Merkels Fehler

Was die Geschichte für den Umgang Europas mit der Flüchtlingskrise lehrt
Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze, September 2015. Foto: dpa/Arpad Kurucz
Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze, September 2015. Foto: dpa/Arpad Kurucz
Die Flüchtlingskrise stellt Europa weiterhin vor große Fragen, eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht. Kann ein Blick in die Geschichte helfen? Der polnische Historiker Jan Piskorski, Experte für europäische Migrationsgeschichte, blickt auf die gegenwärtige Politik und vergleicht sie unter anderem mit der Situation in Griechenland vor rund 2500 Jahren.

Am 5. September 2015 entschied Angela Merkel, die deutsche Grenze für mehrere Tausend Flüchtlinge aus Ungarn zu öffnen. Damit stellte die Kanzlerin Deutschland vor eine große Herausforderung. Zwar nahm das Engagement für Flüchtlinge hierzulande erstaunliche und bewundernswerte Ausmaße an. Der Ruf „Refugees welcome” war in aller Munde. Als der Slogan im Januar 2016 jedoch zum Anglizismus des Jahres gekürt wurde, war die Hochstimmung bereits verflogen. Angela Merkel sah sich in den Reihen der eigenen Partei, in Deutschland und in Europa wachsendem Widerstand gegenüber. Mit Europa im Munde war Angela Merkel zunehmend in Europa isoliert. Nicht einmal die Polen und die Franzosen verstanden sie, obwohl die Bevölkerung dieser Länder laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ansonsten noch am ehesten die europäische Politik Deutschlands unterstützt.

Als die Kanzlerin die Grenze für die Flüchtlinge aus Ungarn öffnete, rechnete sie gewiss nicht damit, dass Millionen Menschen an den Grenzen Europas diese Geste als Einladung verstehen. Dass dies die Entscheidung ihres Lebens war, war ihr offenbar nicht bewusst, denn sie hat diese für Europa fundamentale Frage im Vorfeld mit ihren Partnern nicht besprochen. Vielleicht ging es ihr auch darum, dem in der europäischen Politik unbeliebten ungarischen Premierminister Viktor Orbán einen Denkzettel zu verpassen? Anders ist ihre Entscheidung kaum zu verstehen. Sollte das der Fall gewesen sein, ist nun festzustellen: Es ist ihr nicht gelungen. Victor Orbán lässt sich nicht beirren und richtet stattdessen gemeinsam mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl Mahnungen an Merkel und die deutsche Politik.

Die Flüchtlingskrise dauert seit Jahren an und die Länder an der Südflanke der Europäischen Union hatten schon vor dem vergangenen Sommer bereits mehrfach an die europäische Solidarität appelliert. Berlin hatte stets harsch und ablehnend geantwortet. „Italien muss sein Flüchtlingsproblem selbst regeln”, bekam etwa der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi im April 2011 zu hören. Bereits zuvor drohten Koalitionspolitiker von CDU und CSU Italien damit, zeitweilig Kontrollen an der deutschen Grenze einzuführen. Noch 2014, ja sogar 2015, als die Flüchtlingslager von Ägypten bis in die Türkei bereits aus allen Nähten platzten, kürzten die Länder Europas – mit Ausnahme der Niederlande – Gelder für die Hilfsfonds, so dass Mitte 2015 die Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern kleiner wurden. Die enttäuschten Flüchtlinge machten sich auf Richtung Europa, das von ihrer Ankunft überrascht schien. Es ist gut und richtig, dass Angela Merkel nun versucht, die Büchse der Pandora wieder gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten zu schließen. Geöffnet wurde sie jedoch in Berlin – und zwar ganz und gar ohne Europa.

