Radikale Reformation

2017 im Zeichen des Kampfes gegen das „westliche Ich“
Lucas Cranach d.Ä., Ablasshandel, 1521. Foto: dpa
Lucas Cranach d.Ä., Ablasshandel, 1521 Foto: dpa
„Radicalizing Reformation“ ist der Name und der Anspruch eines internationalen Forschungsprojektes, in dem rund vierzig Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen seit vier Jahren nach der Bedeutung der Reformation für die Gegenwart fragen. Ulrich Duchrow, außerplanmäßiger Professor für systematische Theologie an der Universität Heidelberg, ist einer der beteiligten Wissenschaftler und erläutert die Forschungsergebnisse.

Das Reformationsjubiläum 2017 findet in einer Zeit statt, in der sich Menschheit und Erde in einer großen Krise befinden. Einer Krise, die allerdings eine lange Vorgeschichte hat und die untrennbar mit der zunehmenden Rolle des Geldes und des Denkens in Geldrationalität verbunden ist. Dieses Denken beginnt etwa im achten vorchristlichen Jahrhundert. Konkret: In Griechenland, Israel/Juda, Persien, Indien und China dringen Geld und Privateigentum im Zusammenhang mit der Professionalisierung des Militärs, Entstehung von lokalen Märkten und kalkulierendem, rechnendem Denken in das tägliche Leben ein. Verschuldung, Landverlust und Versklavung von Bauern gehören zu den unmittelbaren Folgen.

Ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert verschärft sich diese Dynamik mit der Prägung von Münzen. Der Expansionismus des Geldes verbindet sich mit imperialer Eroberungspolitik. Diese frühe Phase der geldbestimmten Zivilisation erreicht mit dem Römischen Reich ihren Höhepunkt. Eine neue Phase entwickelt sich im Mittelalter und kommt im Reformationszeitalter zum Durchbruch: die (früh)kapitalistische Zivilisation, die die Moderne eröffnet. Unser Kontext heute ist das Ende dieser Zivilisation, weil diese mit ihrem kapitalgetriebenen Wachstumszwang das Leben auf unserem begrenzten Planeten zunehmend unmöglich macht und sich damit auf lange Sicht selbst zerstört.

Der Glaube an den biblischen Gott und die reformatorische Theologie haben immer wieder auf die verschiedenen Aspekte und Krisen dieser Zivilisation reagiert: Die Propheten seit Amos üben fundamentale Kritik an der neuen Zivilisation, die ökonomisch in die Verschuldung und die Versklavung, politisch in den Imperialismus und anthropologisch in den unsolidarischen, kalkulierenden, egozentrischen, profitorientierten Individualismus führt. Sie rufen nach Gerechtigkeit, Recht und Mitgefühl als Alternative zum Status quo.

Die Entwicklung der Tora seit dem Deuteronomium zielt darauf, genau dies konkret umzusetzen durch Autonomie und Egalität (vergleiche Deuteronomium 15 und Leviticus 25). Als der Hellenismus im dritten vorchristlichen Jahrhundert beginnt, die imperiale Geldzivilisation zu einem totalitären System zu machen, antwortet die entstehende apokalyptische Literatur des Judentums mit der Hoffnung auf das kommende messianische Reich Gottes. Jesus spitzt diese Frage dann auf die Entscheidung zwischen Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit auf der einen und Mammon (Geldvermehrung als „Schätze sammeln“) auf der anderen Seite zu.

Suche nach Befreiung

Paulus sucht nach Befreiung aus dem System, das er von der Macht der Sünde in Form der Gier und damit von Ungerechtigkeit und Götzenverehrung beherrscht sieht (Römer 1,18ff.). Er findet sie von den Rändern her (1. Korinther 1,26ff.) in den vom Geist inspirierten messianischen Gemeinschaften, die die Spaltungen zwischen Juden und Völkern, Herren und Sklaven sowie patriarchalischen Männern und unterworfenen Frauen in gegenseitiger Solidarität überwinden (Galater 3,28). Das heißt, es geht zentral um die kollektive und persönliche Befreiung aus von der Sünde in Form der Gier beherrschten Machtstrukturen auf allen Ebenen.

