Vorzüglich

Ton religiöser Rede
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Auf Bahngleise, die irgendwohin führen, nehmen diese Gedichte den Leser mit und führen ihn auf Bitumen, durch den die Pflanzen dringen.

Diese Gedichte sprechen nicht mehr im Stil erlebter Rede und deklamieren keinen Text auf einer Bühne. Sie wollen auch keinen Abschied mehr nehmen, sondern haben bereits alles verloren, was noch als Elegie geschrieben sein und an Vergangenes erinnern könnte.

Sie beklagen nicht mehr den Verlust des Ganzen, des Heils, sondern fühlen noch Zeile für Zeile dem Hunger und dem Schmerz nach.

Aber doch sind sie durchzogen von einfachen Paar- und Kreuzreimen, von Terzinen und klingen sogar in Sonetten. So als suche der Dichter im poetologischen Handwerk Schutz, spricht er im Gedicht "Der Holzweg" im klassischen Versmaß: "Nichts zu suchen steht mir der Sinn, nur ein wenig zu spüren."

Mit seinem großen handwerklichen Können sucht der Theologe und Schriftsteller Christian Lehnert aber nicht den Beweis der Form, sondern will sich wie von Windzügen ergreifen lassen, um sich über einem Grund zu bewegen, von dessen Verlässlichkeit nur noch der Zweifel geblieben scheint. Wo der Leser in solch einen Windzug gerät, kann er etwa im Gedicht "Die Geschichte von der Pharaonenkatze und dem Krokodil" in einen Dialog und in eine Geschichte geraten, in der ihm zuletzt nur die Faszination des Schreckens bleibt:

Katze und Krokodil lauern einander auf, und jeder wittert im anderen seine Beute. Sie sind, kurz vor dem Sprung, vor dem Öffnen des Rachens, gefangen in einem Rollenschema, das nur Hunger und Nahrung kennt. Die Katze will dem Reptil die Leber zerreißen, das Reptil erwartet die Beute im gähnenden Rachen.

So erscheint die Welt in ihrem Daseinskampf, als den sie sich einzig zu erkennen gibt, im Gleichgewicht unversöhnlicher Gegenwart von Ewigkeit zu Ewigkeit. Hoffnung auf Versöhnung aber wird wach in der Stilisierung eines für den grausamen Transport gefesselten Schlachtschafs zum Agnus Dei "... dessen Blicke langsam zurücktauchen in die glasige Demut/jenseits des Schmerzes, wo niemand mehr ist,/ der Sterblichkeit kennt, leicht und immer leichter,/ und lebt, hofft ohne Hoffnung, atmet und...".

Auf Bahngleise, die irgendwohin, aber nicht mehr ins Unendliche führen, nehmen diese Gedichte den Leser mit und führen ihn auf Bitumen, durch den die Pflanzen, die "Wegwarten", noch dringen. Aber deren heilende Wirksamkeit wird keine Hoffnung stiften, so lange sie für sich bleiben.

Das Erdreich kann als Heimat schon nicht mehr betreten werden. Auch wer im Versmaß und in Reimen den Boden bereiten will, wird ihn nicht mehr zum festen Grund stampfen können.

Doch dem Leben und der Welt der Monaden (Gedicht "Aquarium) bleibt ein uneinholbares Außen, ein Anderes: Lehnert weiß um den geistesgeschichtlichen Sprung, und er stellt im Gedicht "Unter Null" den Lehrsatz Spinozas voran: "Ein Ding, das von Gott bestimmt ist, etwas zu wirken, kann sich nicht selbst zu einem selbstbestimmten machen." Das Reich der Religion ist nicht vom Erdreich dieser Welt, und so will der hohe Ton des Glaubens auf dieser aufgerissenen Erde nicht verstummen. Viele dieser vorzüglichen Gedichte lassen den Ton religiöser Rede und biblischer Überlieferung hören, aber sie wollen keinen zwingen, darauf zu hören. Sie wollen sich nicht mit festen Gewissheiten bei ihren Lesern verorten. Gleichwohl steht das letzte Kapitel der Windzüge unter einer Ortsangabe, unter einem Woher: "Aus dem Bergwerk", so lautet der Titel der vier abschließenden Texte, in denen Martin Luther und Thomas Müntzer sprechen: Luther spricht als Kind, das von der Mutter gerade bis "aufs Blut gestäupt worden ist, und sieht sich selbst als das Blutopfer, aus dem der Satan ausgetrieben werden muss. Müntzer hofft nicht mehr in dieser Welt, weil er ihr Ende schauen will."

Aber doch ist diese ganze Welt für Luther voller Sprache. Lehnert bezieht sich auf dessen Predigt über den Taubstummen und schließt das letzte Gedicht und damit die "Windzüge" mit dem Ruf: "Hephetah ("tu dich auf)."

Christian Lehnert: Windzüge. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 108 Seiten, Euro 18,-.

Friedrich Seven

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