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Netzwerkanalyse als neue Methode der Kirchensoziologie
Methode Netzwerk: Erstmals untersuchte die ekd das ganze Beziehungsgeflecht einer Kirchengemeinde. Foto: epd/ Gustavo Alabiso
Methode Netzwerk: Erstmals untersuchte die ekd das ganze Beziehungsgeflecht einer Kirchengemeinde. Foto: epd/ Gustavo Alabiso
Die EKD brachte bei der jüngsten Untersuchung der Kirchenmitgliedschaft erstmals die Methode der Netzwerkanalyse zum Einsatz – und zwar anhand einer ausgewählten Kirchengemeinde. Konrad Merzyn, Leiter des Projektbüros Reformprozess im EKD-Kirchenamt in Hannover, und die Tübinger Theologieprofessorin Birgit Weyel erläutern diesen neuen Ansatz.

Im Rahmen der Fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) der EKD wurde Kirche nicht nur als Institution und Organisation, sondern auch als ein in sich vielfältiges und mehrschichtiges Netzwerk in den Blick genommen. Damit sind Gespräche und Begegnungen, Kontakte und Beziehungen angesprochen, die zwischen zwei oder mehr Personen stattfinden. Für einige dieser Kontakte stellt die kirchliche Organisation wichtige Kontaktanlässe bereit, andere Kontakte entstehen darüber hinaus an vielen weiteren Orten, zum Beispiel im Sportverein oder in der Nachbarschaft. Diese dezentralen Strukturen können mit netzwerkanalytischen Instrumenten sichtbar gemacht werden. Kirche wird hier konsequent von den Akteuren her gedacht, die in ihrem Umfeld miteinander in Kontakt treten.

Der Zeitraum der Befragung für die KMU V der EKD war der 19. August bis 18. Oktober 2013. Die Dauer der Befragung lag bei durchschnittlich 22 Minuten. Bei der untersuchten Kirchengemeinde, die verständlicherweise anonym bleiben muss, handelt es sich natürlich nur um ein Fallbeispiel. Besagte Kirchengemeinde wurde allerdings sorgfältig ausgewählt, so dass sie exemplarisch für viele evangelische Kirchengemeinden in Deutschland stehen kann.

Im Zuge der Untersuchung mussten Gespräche und Begegnungen näher qualifiziert werden. Worüber wird gesprochen? Worin besteht der Austausch? Für Kirche, so die Überlegung, ist religiöse Kommunikation konstitutiv, auch wenn die Gesprächsinhalte sehr unterschiedlich sein können. Konkret wurde nach dem Besuch der Gottesdienste und dem Austausch über den Sinn des Lebens mit anderen Personen gefragt sowie nach den Kontaktanlässen vor Ort: wen man wann und wo trifft und zu wem man in Beziehung tritt. Auf diese Weise gewinnt man eine Idee von der Vielfalt der Beziehungen, die entstehen und auch eigene Strukturen ausbilden.

Der Fragebogen nimmt Fragen zur religiösen Kommunikation und zur sozialen Einbettung der religiös-kirchlichen Praxis der Befragten auf und stellt diese in Form von so genannten Namensgeneratoren, die auf die Nennung von Namen (= Klarnamen) zielen. Erst in einem weiteren Schritt werden diesen Namen soziale Rollen zugeordnet (Ehepartner, Mutter, Freundin et cetera). Insgesamt vier Namensgeneratoren wurden verwendet, die sich erstens auf den Gottesdienstbesuch beziehen, zweitens den Austausch über den Sinn des Lebens, drittens die Teilnahme an kirchlichen und kirchennahen Veranstaltungen und Institutionen über den Gottesdienst hinaus sowie die sonstigen Aktivitäten der Befragten in lokalen Vereinen, Gruppen und Institutionen. Ein vierter Namensgenerator fragte nach Beziehungen zu besonders Nahestehenden, die auf die anderen drei Fragen hin noch nicht benannt wurden, sodass das Netzwerk der persönlich Nahestehenden mit den Netzwerken religiöser Kommunikation ins Verhältnis gesetzt werden konnte. Auch hier haben wir den Befragten weitere Möglichkeiten der Selbsteinschätzung gegeben. So konnten sie angeben, wie wichtig es ihnen ist, mit Person A oder B den Gottesdienst zu besuchen et cetera. Zum Austausch über den Sinn des Lebens konnten sie entscheiden, ob sie diesen für eher religiös oder nichtreligiös halten.

