Der Überraschungscoup

Vor zehn Jahren erschien das EKD-Impulspapier zur Kirchenreform
Der damalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber auf dem EKD-Zukunftskongress in Wittenberg, Januar 2007. Foto: epd-bild/Hanno Gutmann
Der damalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber auf dem EKD-Zukunftskongress in Wittenberg, Januar 2007. Foto: epd-bild/Hanno Gutmann
Im Juli 2006 veröffentlichte der Rat der EKD mit „Kirche der Freiheit“ einen Text, der die Zukunft der Kirche in Deutschland in den Blick nahm und bis heute für Diskussionen sorgt. Der Journalist Rainer Clos erinnert an das umstrittene Papier.

Kaum ein anderer Text der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat innerkirchlich für so viel Resonanz gesorgt wie „Kirche der Freiheit“. Mehr als 40000 Exemplare des Impulspapiers mit dem Untertitel „Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ wurden innerhalb von wenigen Monaten nach der Präsentation Anfang Juli 2006 angefordert, und eine Viertel Million Aufrufe gab es in kurzer Zeit im Internet. Das 100 Seiten starke Papier zählt damit zu einer der auflagenstärksten Veröffentlichungen der EKD. Warum hat das Impulspapier, wenige Tage vor dem Finale der WM 2006 in Deutschland veröffentlicht, eine derart breite Wirkung entfaltet?

Nicht zuletzt liegt dies wohl daran, dass mit dem kirchenpolitischen Reform-Impuls, der im deutschen Protestantismus keine Parallele kennt, ein Überraschungscoup mit erstaunlichen Aussagen gelang, noch dazu lanciert von starken Protagonisten. Vorbereitet hatte den Text eine Kommission aus zehn Mitgliedern von Rat und Kirchenkonferenz sowie externen Beratern unter Leitung des EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber. Das Papier zeigt in einer ungeschminkten Bestandsaufnahme der kirchlichen Situation auf, was passiert, wenn nichts passiert: Denn das Weiter-so-Szenario besagt, dass die evangelische Kirche bis 2030 aus demographischen Gründen mit einem Mitgliederrückgang um ein Drittel und bei der Finanzkraft mit Einbußen um knapp die Hälfte rechnen muss. Ohne Kurskorrekturen sei die Kirche in wenigen Jahren auf Grund „des hochexplosiven Gemischs aus Versorgungskosten, Teuerungsrate und schrumpfenden Einnahmen“ nicht mehr handlungsfähig, wird gewarnt.

Als Gegengewicht zu dieser Abwärtsspirale und verbreiteter Resignation skizziert das Impulspapier nach dem Motto „Es geht wirklich was“, wie die evangelische Kirche in Deutschland 2030 aussehen soll und wirbt eindringlich für ein „Wachsen gegen den Trend“ durch kühne Reformen und flexiblere Strukturen. „Im Jahr 2030 ist die evangelische Kirche nahe bei den Menschen. Sie bietet Heimat und Identität für die Glaubenden und ist zuverlässiger Lebensbegleiter für alle, die dies wünschen“, heißt ein Reformziel.„Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität“, „Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit“, „Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen“ und „Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit“ werden in dem Impulspapier als Leitplanken für den notwendigen Reformprozess markiert. Als dessen vier Schlüsselbereiche werden Veränderungen in den kirchlichen Kernangeboten, bei allen kirchlichen Mitarbeitenden, beim kirchlichen Handeln in der Welt sowie in der kirchlichen Selbstorganisation beschrieben. Zentrale Voraussetzung für einen Aufbruch hin zu einer missionarischen und für neue Chancen sensiblen evangelischen Kirche sei ein Mentalitätswandel.

Bisherige Strukturen und Arbeitszweige müssten überprüft werden: „Wer sich nicht mehr alles leisten kann, muss Aufgabenschwerpunkte setzen.“ Die EKD empfiehlt eine Konzentration auf Kernangebote und eine Durchforstung kirchlicher Strukturen auf allen Ebenen. In zwölf Eckpunkten („Leuchtfeuern“) werden neue Gemeindeformen, Qualitätsstandards, thematische Schwerpunkte, Intensivierung der Bildungsarbeit, Halbierung der Zahl der Landeskirchen sowie Verringerung der Pfarrerzahl vorgeschlagen. Für das Jahr 2030 nennt die EKD als Ziel, den Gottesdienstbesuch als kirchlichem Kernangebot von vier auf zehn Prozent mehr als zu verdoppeln. Zu dieser Steigerung sollen Qualitätsstandards bei Gottesdienst, Taufe, Trauung und Bestattung sowie eine größere Vielfalt bei den Angeboten in den Gemeinden beitragen.

Die weit verzweigte Gemeindestruktur müsse verändert werden, lautet ein Befund in dem Papier. Als Ergänzung zu den herkömmlichen Territorialgemeinden wird empfohlen, in Zukunft verstärkt auf neue Beteiligungsformen wie „Profilgemeinden“ mit geistlichen, kirchenmusikalischen, sozialen, kulturellen oder jugendbezogenen Schwerpunkten, sowie auf „Passantengemeinden“ wie „Citykirchen“ oder Kirchen an Urlaubsorten zu setzen. Attraktive Begegnungsorte sollen einer Milieuverengung entgegenwirken und veränderten Erwartungen von Kirchenmitgliedern entgegenkommen.

