Gott ist im Werden

Die Evolution hat Religion hervorgebracht und verändert
Durch eine Glasscheibe getrennt: Verwandte im Erlebniszoo Gelsenkirchen. Foto: dpa/ Caroline Seidel
Durch eine Glasscheibe getrennt: Verwandte im Erlebniszoo Gelsenkirchen. Foto: dpa/ Caroline Seidel
Kirche und Theologie sollten den christlichen Glauben konsequent als Teil der Evolution des Lebens betrachten, fordert der evangelische Theologe Wolf-Rüdiger Schmidt, der bis 2001 die ZDF-Redaktion „Kirche und Leben“ leitete. Auch Erkenntnisse der Mystik könnten eine „Evolutionäre Religionstheorie“ befördern.

Nichts macht Sinn, außer man betrachtet es im Lichte der Evolution.“ Auf diese Feststellung des Evolutionsforschers und Mitbegründers der Synthetischen Theorie Theodosius Dobzhansky (1900–1975) stieß ich vor einigen Jahren, als ich mich für eine Fernsehdokumentation monatelang mit den großen Menschenaffen befasste. Zuvor war ich bei einer Produktion in Nordkenia auf die Trockenschluchten aufmerksam geworden, in denen der Paläoanthropologe Louis Leakey und seine Frau Mary mit großem Erfolg nach prähistorischen Spuren von Früh- und Vormenschen suchten.

Bereits seit den Siebzigerjahren rückten Fragen nach der langen Vorgeschichte des Menschen und den biologischen Wurzeln seiner Natur und seines Verhaltens immer mehr in der Vordergrund des wissenschaftlichen und dann auch des öffentlichen Interesses. Es gibt kaum ein seriöses Medium, das in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht immer wieder über den Forschungsstand, über neue Entdeckungen und Theorien zum langen Werdeprozess des Menschen berichtete. Und damit drängte die Frage nach vorne, was es für unser Bild vom Menschen bedeutet, wenn bereits Menschenaffen zu einer differenzierten Kommunikation fähig sind, dass sie eine Begabung zur Überlieferung von Kultur haben, und ihre Gewaltbereitschaft der menschlichen verblüffend ähnelt, wie ihre Befähigung zur Versöhnung?

Die ängstlich gepflegte Trennungslinie zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Leben wird dünner. Ist der Mensch der „betende Affe“, der „Dritte Schimpanse“? Wie groß ist die Kontinuität zwischen dem menschlichen Verhalten in all seiner Komplexität und dem Verhalten unserer tierischen Vettern?

Betender Affe

Die kurze und prägnante These Dobzhanskys fasst zusammen, was seit Charles Darwins epochemachendem Werk „On the Origins of Species by Means of Natural Selection“ (1859) weit über die naturwissenschaftlichen Fachkreise hinaus als Schlüssel zum Verständnis des Lebens und des Menschen in vielerlei Bezügen an Bedeutung gewonnen hat. Zwar bezieht sich die Aussage Dobzhanskys, der sich als Evolutionist zugleich zum russisch-orthodoxen Glauben bekannte, zunächst auf die Biologie. Aber sie erweist sich, sobald die Frage nach der Herkunft des Menschen, seiner Natur und Kultur behandelt wird, auch für viele andere Fächer als hilfreich – von der Psychologie bis zu den Wirtschaftswissenschaften, Medizin, Jurisprudenz und Philosophie. Auch die Theologie steht mit jedem Fortschritt in Paläoanthropologie, Evolutions- und Soziobiologie und der Erforschung des menschlichen Bewusstseins unausweichlich vor der Frage: Was bedeutet ein evolutionäres Weltbild nicht nur für unser christlich geprägtes Bild vom Menschen, sondern mehr noch für das Bild und die Rede von „Gott“?

Natürlich wird kein Informierter die Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel als Tatsachenbericht missverstehen. Aber wie lässt sich diese Urerzählung mit den modernen wissenschaftlichen Theorien von einem singulären Urknall in eine Beziehung setzen? Oder mit den wissenschaftlich so eindrücklichen Bildern von einem danach luftballongleich expandierenden mindestens vierdimensionalen Universum voller schwarzer Löcher? Die Erschaffung von Pflanzen, Tieren und Mensch in einem großen, stetig experimentierenden Prozess, einer „Evolution“ genannten Hervorbringung von immer Neuem, auch Unvorhersehbarem? Und das alles in einer nach vorne drängenden, unumkehrbaren Zeit, in der aus unbelebter Materie belebte Materie, am Ende Leben, sogar Gehirn, Geist und Bewusstsein hervorgehen. Schließlich wir, die mit allem Lebendigen, besonders mit den großen Menschenaffen eng verwandt sind, die wir erst seit der späten Entwicklung einer analytischen, diskursiven Sprache überhaupt nach so etwas wie Wahrheit – in den Grenzen unseres Erfahrungshorizontes – suchen können.