Eine weitere Besonderheit dieser Erhebungsmethodik ist, dass nicht nur eine Person (Ego) nach ihren Beziehungen mit anderen (Alteri) gefragt wurde, sondern dass auch die Alteri befragt werden konnten – sofern sie auch zu den evangelischen Kirchenmitgliedern dieser Gemeinde gehören. Der Erkenntnisgewinn liegt darin, dass die Wechselseitigkeit in den Blick kommt. So nennt die Person A die Person B als Partner für den Austausch über den Sinn des Lebens. Aber nennt auch Person B die Person A als Gesprächspartnerin? Das ist eine spannende Frage, weil dadurch die Beziehungen der Personen untereinander deutlich werden.

Die Erhebung bietet eine Fülle von Ergebnissen und möglichen Auswertungsperspektiven. So haben wir nach den Gelegenheiten gefragt, bei denen ein Austausch über den Sinn des Lebens stattfindet. Die Gelegenheiten wurden in vier Bereiche unterteilt: zu Hause, in Freizeit, Kirche und Arbeit/Schule. Gezählt wurden die Verbindungen, die sich zwischen einem Ego und einem Alter ergeben. Hier zeigt sich, dass die meisten Verbindungen durch Gespräche über den Sinn des Lebens zu Hause geführt werden (1305 Verbindungen), an zweiter Stelle steht der Bereich der Freizeit (303 Verbindungen), dann folgt die Kirche (126 Verbindungen), dicht gefolgt von Arbeit/Schule (107 Verbindungen).

Lebensweltliche Anlässe

Es leuchtet sicher ein, dass die Kommunikation über den Sinn des Lebens in Beziehungen mit nahestehenden Personen eingebettet ist und daher im privaten Raum, zu Hause, verortet ist. Darüber hinaus aber wird durch die Netzwerkerhebung sichtbar, dass auch Freizeit und Arbeit lebensweltliche Anlässe für einen solchen Austausch bieten. Immerhin fast die Hälfte dieser Beziehungen durch Austausch über den Sinn des Lebens wird von den Beteiligten ausdrücklich als religiös qualifiziert. Dieser Anteil steigt dann allerdings deutlich, wenn es um die Kirche geht: Hier liegt der Anteil der als religiös qualifizierten Kommunikation bei 79 Prozent. Bei der religiösen Kommunikation innerhalb der Kirche werden hauptsächlich Pfarrerinnen und Pfarrer, kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als Gesprächspartner angegeben. Hier dominiert also die professionelle Kommunikation, während außerhalb der Kirche die Sinnkommunikation eher mit anderen Alteri (Partner, Nachbarn, Arbeitskolleginnen, Sportsfreunde, Freundinnen und anderen) Verbindungen schafft.

Diejenigen, die häufiger in den Gottesdienst gehen, sprechen mit mehr Menschen über den Sinn des Lebens als der Durchschnitt. Bei diesem Befund kann man vermuten, dass Menschen, die häufiger als die meisten anderen in den Gottesdienst gehen, auch ein überdurchschnittliches Interesse am Austausch über religiöse Themen haben und dass ihr Austausch über den Sinn des Lebens stärker eingebettet ist in ihr sonstiges geselliges Leben.

Außerdem werden bevorzugt häufige Gottesdienstbesucher als „Experten“ von anderen angesprochen, die weniger häufig den Gottesdienst besuchen. Es findet auf diese Weise ein Wissenstransfer über die Akteure statt, der bisher in der Kirchentheorie so noch wenig wahrgenommen wurden: Das im Gottesdienst Erlebte und Erfahrene wird bei verschiedenen religiös zunächst unverdächtig scheinenden Gelegenheiten abgerufen. Durch soziale Beziehungen im Alltag wirkt der Gottesdienst auch auf die, die ihn selbst nicht besuchen.