Verfehlte Ziele

Wer gesellschaftliche Prozesse aus langfristiger Perspektive verfolgt, der weiß, dass die erzielten Resultate selten dem beabsichtigten Ziel entsprechen. Das Menschliche ist glücklicherweise unvorhersehbar, insbesondere dort, wo die Interessen vieler Menschen und Institutionen aufeinandertreffen. Auf kurze Sicht ist die Wahrscheinlichkeit, durch kluge Führung Erfolg zu haben, in der Politik zwar viel höher als im Roulette. Auf lange Sicht hingegen, wenn wir in Jahrtausenden denken, ist das Handeln der Politiker relativ bedeutungslos, genau wie das Handeln der meisten übrigen Menschen. Zwar gibt es Ausnahmen, doch handelt es sich dabei um Gestalten, die, was immer man über sie sagen mag, gleichsam nicht von dieser Welt sind: Buddha – der Asket aus fürstlichem Geschlecht, Jesus – der Verteidiger der Sünder, ein Zimmermannssohn aus Nazareth, und Mohammed – das des Lesens unkundige Waisenkind, das aus einer Kaufmannsfamilie stammte und sich um Witwen kümmerte. Was sie verbindet ist, dass sie nicht über das Wirtschaftswachstum nachdachten, sondern über die Ungerechtigkeit, die aus sozialen Unterschieden erwächst.

Es gehört nicht zu den Aufgaben des Historikers, Angst vor der Zukunft zu machen. Wir sehen, dass Europa seit 1989 mit größten Problemen zu tun hat. An vielen Grenzen herrscht Krieg, woanders gibt es keinerlei staatliche Strukturen. Sogar in der Türkei, auf die Europa bei der Lösung der Flüchtlingskrise zählt, herrscht Bürgerkrieg mit den Kurden. Mit einem Satz: Zu viel um Europa ist in Brand, um die Hoffnung zu haben, die Krise wird schnell vorbei sein. Eine klare Lösung gibt es nicht, auch nicht auf kurze Sicht. Man muss im Nebel handeln. Hinzu kommt, dass Europa keine klare einende Idee hat, ganz im Gegensatz zu den Kriegern des Dschihad, denen es gelingt, junge Menschen aus der ganzen Welt zu gewinnen.

Die gegenwärtige Lage Europas erinnert an die Griechenlands im fünften Jahrhundert v. Chr., nach dem Sieg über die Perser und vor dem Peloponnesischen Krieg. Zwischen beiden Ereignissen lagen etwas mehr als zwanzig Jahre. Die griechischen Stadtstaaten waren vor allem mit der auch heute so modischen Geschichtspolitik befasst und vermochten es nicht, sich zu einigen. Die einen verbündeten sich mit Athen, andere mit Sparta, die ihrerseits darum stritten, wer die griechischen Interessen besser vertrete. Ein dreißigjähriger Bürgerkrieg löste die Probleme und ließ Hellas in Ruinen zurück. Der Egoismus der griechischen Stadtstaaten zerstörte die hellenische Gemeinschaft just in dem Moment, als die griechische Kultur ihren Höhepunkt erreicht hatte.

„Jeder Gast oder Bettler kommt von Zeus“, pflegten die alten Griechen mit Homer zu sagen. Euripides klagte, die Welt gehe vor die Hunde, nicht einmal das Kirchenasyl werde beachtet. Kann man, so fragt er – und es klingt wie ein Beitrag zur gegenwärtigen Debatte – sich frei fühlen in einem Land, das den Ratlosen nicht hilft? Ist ein solches Land noch eine Demokratie? Kann man in dieser Angelegenheit schweigen oder bedeutet schon allein das Schweigen das Übel? Es gibt kaum eine wichtige Menschheitsfrage, mit der sich die alten Griechen kurz vor ihrem Niedergang nicht beschäftigten. Sie kannten diese Fragen, die Dichter rangen mit ihnen, und doch schaffte es niemand, eine praktische Lösung für sie zu finden. Was es für die die antiken Griechen leichter machte, war, dass die Flüchtlinge dem eigenen Kulturkreis entstammten. Von außerhalb Hellas kamen nur wenige einflussreiche Personen, die nach dem Wechsel der Machtverhältnisse wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Ganz im Unterschied zu den modernen Migrationsbewegungen seit dem Zerfall der Kolonialordnung in den Sechzigerjahren. Die Flüchtlinge stammen zum Großteil aus anderen Kulturkreisen, haben oftmals eine andere Hautfarbe und denken meist nicht an eine Rückkehr. Wenn an den Grenzen der hellenischen Welt Kulturen auf diese Weise aufeinandertrafen, endete es oft blutig: Die Verlierer wurden ermordet, verkauft oder vertrieben.