Ist das auch noch als Werk eines Schöpfers zu verstehen, Evolution als Schöpfung in der Zeit? War alles Zufall, eine Art Glücksspiel? Oder besteht eine Tendenz zu mehr Komplexität innerhalb ganz bestimmter Rahmenbedingungen? Von Anfang an so angelegt und impliziert oder „emergent“ als unableitbar Neues, das überraschend im Durchgang durch instabile Naturprozesse auftaucht? Fragen über Fragen, von denen anscheinend weder Predigten noch die Theologie wirklich berührt sind.

Gott als Naturgeschichte

Natürlich gibt es schnell den entlas-tenden Hinweis, dass es in der christlichen Tradition doch den Begriff einer creatio continua, einer fortlaufenden Schöpfung gibt. Besonders der vor vier Jahren gestorbene Biologe und Theologe Günter Altner sprach von „Gott im Werden der Welt“. Er hatte wie kaum ein anderer in den Siebzigerjahren eine inhaltliche, auf Verständnis ausgerichtete Auseinandersetzung mit Charles Darwin gewagt und schrieb dies in der nur wenig beachteten Schrift unter dem Titel „Charles Darwin – Die Dynamik der Schöpfung“ (2003) fort. Altner schlug bis kurz vor seinem Tod vor, das darwinische Paradigma mit der These „Gott ist allem evolutionären Werden zuinnerst“ in das theologische Denken zu integrieren. Aber bis heute ist das nicht auf viel Verständnis gestoßen.

Zu einer gewissen Annäherung an das darwinische Denken könnte der Versuch beitragen, Religion konsequent als Teil des frühen kulturellen Prozesses unter dem Aspekt des evolutionären Paradigmas zu betrachten. Die Frage, was Religion in ihren frühesten Formen war, ist eine intensive Diskussion wert, wenn Soziobiologen wie Eckart Voland von „Gott als Naturgeschichte“ sprechen. Voland sieht in der „transkulturellen Universalie Religion“ einen Selektionsvorteil. Sonst würde es Religion nicht mehr geben. Offen bleibt hier, ob mit der Ausklammerung der inhaltlichen Herausbildung der Religionen die frühen Nutzungsfunktionen des Überlebens zunehmend zurückgedrängt werden. Oder sind sie bleibend gegenwärtig?

Dazu müsste auch diskutiert und geklärt werden, ob und wie in langen Zyklen aus der Evolution des Biologischen heraus immer neue kulturelle Qualitäten und Systemeigenschaften entstanden sind. Und welche Qualität diese Subsys-teme haben, die nicht mehr dauerhaft auf den Überlebensvorteil zielen, die also eine mehr oder weniger starke Tendenz zu einer eigenbestimmten, eigengesteuerten Charakteristik entwickeln, neben der Religion, die mit ihr eng verwobene Musik.

Mag ein traditionelles Religionsverständnis die Zuordnung der Wurzeln religiösen Verhaltens zur Evolution von Natur und Kultur schwer akzeptieren, ermöglicht diese doch, in der Religion ein überempirisches, eng mit anderen Lebensbereichen verknüpftes eigenständiges Erfahrungsfeld zu sehen, ein menschliches Urphänomen, befähigt zu einer spezifischen Traditionsbildung – und damit ein Ort weit jenseits simpler Aussagen im Stile eines „Religion ist nichts anders als…(etwa) …Biologie“, „… eine kollektive Illusion“, „ … ein Flackern im Schläfenlappen“ und so fort.

Aufgeklärte Religion

Geht man noch einen Schritt weiter, ist die These unvermeidlich: Nur eine über ihre lange Vorgeschichte aufgeklärte Religion, eine sich selbst in der Zeit und in der kulturellen Evolution reflektierende Religion, kann sich auf den Dialog mit dem Wissen der jeweiligen Zeit, mit dem naturwissenschaftlich-evolutionären Wissen einlassen. Diese Sicht verlässt allerdings den unmittelbaren Bezug zu Glaube und Religion ebenso wie dogmatische Fixierungen, um nach der Bedingung der Möglichkeit von Religion in ihren historischen Ausformungen zu fragen.

So man will, könnte man diesen Zugang als „Evolutionäre Religionstheorie“ bezeichnen, als Bindeglied zwischen erfahrener Religion und wissenschaftlich gestützter Reflexion.

Die doppelte Ansicht der Religion einmal von innen und einmal von außen ist im Ansatz nicht unbedingt neu. Denn nicht zuletzt die Entfaltung und vorbehaltlose Nutzung einer historisch-kritischen Methodik hat zur entschlossenen Erforschung des geschichtlichen Hintergrundes der heiligen Texte geführt. Mit dieser Methode, die – in einer Art Außenbetrachtung – nach dem tatsächlich Geschehenen im historischen Werden fragt, hat die Frömmigkeit viel Neues und auch schmerzhaft Konkretes erfahren. Das wird umso mehr für die im späten 20. Jahrhundert aufsteigenden und noch lange nicht verarbeiteten Fragen nach den naturgeschichtlichen, soziobiologischen und neuronalen Komponenten religiöser Grundvorstellungen gelten. Zunehmend wird klarer: Der Gottesglaube hat – trotz aller kritischen Einwände – auch eine naturgeschichtliche Seite, ist ein menschheitsgeschichtlicher Werde- und Lernprozess.