Wenn Menschen zwei und mehr institutionelle Angebote wahrnehmen, dann stehen diese Kontaktanlässe über die Akteure, die sich zwischen ihnen bewegen, in Verbindung. Es entsteht ein strukturelles Geflecht von Gelegenheiten, an denen Menschen teilhaben. Wenn man sich nur auf die Angebote der Organisation Evangelische Kirche fokussiert, so wird der Blick dafür verstellt, dass es strukturell auch andere Kontaktflächen gibt. So sind die Freie Evangelische Gemeinde, die katholische Kirche und die muslimische Gemeinde über unterschiedliche Akteursgruppen strukturell in das Netz der Kirchengemeinde einbezogen. Wir konnten sehen, dass die Freie Evangelische Gemeinde von Jugendlichen unter 27 Jahren besucht wird, die ökumenischen und interreligiösen Kontakte ergeben sich insbesondere über die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Kontakte bieten Möglichkeiten des Kulturtransfers: Man kann davon ausgehen, dass je spezifische Erzählungen, Geschichten, Zugehörigkeiten und Identitäten anlässlich der Gelegenheiten gebildet und zwischen den unterschiedlichen Orten und Institutionen weitergegeben werden.

Die Netzwerkerhebung hat die Aufmerksamkeit für solche Kontaktanlässe geschärft, die für die Netzwerkstruktur der Kirchengemeinde zentral sind. Der Kirchenkaffee im Anschluss an den Gottesdienst beispielsweise schafft besonders viele Verbindungen innerhalb der Gemeinde, ebenso wie das Frauenfrühstück. Einer der wichtigsten Kontaktanlässe aber ist die Evangelische Kindertagesstätte. Dies gilt besonders für Jugendliche und junge Erwachsene, die hier teils in der Geschwister-, teils in der Elternrolle regelmäßig in Kontakt kommen. Insofern bildet gerade die Kindertagesstätte eine wichtige Kontaktfläche zu kirchlichen Anliegen und zum Austausch über religiöse Themen. Zudem kamen Männer mit dieser Einrichtung nicht wie bei den anderen kirchennahen Gelegenheiten üblich seltener in Kontakt als Frauen.

Diese Ergebnisse zeigen, dass die Kirchengemeinde nicht ein einziges Netzwerk bildet, sondern dass sich innerhalb einer Gemeinde viele Netzwerke finden, die sich je nach Anlass bilden. Die beteiligten Akteure können in den Blick genommen werden, darüber hinaus aber auch die Beziehungen der Akteure zueinander und die Strukturen, die bei jedem Netzwerk ein anderes Bild ergeben. Einerseits wurde der Fokus der Befragung auf eine evangelische Kirchengemeinde gerichtet, andererseits aber wurden auch viele weitere Gelegenheiten, innerhalb und außerhalb der Kirchengemeinde, mit in die Befragung einbezogen. Individuelle, kirchliche und gesellschaftliche Dimensionen von Religion können auf diese Weise besser in ihrer Bezogenheit aufeinander wahrgenommen werden. Sowohl die religiöse Qualität zwischenmenschlicher Interaktionen als auch die soziale Dimension kirchlicher Organisation lassen sich in dieser Perspektive zusammensehen.

Das Potenzial der Netzwerktheorie liegt darin, dass sie zwar die Kirche als Organisation mit ihren Veranstaltungen und Angeboten voraussetzt und hier nach Partizipation fragt, aber zugleich die lebensweltliche Einbettung besonders beleuchtet. Sie erfasst – theoretisch und methodisch – die sozialen Beziehungen und Beziehungsstrukturen, in denen die Menschen immer schon stehen, von denen sie geprägt werden und die sie prägen. Die Relevanz auch lebensweltlicher Gelegenheiten wie zum Beispiel der Arbeitsstelle und des Sportvereins für religiöse Kommunikation wird anschaulich. So weitet sich die Perspektive: Private und gesellschaftliche Orte und Gelegenheiten jenseits der Organisation Kirche treten in ihrer Bedeutung für Religion und Kirche verstärkt in den Blick. Und umgekehrt gilt: Die Präsenz der Religion in der Gesellschaft und die Ausstrahlungskraft von Kirche in andere soziale Räume werden in netzwerkanalytischer Perspektive sichtbar.

Information

Ausführliche Analysen und Ergebnisse finden sich im Auswertungsband der V.KMU: Heinrich Bedford-Strohm, Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloher Verlagshaus 2015, 543 Seiten, 29,99 Euro.

Konrad Merzyn / Birgit Weyel

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