Recht und Praxis sahen die Begegnung unterschiedlicher Kulturen in großem Maßstab nicht vor. Dort, wo sich die Kulturen begegneten, in den großen Handelsmetropolen, wohnten verschiedene Gruppen in verschiedenen Stadtteilen. Wer das Ghetto verließ, tat dies immer, um sich auf die Leitkultur zuzubewegen. Der Theologe und politische Philosoph Hugo Grotius schrieb 1625, die Nation sei wie ein großer Fluss, den zahlreiche Zuflüsse speisen. Der Zufluss neuer Elemente sei nicht gefährlich, solange der Fluss seinen Geist bewahrt. Noch vor ein paar Jahrzehnten betrachtete man in Europa Assimilation als Norm.

Die gegenwärtige Migrationskrise, die sich weltweit mehr und mehr ausbreitet, könnte man als Vorboten einer Rückkehr in eine Zeit sehen, in der Menschen sich, je nach Klima-, Wetter- und Kräfteverhältnissen, in großen Gruppen von einem Ort zum anderen bewegten. Es scheint, als habe die Menschheit jenen Punkt erreicht, auf den die Natur in den letzten zehntausend Jahren zustrebte: die biologische Homogenisierung der Welt. Die Natur erreichte Vereinheitlichung durch den Kampf auf Leben und Tod. Wir Menschen hingegen können Chancen für schrittweise Veränderungen suchen, indem wir immer neue Kompromisse aushandeln. Ob die Menschheit die Notwendigkeit dieser Kompromisse rechtzeitig erkennen wird, vermag ich nicht vorherzusagen. Im Moment schaffen wir es, weder die Ressourcen auf der Welt gleichmäßig zu verteilen, noch politisch und ökologisch motivierte Flüchtlingsbewegungen einigermaßen freizügig zu gestalten. Zudem wissen wir nicht, wie wir mit „inkompatiblen Ankömmlingen” umgehen sollen.

In diesem Bereich hat Europa besonders viel auf dem Gewissen. Es entledigte sich seiner Juden und bot den Christen, die vom Islamischen Staat ermordet werden, keine Hilfe an. Auch jene Staaten, die lautstark zur Verteidigung der christlichen Identität Europas aufrufen, leisteten keine Hilfe. Zwar zählte Lord George Weidenfeld Polen im letzten Interview vor seinem Tod zu den wenigen Ländern, die sich für die Probleme der Christen im Nahen und Mittleren Osten interessieren, doch größere Hilfe kam auch aus diesem Land nicht. Dabei sollte Polen seine Solidarität mit den Ländern Südeuropas zeigen, nicht nur aus ethischen, sondern auch aus pragmatischen Gründen. Polen gehört nämlich zu den Grenzländern Europas und kann, sogar in Kürze, die gleichen Probleme haben wie Italien oder Griechenland.

Wie alle wichtigen Phänomene in der Geschichte haben auch Migrationsbewegungen zwei Seiten. Sie sind die Hauptschlagader der Welt, und sie bringen zugleich Gefahren. Für eine glaubhafte Politik ist es wichtig, beides zu benennen. Denn es zeichnet sich ein klarer Trend in der Weltgeschichte ab: Die Menschen werden sich innerhalb weniger Jahrhunderte vermischen, und so wird der Prozess der Homogenisierung auf unserem Planeten zu seinem Abschluss kommen. Die Hautfarbe wird keine Rolle mehr spielen, gemeinsame Werte zweifellos, wenn wir eine funktionale Gemeinschaft bleiben wollen. Die Offenbarung des Johannes verheißt uns ein Leben in einer Stadt mit offenen Toren. Fragt sich nur, ob es uns gelingen wird, Armageddon, die schreckliche Schlacht an der Schwelle des glücklichen Neuen Jerusalem, zu vermeiden.