Wie sehen die Ansätze der verschiedenen reformatorischen Bewegungen aus, wenn man sie von der so kontextuell gelesenen Bibel her in den Blick nimmt? Ein erster Komplex von Fragen betrifft die Gerechtigkeit Gottes. Wie kommt sie in die Welt, wie greift sie in die Geschichte ein? Hier zeigt die neue Paulusforschung, dass seit Augustinus, also seit der Spätantike, in der westlich-theologischen Tradition der gesamtzivilisatorische Ansatz des Paulus auf die Frage des „westlichen Ich“ eingeschränkt wurde. Die Sünde wurde als Erbsünde „entgeschichtlicht“ und die Rechtfertigung gleichsam auf das sündige „Ich“ eingeschränkt. In dieser Tradition steht auch der augustinische Mönch Luther, obwohl er selbst keineswegs bereits dem späteren Individualismus der Moderne verfallen ist. Die Reformation ist also heute neu auf ihre Wurzel, die biblische Botschaft, zu beziehen, somit zu radikalisieren, das heißt von Paulus her: Rechtfertigung meint in diesem Sinne verstanden umfassende Befreiung zur Gerechtigkeit.

Das hat verschiedene Implikationen. „Sünde“ muss vor allem als durch die Gier herrschende Macht verstanden werden, die Menschen zu Mittätern macht. Damit ist das tötende Gesetz bei Paulus konkret als das römische Gesetz des Privateigentums und der imperialen Gewalt zu verstehen, in Dienst genommen von der Sünde. Dieses staatliche Gesetz darf nicht mit der Tora identifiziert werden, denn sie wird von Paulus als heilig bezeichnet. Aber sie kann unter römischen Bedingungen nicht gelebt werden, deshalb muss sie genauso wie die Menschen befreit werden. Das geschieht durch die Bildung inklusiver messianischer Gemeinschaften, inspiriert vom Geist des Messias.

Martin Luther macht später den Fehler, Tora und römischen Nomos einfach gleichzusetzen. An einem Punkt jedoch folgt er strikt dem befreienden Ansatz der Bibel: der Absage an den Mammon. Schon Luthers 95 Thesen von 1517 kämpfen gegen die Käuflichkeit des Heils im Rahmen der Ökonomisierung der Kirche. Ebenfalls ist seine Behandlung des Mammonismus als Religion theologisch zentral, wie aus seiner Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus deutlich wird, wo es heißt: „Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich darauf so steif und sicher, dass er auf niemand nichts gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzet, welchs auch der allgemeinste Abgott ist auf Erden.“ Seine spezifischen Schriften gegen die frühkapitalistische Finanzwirtschaft und den Handel enthalten keine ethischen Allgemeinplätze, sondern sie analysieren konkret die ökonomischen Prozesse, fordern in systemkritischer Absicht die Abschaffung der länderübergreifenden Bank- und Handelsgesellschaften, fordern das strenge Eingreifen der Regierungen in den Markt und so weiter. Luthers Lehre von den zwei komplementären Regimenten oder besser den zwei komplementären Strategien der Liebe Gottes gegen die Herrschaft des Bösen hat nichts mit dem späteren Quietismus und angepassten Luthertum zu tun, sondern fordert Christenmenschen in ihren Berufen zu kritischer politischer Wachsamkeit und Engagement für Gerechtigkeit und Frieden auf.

Luthers Radikalität an dieser Stelle ist den heutigen Dokumenten des reformierten Accra-Bekenntnisses von 2004, der Zehnten Vollversammlung des Weltkirchenrates in Busan 2013 und den Apostolischen Schreiben und Enzykliken von Papst Franziskus vergleichbar. In der englischen Tradition sind hier Figuren wie der mittelalterliche Theologe John Wyclif (um 1320–1384) und der protestantische Reformer und politische Aktivist Gerrard Winstanley (1609–1676) prägend, die die sozialen, ökonomischen und politischen Impulse der Bibel bereits in demokratischer Perspektive aufgenommen haben. Durch solche Ansätze kann Luthers hierarchisch gefasster Kategorienrahmen biblisch partizipatorisch umgestaltet und dadurch seine eigene Intention aktualisiert werden.

Thomas Müntzer und der Täufer Hans Hut haben das aus der Schöpfung wahrnehmbare Evangelium verbunden mit dem biblischen Ansatz bei den Armen (dem „gemeinen Mann“). Das nimmt biblische Ansätze wieder auf, die verschüttet waren, aber heute vor allem von asiatischen Kulturen des Sangsaeng, den afrikanischen des Ubuntu und den indigenen Ansätzen des Sumak kawsay gelernt werden können, um eine gemeinsame Kultur des Lebens zu entwickeln.

