Aktuell

Muslimische Wohlfahrt
Bild
Indirekt macht das Buch deutlich, wie reformbedürftig das Arbeitsrecht der christlichen Kirchen ist.

Zur Signatur unserer Gesellschaft gehören zurzeit die religiös-weltanschauliche Pluralisierung sowie der Strukturwandel im Sozial- und Gesundheitssystem. Dies schlägt auf ein Thema durch, das künftig intensiv diskutiert werden muss: Die Bevölkerungsgruppe der Muslime möchte eine eigene religiöse Wohlfahrtspflege einrichten. Hierüber informiert das vorliegende Buch, das zwei Fachvertreter der Islamischen Theologie von der Universität Osnabrück verfasst haben.

Die Autoren betonen den Barmherzigkeitsgedanken im Islam, schildern die Erwartungen hier lebender Muslime und fordern, in Deutschland muslimische Wohlfahrtseinrichtungen einzurichten. Diese sollen dem Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß einen Status erhalten, wie er für die Kirchen gilt. Aus der Diaspora heraus könnten sie dann sogar für die Sozialarbeit in arabischen Staaten zum Vorbild werden.

Die Bezugnahme des Buches auf Caritas oder Diakonie fällt allerdings zwiespältig aus. Die kirchlichen Einrichtungen werden deutlich kritisiert. Dieser Kritik ist zuzustimmen. Ihr Brennpunkt besteht darin, dass kirchliche Träger noch immer, wenigstens theoretisch, prinzipiell auf christliche Geschlossenheit beharren. Oft sind sie nicht bereit, Muslime als Mitarbeiter, gar als leitende Mitarbeiter zu akzeptieren. Um die im Buch genannten Beispiele noch zu ergänzen: Laut Kirchengesetz der rheinischen Landeskirche darf eine Muslimin, die ausnahmsweise in einer Kindertagesstätte beschäftigt wird, noch nicht einmal eine Gruppenleitung übernehmen. Mit solchen Vorgaben unterlaufen kirchliche Träger das ethische Gebot der Toleranz und erschweren die Integration. Hiervon hebt sich eine Neuerung ab, die das Buch erwähnt: Der Paritätische Wohlfahrtsverband in nrw hat eine Richtgröße zugunsten der Einstellung und Tätigkeit von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund eingeführt.

Obwohl das Buch die kirchlich getragenen Einrichtungen kritisiert, dienen sie ihm andererseits als Modelle für die angestrebte muslimische Wohlfahrtspflege. Mit diesem Vorstoß verbinden sich jedoch etliche Probleme und Fallstricke, die das Buch zum Teil auch anspricht. Zu ihnen gehören die Heterogenität im Islam, der keine Kirchenstruktur kennt, die Schattenseiten der derzeitigen muslimischen Verbände oder die Gefahr, dass die große Gruppe der säkular lebenden Muslime übergangen wird. Letztlich schwebt den beiden Autoren ein muslimisches Wohlfahrtssystem nach dem Muster des kirchlichen Arbeitsrechts vor. Anklingend an katholisches Recht meinen sie sogar, es müsse konkretisiert werden, inwiefern muslimische Arbeitgeber in das Privatleben ihrer Arbeitnehmer eingreifen dürfen.

Hiermit rezipiert das Buch allerdings ausgerechnet solche kirchlichen Normen, die hinsichtlich der Arbeitnehmergrundrechte problematisch sind. Die aktuellen Streitfragen des kirchlichen kollektiven Arbeitsrechts - zum Beispiel Tarifverträge, Streikrecht - hat es ganz ausgeklammert.

Indirekt macht das Buch deutlich, wie reformbedürftig das Arbeitsrecht der christlichen Kirchen seinerseits ist. Eine wichtige Anschlussfrage, die sich aus ihm ergibt, betrifft die staatliche Rechtspolitik. Der Staat wird muslimische Belange in der Sozialordnung substanziell besser berücksichtigen müssen als bislang. Zugleich wird er aber darauf zu achten haben, dass keine neuen religiösen Nebenrechtsordnungen entstehen.

Hartmut Kreß

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Rezensionen