Aber es zeigt sich viel Zögerliches und Ängstliches auf dem Weg zu einer Selbstaufklärung über das evolutionäre Gewordensein des eigenen religiösen Bezugsrahmens. So ist trotz vieler neuer Erkenntnisse über die spezifische Sprachlichkeit der heiligen Texte, ihre Zeitgebundenheit, den narrativen, bekennenden und oft mythologischen Charakter, die alte Sprache des Glaubens in der kirchlichen Verkündigung immer noch alltäglich. Das gilt auch für manche der dabei auftauchenden Bilder und Geschichten, die nicht selten so ausgelegt werden, als seien sie kompatibel mit der modernen Rede über die Dinge, den Menschen und seine Handlungen. Noch immer reden auch theologisch Gebildete ganz unbekümmert über und von einem „Gott“, der „wirkt“, „sich mitteilt“, „spricht“, „lenkt“ und „handelt“. Das Bild eines supranaturalen, übergeschichtlichen Gottes, der aus einem Jenseits eingreift, scheint für die einen selbstverständlich und stabil zu sein, wie es andere nicht mehr nachvollziehen können.

Durch das evolutionäre Paradigma herausgefordert könnte es sinnvoll sein, die alte Sprache mit ihrem konkret und menschlich gedachten Gott-Mensch-Drama durch eine Sprache zu erweitern, die vom evolutionären Weltwissen gespeiste Bilder und Geschichten entwickelt. In diesem Zusammenspiel müsste es für kritische Zeitgenossen – zu denen oft uneingestanden viele Geistliche und aktive Christen zählen – leichter fallen, ein gutes Gewissen zu behalten. Natürlich stoßen wir damit an eine gefährliche Grenze neuzeitlicher Wahrnehmung von Religion. Der Projektionsverdacht, verbunden mit dem Namen Ludwig Feuerbach, ist im alltäglichen Versuch, den Glauben in einem evolutionär-anthropologischen Licht zu sehen, präsenter als man vermutet. Aber es gibt kein Zurück. Nicht nur unter dem Aspekt einer Evolutionären Religionstheorie wäre es vermessen, Judentum und Christentum von der Erkenntnis auszunehmen, dass auch sie – wie alle Manifestationen der Religionen – eine Frucht der kulturellen Evolution sind.

Informiert und aufgeklärt über den geschichtlich bedingten und neuronal basierten Charakter religiöser Sprache bleiben wir allerdings im Bereich unübersehbarer, unverzichtbarer existenzieller Letztdeutungen. Denen ordnet der Mensch zwar immer wieder neue – aus menschlicher Erfahrung hergeleitete und projizierte – Bilder zu, wohl wissend, dass es im Letzten keinen Namen und kein Bild dafür gibt, keine Formel und kein Prinzip.

Religion hat über Jahrtausende hinweg auch deshalb überlebt, weil sie in und mit Ritualen, Symbolen, Erzählungen und theologischen Formeln gelernt hat, über sich selbst und ganz allgemein über den Menschen zu reflektieren. Sie steht allerdings in dem hier angedeuteten fortgeschrittenen Stadium der Selbstaufklärung nicht selten vor der unendlichen Weite einer theologia negativa, der nur noch negativen Bestimmungen des ganz Anderen. Sprichst du von Gott, sprichst du von Gott nicht mehr, sagt der Kabbalist, der jüdische Mystiker. Auch diese Einsicht könnte eine Evolutionäre Religionstheorie eröffnen.

Mehr noch könnte eine evolutionäre Perspektive praktizierbare Züge für Verkündigung und Lehre haben: So wäre es für viele Zeitgenossen hilfreich, wenn bei der Lesung altehrwürdiger, aber schwer verständlicher Texte der Bibel, Bilder, Lieder und Glaubensbekenntnisse auf deren (menschheits-) geschichtliche Bedingtheit, auf ihren Werdecharakter hingewiesen wird. Wenn sie als Hinweis verstanden werden auf das Einmalige, Offene, Grenzwertige, Bedrohte, Wunderbare des menschlichen Lebens und Zusammenlebens im Lichte der Evolution, von der wir zwar stetig mehr wissen, ohne sie jedoch letztlich erklären zu können. Es gäbe sicher nicht wenige, die diese Sicht als aufgeklärt und – als wohltuend und befreiend empfinden.

Wolf-Rüdiger Schmidt

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