Die Spuren, die Martin Luther bis heute in Deutschland hinterlassen hat, sind nicht zu übersehen. Zahlreiche Baudenkmäler erinnern an den Reformator. Nicht nur in Wittenberg, dem Ausgangspunkt der Reformation. Zu den Schauplätzen, an denen Luther gewirkt hat und die heute im Sinne eines Reformationstourismus erschlossen sind, zählen auch Worms, Leipzig oder Augsburg. Luthers Reformation hat Deutschland geprägt, davon ist auch Christine Eichel überzeugt. Die Autorin wählt allerdings einen anderen Ansatz: In ihrem Buch Deutschland, Lutherland ergründet sie, wie sehr Luthers Denken, seine Theologie und sein Handeln bis heute den Alltag in Deutschland bestimmen.
Dabei geht die Philosophin und Journalistin, die mit einer Arbeit über Theodor W. Adorno promoviert wurde, von Alltagsbeobachtungen aus: Sie erzählt von einer Frau, die drei Tage lang durcharbeitet, um eine Präsentation fertigzustellen. Sie schildert, wie spendenfreudig die Deutschen sind. Und sie verweist darauf, dass im aktuellen Kabinett neun evangelische Minister und Ministerinnen sitzen. Von diesen Beispiele ausgehend analysiert sie die Verhaltensweisen der Deutschen, ihr Kulturverständnis und die politische Kultur in Deutschland. Bei dem Versuch, die deutsche Befindlichkeit historisch zu ergründet, setzt sie immer wieder bei Luther und seinem Denken an. Eichels Grundthese lautet: Bis heute ist die kollektive Mentalität der Deutschen von Luther geprägt, sind die Deutschen in ihrem Denken und Handeln Kinder der Reformation. Luther, so der Ausgangspunkt für Eichels Buch, markiert den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Der Reformator steht nicht nur für ein neues Gottesbild. „Mit Luther entstand neben einem neuen Gottesbild und einer neuen Kirche auch ein neues Weltbild“, schreibt die Autorin. Eichel verweist auf „Luthers innerweltliche Askese und seine Aversion gegen jede Art äußerlicher Prachtentfaltung“ ebenso wie auf sein Verhältnis zu Obrigkeit und Gehorsam, sein Arbeitsethos sowie auf sein Bildungsverständnis und seine Einstellung zu Gesellschaft und Familie. Vom Denken und der Lebenshaltung des Reformators ausgehend, schlägt Eichel einen Bogen ins 21. Jahrhundert.
In dreizehn Kapiteln seziert die Autorin die deutsche Befindlichkeit und führt tradierte Muster typisch deutschen Verhaltens auf den Reformator als Urheber zurück: Der deutsche Arbeitseifer, die deutsche Sparsamkeit oder eine Neigung der Deutschen zur Kinderlosigkeit. Eichel führt die reiche kulturelle Landschaft mit ihren zahlreichen professionellen Orchestern und Museen auf Luthers Kunstverständnis zurück. Ihrer Einschätzung nach lassen sich reformatorische Einflüsse beinahe überall finden: in der Politik, in Gesellschaft, Ökonomie und Kultur. Auch die dunkle Seite – Luthers Antisemitismus – wird erwähnt.
Eichels Buch provoziert Widerspruch. Dessen ist sich auch die Autorin bewusst. Ganz zu Beginn ihres Buches räumt sie daher ein, Deutschland, Lutherland sei eine steile These. Und in der Tat: Wenn es um die Frage geht, worauf unsere Gesellschaft heute fußt, bleibt die Argumentation zu sehr auf Luther fixiert. Dem Buchtitel folgend steht der lutherische Einfluss im Mittelpunkt, kultur- und geistesgeschichtliche Einflüsse jenseits des Reformators werden zwar immer wieder erwähnt, in ihrer Bedeutung für die Gegenwart dann jedoch relativiert.
Die Aufklärung etwa findet in Eichels Ausführung nur am Rande statt. Eichel bleibt sich ihrer Argumentationslinie, die Wurzeln bei Luther zu suchen, treu. So gesehen ist das Buch ein provokanter, aber auch spannend zu lesender Erklärungsversuch dazu, warum die Deutschen so sind, wie sie sind.
Barbara Schneider
Barbara Schneider
Barbara Schneider ist Journalistin. Sie lebt in München.