die Gegenwart hat.

Der Vordenker des deutschen Frühliberalismus Wilhelm Traugott Krug, Nachfolger Immanuel Kants auf dem Königsberger Lehrstuhl für Philosophie und später in Leipzig lehrend, veröffentlichte von 1827 bis 1829 ein vierbändiges „Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte“. Stark geprägt von liberalen Freiheitsidealen spiegelt es die Hochschätzung der kritischen Vernunft und die Hoffnung auf eine weiter fortschreitende Aufklärung.

In den harten ideenpolitischen Kämpfen der Zeit kritisierte Krug scharf alle antirevolutionären, restaurativen Theorien, die einen Vorrang der monarchischen Autorität vor der Bürgerfreiheit forderten. Und er trat für eine permanente Reform aus freiheitlichen Prinzipien ein, die auf eine Verfassung, starke Bürgerrechte, Parlamentarisierung und die Beschränkung des Monarchen auf eine Art Notar des Gemeinwesens hinauslaufen sollte. Und für dieses Programm berief sich Krug immer wieder auf die Wittenberger Reformation Martin Luthers. So fasste er in seinem Lexikon, etwa in den Artikeln „Reformation“, „Kirchenverbesserung“ und „Protestantismus“ sowie im Artikel über Martin Luther, prägnant jene Deutung der Reformation des 16. Jahrhunderts zusammen, die die große Mehrheit der Aufklärer im protes-tantischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelt hatte und die im Vormärz, den zwanzig bis dreißig Jahren vor der bürgerlichen Revolution von 1848/49, fortgeschrieben wurde, als frühe Liberale und moderne Konservative fundamentalpolitische Ordnungsdebatten führten.

Luther, der „Reformator eines bedeutenden Theils der katholischen und ebendadurch Stifter der protestantischen Kirche“ gilt Krug als „der größte Mann seiner Zeit“. Im Rahmen eines philosophischen Lexikons sei allerdings nicht darzustellen, „was dieser Mann in Bezug auf Religion und Kirche geleistet“ habe, sondern allein seine Bedeutung in der Geschichte des philosophischen Denkens zu erwähnen. Dafür bietet Krug eine folgenreiche Formel an: Luther habe als ein „nach Licht und Freiheit strebender Geist schon früh die Fesseln der aristotelisch-scholastischen Philosophie“ abgestreift, „welche so viele Geister gefangen hielt“. Krug stilisiert den Reformator zum Theoretiker philosophischer Emanzipation von jeder autoritätsfixierten Begriffsscholastik. Durch die „Befreiung der Kirche von menschlicher und zwingender Autorität“ habe er zugleich „auch die Wissenschaften von einer ihrer selbst unwürdigen und der Menschheit sehr nachtheiligen Knechtschaft“ befreit, namentlich die Philosophie, die früher nur eine Magd der Theologie und wie diese eine Magd der Hierarchie war. Indem Krug den Katholizismus als eine durch „hierarchischen Despotismus“, Autoritätsfixierung, Hörigkeit und Knechtschaft des Geistes bestimmte Gestalt des Christlichen deutet, muss er den Protestantismus zur Religion fortwährender Kritik nach Vernunftgründen erklären. Durch Luther sei die Philosophie gleichsam eine protestantische Wissenschaft geworden. „Denn sie protestirt nicht nur ihrem Wesen nach gegen alles Nachbeten in wissenschaftlicher und gegen allen Zwang in religiöser Hinsicht, sondern sie ist auch nur in der protestantischen Kirche recht einheimisch und lebenskräftig geworden.“ Protestantismus ist für Krug eben „standhafte Behauptung der Gewissens- oder Glaubensfreiheit gegen fremde Anmaßung“, orientiert an der „Maxime, in Sachen der Moral und Religion kein menschliches Ansehn, sondern nur die Stimme Gottes, wie sie sich durch Vernunft und Schrift jedem Menschen selbst geoffenbart hat, gelten zu lassen“.

Der genuin protestantische Charakter wahren philosophischen Denkens liegt für Krug darin, dass der philosophische Geist unausweichlich kritisch sein muss, dazu bereit, „sich in jeder Richtung oder Beziehung, folglich auch in moralisch-religiöser Hinsicht, mit voller Freiheit zu entwickeln und auszubilden“.