Die Gesamtzahl der Pfarrer soll dem EKD-Papier zufolge von rund 22000 auf 16500 im Jahr 2030 zurückgehen. Zugleich wirbt „Kirche der Freiheit“ dafür, den Beruf des Pfarrers als „Schlüsselberuf“ der evangelischen Kirche zu stärken und das Engagement von Freiwilligen zu steigern. Die Diakonie wird in dem Impuls als „zentrales Handlungsfeld einer sich auf ihre Stärken konzentrierenden evangelischen Kirche“ beschrieben. Im Zusammenhang mit Themenmanagement wird konkret empfohlen, bis zum Reformationsjubiläum 2017 jedes Jahr eine spezifische Thematik in den Blick zu nehmen, „die durch geeignete Kommunikationsstrategien bundesweit die Bedeutung der Reformation und ihrer geschichtlichen Folgen sowie das Profil evangelischen Glaubens ins Bewusstsein hebt“.

Weniger Landeskirchen

Im Hinblick auf die föderale Struktur und Selbstorganisation der evangelischen Kirche wird in dem EKD-Papier festgestellt: „Im Jahre 2030 sollte es zwischen acht und zwölf Landeskirchen geben, die an den Grenzen der großen Bundesländer orientiert sind und jeweils nicht weniger als eine Million Mitglieder haben.“ Zu den Finanzproblemen wird vorgeschlagen, ergänzend zu Kirchensteuer und ausgabengebundenen staatlichen Mitteln neue Einnahmequellen zu erschließen, etwa über Fundraising. Künftig sollte ein Fünftel aller kirchlichen Einnahmen aus zusätzlich eingeworbenen Mitteln stammen.

Als Aufgaben der EKD nennt das Impulspapier: „In inhaltlichen Fragen formuliert sie gemeinsame Qualitätsstandards, auf juristisch-finanzieller Ebene bemüht sie sich um annähernd gleiche Arbeitsbedingungen, und in thematischen Bereichen initiiert sie Kompetenzzentren und organisatorische Dienstleistungszentren.“ Aufgelistet werden Zentren für Organisationsberatung und Management, für Fundraising und Stiftungswesen, für Gottesdienst, Predigt und Kirchenmusik, für den interreligiösen Dialog, den Dialog mit gesellschaftlichen Multiplikatoren sowie für Führungsämter in Kirche und Diakonie.

Die Bandbreite der Reaktionen auf dem Reformimpuls aus Hannover reichte von Zustimmung zu der nüchternen Analyse und den daraus folgenden Reformbestrebungen bis zu kritisch-konstruktiven Einwänden gegen das Gesamtkonzept und einzelne Thesen. Selbst bei Kritikern des Papiers fand der Impuls selbst grundsätzlich Zustimmung. „Es ist gut, dass sich die evangelische Kirche konkret Gedanken gemacht hat, wie es weitergehen kann“, sagt etwa die Theologieprofessorin Isolde Karle.

Während in den Medien die EKD für den radikalen Klartext des Papiers auch im Hinblick auf „kirchliche Schwachstellen“ und dessen mutige Zielrichtungen überwiegend Beifall fand, fielen die kirchenpolitischen Reaktionen eher verhalten aus. Der Publizist Robert Leicht, ehemaliges Ratsmitglied, überzeichnete die kritischen Einwände gegen das Impulspapier einmal mit der Formel: „Die lokale Geistlichkeit murrte weithin, weil nun auf einmal auch nach ihrer persönlichen Leistung gefragt werden sollte. Die Synode maulte, weil sie nicht vor dem Startschuss um Erlaubnis gefragt worden war, als ob sie jemals selbst zu solch einer Initiative in der Lage gewesen wäre. Und viele Professoren hätten lieber erst ein Dogmatik-Seminar vorgeschaltet, bevor über ordinäre praktische Probleme geredet wird.“

Vor allem Leuchtfeuer elf von „Kirche der Freiheit“, das von acht bis zwölf Landeskirchen im Jahr 2030 spricht, löste in kleineren Landeskirchen Besorgnisse aus. Den hitzigen Reaktionen folgte rasch die Klarstellung, dass niemand anders als die Landeskirchen selber Fusionsprozesse in Gang setzen und zu einem guten Ergebnis führen können. Strukturelle Weichenstellungen lägen allein in deren Verantwortung.

Keine Instanz der EKD habe die Macht, über die Zukunft der kleinen Gliedkirchen zu entscheiden, wurde versichert angesichts von Vorwürfen, die Reformvorschläge zielten auf Zentralisierung in der EKD. Bischof Huber hielt Verfechtern des Kirchturmdenkens entgegen: „Strukturkonservativismus ist keine kirchliche Tugend.“ Dass das heftig umstrittene Leuchtfeuer zu den Landeskirchengrenzen gleichwohl nicht ohne Wirkung blieb, lässt sich indessen nüchtern bilanzieren. Seit der Veröffentlichung des Impulspapiers hat sich die Zahl der Landeskirchen von 23 auf 20 verringert – vornehmlich durch Zusammenschlüsse in den neuen Bundesländern.