Die Friedensfrage ist sehr komplex und in dieser Kürze nicht angemessen darzustellen. Einerseits hat sich Luther intensiv in die Bewegung zur Abschaffung der mittelalterlichen Fehde eingeschaltet (für Konfliktlösungen durch Recht, nicht mit Gewalt). Andererseits hat er mit Hilfe der Lehre vom gerechten Krieg das Eingreifen mit militärischer Gewalt gerechtfertigt. Unter heutigen Bedingungen der Massenvernichtungsmittel ist Kriegführung auch nach diesen Kriterien unmöglich geworden. Hier ist deshalb in der Ökumene zunehmend auf den Pazifismus der Mennoniten gehört worden. Gleichzeitig sind Luthers biblisch zu verwerfende Schriften und Handlungsanweisungen gegen Juden, Muslime, Täufer und Bauern detailliert und kritisch zu analysieren und zu widerlegen. Es gibt zwar Ansätze zur Revision dieser Positionen im Luthertum – wie zum Beispiel den Versöhnungsprozess mit den Mennoniten – aber es fehlt bisher eine generelle Zurücknahme dieser unfassbaren Fehltritte Luthers und ebenfalls Entschuldigungen bei den Betroffenen angesichts der schlimmen Wirkungsgeschichte bis heute. Dies müsste die Revision der theologischen Grundlagen für diese Fehltritte einschließen, die besonders mit der bei Luther fehlenden Unterscheidung zwischen Tora und imperialen Gesetz und der damit verbunden undifferenzierten Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium zu tun haben. Gleichzeitig ist die Anpassung der lutherischen Reformation und späterer Traditionen an imperiale und koloniale Grundmuster neu zu thematisieren. Denn der konstantinische Rahmen, in den Luther aus Angst um die militärische Zerstörung der Reformation vielfach zurückgefallen ist, ist bis heute wirksam. Biblisch geboten ist ein grundsätzlich anderer Ansatz von Gemeinde- und Kirchenaufbau als im konstantinischen Modell, das zumindest in den großen Volks- und Staatskirchen des Luthertums bis heute grundlegend ist. Gerade angesichts des totalitären Systems des imperialen Finanzkapitalismus ist neu zu buchstabieren, wie die Jesusbewegung und Urchristenheit im ebenfalls totalitären Römischen Reich sich von den Rändern der Gesellschaft her aufbaute, Widerstand leistete und attraktive alternative Gemeinschaftsformen und Lebensweisen entwickelte und was dies heute für Gemeinden und Kirchen bedeutet. Beispielsweise vernetzt Kairos Europa, die ökumenische Basisbewegung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, gerade Ortsgemeinden und Gruppen, die gemeinsam mit benachbarten muslimischen Gemeinden und Flüchtlingen nach den Fluchtursachen fragen. Dabei lesen sie Bibel und Koran neu und versuchen, daraus die spirituellen und politischen Konsequenzen zu ziehen.

Für Paulus ist diese subversive Praxis nur durch einen neuen Geist oder genauer den messianischen Geist der Neuschöpfung möglich (vergleiche Römer 8). Angesichts des heute nötigen Engagements für eine andere politisch-ökonomische und zivilisatorische Praxis bedeutet dies eine grundlegende Entprivatisierung der Spiritualität. Das setzt aber auch voraus, dass die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge neu entsteht, und das heißt wiederum, die Konsequenzen auch für zivilen Ungehorsam zu tragen. Das Kreuz, die theologia crucis, ist ein Strukturelement der gesamten Theologie – freilich gekoppelt an die Auferstehung. Denn sonst leitet die Umdeutung des Kreuzes zum Erlösungsinstrument für das „westliche Ich“ in die Irre. Das Kreuz ist zu verstehen als die Folge von Jesu umfassender Identifikation mit den Opfern des gesamten imperialen Systems und der sie tragenden Zivilisation, in der alle Menschen Mittäter werden. Damit kann auch der theologische und kirchliche Ansatz heute nur an der Seite dieser Opfer beginnen. Dazu ist tägliche Umkehr nötig und möglich – womit erneut die erste von Martin Luthers 95 Thesen bestätigt ist, die da lautet: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Diese These sollte deshalb die zentrale Botschaft des Reformationsjubiläums 2017 sein!

Aber die Fronten haben sich sowieso verkehrt: Papst Franziskus, der sagt „diese Wirtschaft tötet“, ruft auch die protestantischen Kirchen dazu auf, zu den Wurzeln der biblischen Botschaft zurückzukehren und sich aus der kapitalistischen Zivilisation, in die wir alle auch persönlich verstrickt sind, befreien zu lassen und gemeinsam mit den Armgemachten und der leidenden Kreatur eine neue Kultur des Lebens zu bauen.

Information:

Die Zusammenfassung aller Studien, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, sind zu finden auf der Website des Projektes. Zudem ist unter der Mit-Herausgeberschaft von Ulrich Duchrow die Buchreihe „Die Reform radikalisieren“ erschienen, die in fünf Bänden die Ergebnisse der Arbeit dokumentiert. Für die Arbeit mit Gemeindegruppen hat das Netzwerk Kairos Europa eine Arbeitshilfe unter dem Titel Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise. 94 Thesen und ihre Begründung. herausgegeben.

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