Modell für Reformen

„Reformation“ ist ein vieldeutiges, interpretationsoffenes Wort. Es kann im Sinne einer Epochenbezeichnung wie „Jahrhundert der Reformation“ benutzt werden oder als programmatische Formel, Missstände zu beseitigen und den Status Quo zu verändern. Die Taten des Reformators können „Reformation“ heißen, aber auch alle möglichen anderen Veränderungen, die das Gegebene verbessern wollen. Für den Sprachgebrauch vieler protestantischer Aufklärer ist entscheidend, dass sie auf die Wittenberger Reformation die Reformen zurückführen, die sie einklagen, im Bildungswesen, bei den politischen Institutionen, in der Ökonomie und auch der Religion. Luthers befreiende Tat wird so zum Modell und Inbegriff immer neu gebotener Veränderungen stilisiert und damit die jeweils selbst geforderte Reform legitimiert. Indem sie zwischen „Kirchenreformation“ und „Staatsreformation“ oder politischen, auf die Institutionen des Staates bezogenen Reformen unterscheiden, gewinnt die Frage ein hohes Gewicht, wer das Recht hat, eine grundlegende Veränderung einzuklagen und die Dinge zum Besseren hin zu verändern. Mit Blick auf politische Reformen schränkt Krug das „Reformationsrecht“ auf die Personen ein, „welche verfassungsmäßig an der Regierung des Staates theilnehmen“. In „synkratischen Staaten“, also konstitutionellen Monarchien, seien dies der Regent „in Gemeinschaft mit denjenigen Staatsorganen, welche das Volk der Regierung gegenüber zu vertreten haben“, also Parlamenten oder Kammern. Bei der „Kirchenverbesserung“ hingegen denkt er radikaler. So erkennt er jedem „Kirchenglied“ das Recht auf Reformation zu, „denn es spricht dadurch nur ein von ihm gefühltes Bedürfniß aus“. Und will die Kirche nicht darauf eingehen, so steht ihm der Austritt frei wie denen, die ihm beipflichten. Sie können also auch eine neue Kirche stiften, wenn sie zahlreich genug sind. Und es wird dadurch kein Recht verletzt. „Dieß würde nur geschehen, wenn sie ihre Ansichten und die denselben gemäßen Reformen auch denen aufdringen wollten, die nicht dasselbe Bedürfniß einer kirchlichen Verbesserung fühlten.“ Dem Staatsoberhaupt ein besonderes Reformationsrecht zuzuerkennen, lehnt Krug ab – wie viele andere Aufklärer und Frühliberale. Gegen jene Kirchentheoretiker, die nur der „Kirche als Ganzes“ ein Reformationsrecht zugestehen, insistiert er auf legitime ekklesiale Vielfalt: „Das kirchliche Verbesserungsrecht kommt nicht bloß der Kirche im Ganzen zu (die es ohnehin nie ausüben wird und kann, weil es über die Nothwendigkeit einer vorgeschlagnen Verbesserung immer getheilte Meinungen giebt und weil sich meist auch zeitliche Interessen ins Spiel mischen), sondern auch jedem Theile der Kirche, so lang er nur keine Gewalt braucht, es geltend zu machen.“ Gerade mit Blick auf die Artikulation konkurrierender Interessen und gegensätzlicher religiöser Standpunkte legt Krug staatlichen Herrschaftsträgern nahe, sich in allen Fragen der Kirchenordnung zurückzuhalten: „In der Regel verstehn auch die Regenten so wenig von dem, was zu einer heilsamen Kirchenverbesserung gehört, daß es viel besser ist, wenn sie ihre Hände dabei ganz aus dem Spiele lassen.“

Debatten über die Legitimität der Wittenberger Reformation werden im 18. und frühen 19. Jahrhundert aber nicht nur im protestantischen Deutschland geführt. Luthers Reformation und ihre Gegenwartsbedeutung sind Themen, die in der „Sattelzeit um 1800“ (Reinhart Koselleck) auch in anderen europäischen Ländern große Aufmerksamkeit finden und heftigen politischen Streit provozieren. In der Folge der Französischen Revolution von 1789 gewinnt die Frage nach möglichen Beziehungen zwischen der deutschen Reformation und der Revolution im katholischen Nachbarland hohe Bedeutung. Muss man die Wittenberger und dann auch die Genfer Reformation als eine erste, frühbürgerliche Revolution deuten? War Luther, der sich allein an Gottes Wort bindende Freigeist, ein erster Revolutionär? Sind die aufklärerischen Ideale, die das revolutionäre Programm von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ legitimieren, nur Konkretionen protestantischer Freiheitskonzepte? Wie ist es zu verstehen, dass sich der „Geist der Revolution“ vor allem in katholischen Ländern artikulierte? Ist die Revolution Protest gegen eine autoritäre Kirche und so eine Fortschreibung der reformatorischen „Freiheit eines Christenmenschen“? Und bedarf das protestantische Deutschland keiner politischen Revolution?

Zu diesen Fragen schreiben europäische Gelehrte und Politiker um 1800 Hunderte Essays, Manifeste, Kampfschriften und gelehrten Traktate. Religiöses und Politisches lassen sich bei allen Autoren, gerade auch bei den Theologen, nicht unterscheiden. Trotz aller fundamentalen Dissense stimmen die konkurrierenden Positionen über die angemessene Ordnung des Gemeinwesens und die Rolle von Religion und Kirchen in der Gesellschaft darin überein, dass sich verlässliche, stabile Institutionen nur auf einem religiösen Fundament bauen lassen.