Rationales Handeln

Prognosen für den Verlauf der Geschichte sind schwer zu treffen. Ratschläge kann man aber formulieren, weil Geschichte eine imposante Datenbank der Menschen ist. Man kann ihr entnehmen, dass Grenzmauern niemanden auf Dauer zu schützen vermochten. Allerdings können sie in Verbindung mit anderen Maßnahmen die Lage vorübergehend beruhigen. Andere Lösungen haben wir zurzeit einfach nicht und Millionen von Kriegs- und Umweltmigranten kann Europa auf einen Schlag nicht verkraften. Eine automatische Verteilung der Flüchtlingskontingente auf die Länder Europas lenkt die Diskussion auf einen Holzweg. Erstens will niemand eine solche Verteilung. Zweitens wäre sie das falsche Signal für Afrika und Asien. Und vor allem würde sie die Probleme nicht lösen, da die Flüchtlinge aufgrund der Unterschiede im Lebensstandard in Europa am Ende doch in wenigen reichen Ländern landen werden. Stattdessen sollte an einer Angleichung der Flüchtlingshilfe in den verschiedenen Ländern Europas gearbeitet werden.

Zeitgleich mit der Schließung der Grenzen für illegale Migranten sind weitere Schritte zu unternehmen. Die Kanäle für legale Einwanderung müssen weiter geöffnet werden, insbesondere für Migranten, die wir aus wirtschaftlichen Gründen brauchen und die sich zugleich gut integrieren. Doch auch diejenigen, die am dringendsten Hilfe benötigen, sollten leichter einreisen können, auch wenn man ihnen von Anfang an verdeutlichen muss, dass sie – wie früher die Flüchtlinge aus Jugoslawien – nach dem Ende des jeweiligen Konflikts in ihre Heimat zurückkehren müssen. Auch diese Rückkehr sollte die Europäische Union erleichtern und zwar in Form einer in allen Mitgliedstaaten der EU gleich hohen finanziellen Hilfe. Zudem muss Europa dabei helfen, in den Heimatländern der Migranten für bessere Lebensumstände zu sorgen.

Was wir jetzt brauchen, sind nicht Emotionen, sondern Mäßigung und Realismus. Am Ende läuft alles auf rationales Handeln in ausgewählten Bereichen hinaus, weil wir nicht allen Menschen auf der Welt helfen können. Für die Länder Europas wäre es auch wichtig, aus einem Paket, das für die gesamte Europäische Gemeinschaft vorbereitet wird, je nach ihren Bedürfnissen, ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihren historischen Erfahrungen auswählen zu können. Wenn diese unbeachtet bleiben, kann sich das gegen sie selbst und gegen die Europäische Union als Ganzes kehren. Es ist amüsant, dass man im Namen der Vielfalt eine Uniformisierung verordnen möchte. Und das angeblich im Namen der Moderne, eine beliebte Argumentation in den vergangenen hundert Jahren! Es ist traurig, dass oftmals gerade diejenigen, die vor kurzem erst die kulturelle Vielfalt Mittel- und Osteuropas zerstört haben, unverzügliche Vielfalt als einzigen Ausweg empfehlen. Ein Sieg der Vielfalt kann nicht einfach ausgerufen und einem Volk aufgedrängt werden. Man darf sie nicht nur fordern, sondern muss auch eine Idee haben, wie sie funktioniert. Es ist nicht auszuschließen, dass die Geschichte eine bisher nur ihr selbst bekannte Überraschung bereithält. Wir selbst verfügen nicht über universale Lösungen. Was wir besitzen, ist Wissen über die Natur des Menschen und die Dynamik gesellschaftlicher Phänomene, das uns nahelegt, nicht untätig auf ein Wunder zu warten. Gewiss, ein solches Wunder kann jederzeit ganz überraschend geschehen, man denke nur an die Abschaffung der Jahrtausende währenden Sklaverei, an deren Möglichkeit Aristoteles nicht hatte glauben wollen. Solange der Traum vom Paradies lebendig ist, kann man das Paradies als Möglichkeit nicht ausschließen. Der Traum von einer besseren Welt sowie die Liebe – sogar in den Berichten aus der Hölle vorhanden –, ließen die Menschen, so oft sie auch strauchelten, immer wieder aufstehen.

Jan Piskorski

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