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Neuauflage: Müntzer-Biographie
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Auch ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Erscheinen liest sich das - überarbeitete - Buch frisch und ideologiefrei, getragen von einer unverhohlenen Sympathie für den vielfach fremd gewordenen Reformator.

Vor dem Hintergrund der enormen Konzentration der 2017er-Maschinerie auf Martin Luther ist es wohltuend, dass nun, gut ein Vierteljahrhundert nach ihrem ersten Erscheinen, die Müntzer-Biographie von Hans-Jürgen Goertz neu aufgelegt wurde, "völlig überarbeitet", wie es zu Recht heißt. Dass das Buch gleichwohl im Grundansatz bleiben konnte, was es war, verdankt es seiner außerordentlichen Qualität: Auch 2015 liest es sich noch frisch und ideologiefrei, getragen von einer unverhohlenen Sympathie für den vielfach fremd gewordenen Reformator. Die Grundanlage des Buches von Goertz hat aber auch deswegen noch heute Bestand, weil es in der Forschung um Müntzer in den vergangenen Jahren ruhig geworden ist. Erstmals war es im Jubiläumsjahr 1989 erschienen - das Jahr ist uns aus ganz anderen Gründen im Gedächtnis geblieben. Die mit ihm verbundene politische Wende hat rasch dazu geführt, dass das durch die Müntzer-Verehrung der DDR wach gehaltene Interesse an dem Reformator erlahmte. So musste Goertz nun Sätze, die seinerzeit die marxistische Forschung im Präsens beschrieben, ins Imperfekt setzen: Es gibt sie nicht mehr.

Goertz hatte aber auch schon 1989 eine Deutung vorgelegt, durch die es ihm gelang, die Errungenschaft der westlichen Forschung, Müntzer von seinen theologischen Motiven her zu verstehen, mit der Betonung revolutionärer Elemente in der DDR-Forschung zu verbinden. Wenn nun der damalige Untertitel "Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär" zum "Revolutionär am Ende der Zeiten" geworden ist, ist der Nachhall der damaligen Debatten freilich nur noch schwach zu hören. Eher wirkt dies wie die Antwort auf die Stilisierung Luthers zum "Rebellen in einer Zeit des Umbruchs" bei Heinz Schilling im selben Verlag. Angesichts des in den vergangenen Jahren gesteigerten Interesses der reformationshistorischen Forschung an der Mystik ist es bedauerlich, dass diese fortgefallen ist. Sachlich bleibt sie in dem Buch aber erhalten.

Tatsächlich hat Goertz bei der Bearbeitung die theologischen Komponenten in beeindruckender Weise verstärkt. So ist das früher fünfte, jetzt vierte Kapitel um ausführliche Passagen zur Schrifthermeneutik gewachsen, in welchen Goertz die Arbeiten Ulrich Bubenheimers konstruktiv rezipiert hat. Auch an anderen Stellen hat er neue Forschungsakzente integriert - etwa Günter Voglers Kritik an der Rede von einem Prager Manifest, die sogar zur Änderung einer Kapitelüberschrift geführt hat.

Die Bearbeitung ist also, wie diese Beispiele zeigen mögen, tatsächlich gründlich erfolgt - erhalten bleibt die gute Lesbarkeit. Goertz gibt wiederholt zu erkennen, dass wir über Müntzer wenig wissen - was wir aber wissen können, präsentiert er in einer Weise, die zugleich wissenschaftlich fundiert und einem breiteren Publikum zugänglich ist.

Auch die Änderung der Kapitelzählung stellt keinen fundamentalen Eingriff dar, sondern folgt der stärkeren Ausrichtung auf theologische Fragen: Das Kapitel "Verzerrte Bilder" ist vom Anfang in einen gewichtigen Anhang gerutscht und leitet hier den bemerkenswerten neuen Abschnitt ein: "Thomas Müntzer und die Theologie heute". Man mag auch in den starken Sympathien für die Befreiungstheologie die Nachwirkungen der Stimmungslage der Siebziger- und Achtzigerjahre hören, aber Hans-Jürgen Goertz bringt seine Anliegen auf die einprägsame Formel von einer "relationale[n] Denkform Müntzers", die "Kirche, Obrigkeit und Reich Gottes (...) in dem Verhältnis, das Menschen zu ihnen eingehen", versteht. So kann er aus Müntzers Schriften Anregungen für die Gegenwart gewinnen, ohne die historische Distanz zu verschweigen - und möglicherweise die Jubiläumsvorbereitungen neu beleben.

Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Verlag C. H. Beck, München 2015, 352 Seiten, Euro 24,95.

Volker Leppin

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Volker Leppin

Volker Leppin (geboren 1966) ist Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim Mittelalter, der Reformationszeit und der Aufklärung, in den Themen Scholastik und Mystik und bei der Person und Theologie Martin Luthers.


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