Unmündige Katholiken

Das liberalprotestantische Bild von Luther als erstem Aufklärer und Held der Forschungs- und Gewissensfreiheit bekräftigen katholisch-konservative Gegenaufklärer und Gegner der Revolution, indem sie den Wittenberger, der einsam mit seinem Gott ringt, als Urrevolutionär der Moderne zeichnen, der mit der religiösen Mündigkeit des einzelnen genau jenes Prinzip formuliert habe, das die französischen Revolutionäre dann in der Auflösung der feudal-ständischen Ordnung und durch Anarchie, Terror und Chaos konkretisiert hätten.

Dem Verdacht, dass letztlich die Reformation die Revolution und deren Antichristentum bewirkt hat, setzen viele protestantische Rationalisten und Frühliberale eine Geschichtskonstruktion entgegen, die einen inneren Zusammenhang von Revolution und Katholizismus behauptet. Die von den katholischen Theoretikern der Restauration vertretene These, die Reformation sei keineswegs nur ein kirchengeschichtliches Datum, sondern zugleich eine epochale politische Zäsur, nehmen die Frühliberalen insoweit auf, als auch sie mit der Reformation den Beginn der Auflösung der alten Ordnung der Welt datieren. Sie erklären Luthers Befreiung des Christen vom autoritären Wahrheitsabsolutismus der Papstkirche zur notwendigen Bedingung wahrer Bürgerfreiheit. Die Revolution in Frankreich habe in radikalem Antichristentum und blutigem Terreur enden müssen, weil sie von den falschen Akteuren inszeniert worden sei, von religiös unmündigen, weil katholisch autoritär Sozialisierten. Wegen des Mangels an gottbezogener Mündigkeit hätten sie Freiheit eben nur unmittelbar und abstrakt realisieren können, durch die wilde Zerstörung alles Überlieferten und die gewaltsame Durchsetzung einer neuen Zwangsordnung. So wird der Mangel an aufgeklärter Religion zur Ursache revolutionärer Gewalt erklärt.

Der als Generalsuperintendent von Gotha einflussreiche Spätrationalist Karl Gottlieb Bretschneider, ein Freund Traugott Krugs, prägt 1820 die Formel: „Was Frankreich fehlt, sind aufgeklärt Theologen.“ So kann man all das, was man an der Revolution ablehnt, aufs Schuldkonto der Papstkirche verbuchen.

Die protestantischen Liberalen wollen damit zunächst den Protestantismus von all jenen Vorwürfen entlasten, die die Restaurationstheoretiker erhoben haben, die die einzig verbliebene Ordnungsmacht, die Papstkirche verklären und die Reformation für die blutigen Schrecken der Französischen Revolution von 1789 verantwortlich machen. Zugleich wollen die protestantischen Liberalen „Reformation“ als Rechtsprinzip guter politischer Veränderung legitimieren.

Bretschneider schreibt 1835: „Man muß vernünftig reformiren, damit nicht gewaltsam revoltirt werde“. Und Krug bestimmt den Unterschied von Reformation und Revolution so: „Man darf eine Reformation nicht mit einer Revolution verwechseln. Denn diese stürzt alles plötzlich um, jene aber läßt das Gute bestehen und sucht nur das Schlechte zu entfernen.“ Doch trotz solcher gelehrter Distinktionen kann die Reformation auch als eine „religiöse Revolution“ im Namen umfassender Freiheit gedeutet werden.

In seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ bezeichnet der entschiedene Aufklärer Heinrich Heine die Wittenberger Reformation als eine „religiöse Revoluzion“, in der „der kühne Mönch ... wie ein religiöser Danton“ den Deutschen „Geistesfreyheit oder Denkfreyheit“ gebracht habe. „Ein feste Burg ist unser Gott“ preist Heine als „Marseillaise der Reformazion“.

Das sollte man nicht vergessen, wenn demnächst ein Reformationsjubiläum gefeiert wird. Die reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts markieren den Beginn jener konfessionellen Pluralisierung des lateinischen Christentums, die ganz neue Denkräume und Lebenswelten religiöser Mündigkeit eröffnete. Und gerade das ist zu einer bis heute prägenden Signatur der europäischen und nordamerikanischen Moderne geworden. Man kann den religiösen Gewinn individueller Freiheit natürlich auch als Verlust an institutioneller Einheit der Kirche bilanzieren. Die von den Reformatoren behauptete Unmittelbarkeit des einzelnen zu Gott lässt sich aber auch als eine Relativierung der kirchlichen Institution deuten, die eine bis dahin unbekannte Vielfalt individueller Lebensführung ermöglicht hat. Jeder kann selbst entscheiden, ob er die konfessionelle Pluralisierung des lateinischen Christentums als Gewinn oder Verlust deuten will. Aber dass man hier selbst entscheiden kann, ist eine späte Folge des reformatorischen Protests gegen kirchliche Herrschaftsansprüche.

Friedrich Wilhelm Graf

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Foto: dpa/Horst Galuschka

Friedrich Wilhelm Graf

Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.


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