In den ersten Rückmeldungen erntete das Impulspapier viel Kritik dafür, dass es ein Übermaß an wirtschaftlichen, speziell betriebswirtschaftlichen Kategorien enthalte: Marktverlust im Bereich des Kerngeschäfts, Tauf- und Trauquote, Qualitätsmanagement und Benchmarking wurden als Beispiele für ökonomisches Denken zitiert, die in den Verdacht mündeten, die Kirche soll wirtschaftlichen Strukturen angepasst werden. Von den Verfassern wird dieser Rückgriff auf die Wirtschaftssprache als „Sprachspiel“ verteidigt, die Kritik auch als Ausdruck protestantischer Wirtschaftsfremdheit gedeutet. Als „Tabubruch“ wurde zudem empfunden, dass in „Kirche der Freiheit“ die Qualität der Pfarrtätigkeit thematisiert wird.

Akademische Schelte

Neben kritischen Rückfragen zu Defiziten des Papiers – Ökumene, soziale Gerechtigkeit und wissenschaftliche Theologie wurden etwa als Leerstellen ausgemacht – gab es auch akademische Schelte. Dort lautete ein Einwand, dem Text fehle es an theologischem und spirituellem Tiefgang – Kirche werde zu sehr als menschliches Werk und zu wenig als Werkzeug des Heiligen Geistes verstanden. Nicht selten war auch die Neigung kirchlicher Lobbyisten zu spüren, das Impulspapier daraufhin abzuklopfen, ob das eigene Arbeitsfeld im rechten Licht erscheint und wie der Text für partikulare Interessen umgedeutet werden kann.

Mit dem Zukunftskongress in Wittenberg Anfang 2007 wollten die Initiatoren vermeiden, dass der Impuls – überfrachtet durch eine Fülle von Vorschlägen – dahinplätschert und das Papier in den Bücherregalen verstaubt. „Avanti Protestanti“ ermunterte die engagierte Katholikin und damalige RBB-Intendantin Dagmar Rein in Wittenberg die knapp 300 Kongressteilnehmer.

Durch die Konzentration auf wenige Projekte wurde angestrebt, dass aus dem Impuls auch Reformbereitschaft und -stimmung erwachsen muss. Konkrete Verabredungen führten zur Bildung einer Steuerungsgruppe für den Reformprozess „Kirche im Aufbruch“ sowie zur Etablierung von Kompetenzzentren. Bischof Huber: „Hindernisse für den Zugang zum Glauben wollen wir abbauen, wenn wir in der EKD, einer Abstimmung zwischen Synode, Kirchenkonferenz und Rat folgend, die Arbeit an der Qualität von Gottesdiensten und Kasualien, die Förderung der Mission in der Region und die Befähigung zu Führung und Leitung ins Zentrum unserer Reformbemühungen stellen.“ Dabei stand die Einsicht Pate, dass die Umsetzung von Reformen nur in den Landeskirchen passieren kann.

Wissenschaftliche Symposien, Akademietagungen und Workshops griffen den Reformimpuls in vielfältiger Form auf. Unterschiedlichste Initiativen und Projekte wie Glaubenskurse, Kirchen-App und die Praxisplattform „geistreich“ wurden an den Reformprozess angedockt, das Thema „Kirche in der Fläche“ zu einem weiteren Schwerpunkt gemacht.

Regelmäßig wird der Synode über den Fortgang des Reformprozesses berichtet. Relativ ernüchtert fallen die Schlussfolgerungen aus, die der 2014 in Dresden vorgelegte Bericht aus den Erkenntnissen der jüngsten Studie der EKD zur Kirchenmitgliedschaft zieht. Die kühnen Annahmen über Rückenwind für die Veränderungen durch einen Großtrend „Rückkehr der Religion“ haben sich nicht bestätigt. Neben positiven Aufbrüchen sei auch eine gewisse Reformmüdigkeit zu registrieren.

„Schnelle Erfolge stellen sich nicht wie erhofft ein, der organisatorische Wandel in der Kirche braucht einen langen Atem“, folgert das Dokument. Nachdem der Reformprozess „auf der richtigen Ebene angekommen“ ist, sollte eine Weiterarbeit an der Reorganisation kirchlicher Strukturen dezentral auf den verschiedenen Ebenen der Landeskirchen verfolgt werden. „Neue organisatorische Reformimpulse aus der Zentralperspektive erscheinen daher gegenwärtig weder wünschenswert noch notwendig“, hält der Bericht fest. Ob das Programm zur Reform der evangelischen Kirche einen neuen Impuls erfährt, wenn alle Messen zum Reformationsjubiläum gelesen sind, darf deshalb mit einem Fragezeichen versehen werden.

Das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ vom 5. Juli 2006 kann im Internet heruntergeladen werden.

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Rainer Clos

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