Ringen um Wahrheit

Eine Apologie der Apologetik
Kirchliche Apologetik bietet Unterscheidungshilfen an. Wachstumskongress der Zeugen Jehovas, Berlin 2007. Foto: epd/ Rolf Zöllner
Kirchliche Apologetik bietet Unterscheidungshilfen an. Wachstumskongress der Zeugen Jehovas, Berlin 2007. Foto: epd/ Rolf Zöllner
Der religiös-weltanschauliche Pluralismus stellt die Kirchen vor immer neue Herausforderungen. Der Theologe Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Bayerischen Landeskirche, zeigt, dass kirchliche Apologetik angesichts vielfältiger Herausforderungen höchst angebracht ist.

Für Beobachter war es eine Überraschung: Zum Abschluss der zweiten Tagung der 12. Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) im November 2015 (vergleiche zeitzeichen 12/2015) wurde in der Entschließung die apologetische Arbeit als Kernaufgabe kirchlichen Handels hervorgehoben, „weil sie eine Grunddimension christlichen Glaubens reflektiert“. Resümierend heißt es: „Um anderen Weltanschauungen offen und urteilsfähig begegnen zu können sowie Stellung zu nehmen, ist es notwendig, sich des eigenen Glaubens gewiss zu sein und darüber Auskunft geben zu können.“ Apologetik erinnert demzufolge an die Kompetenz, in Kommunikation mit anderen zu treten und das eigene Glaubensverständnis zu anderen Weltdeutungen dialogisch-kritisch in Beziehung zu setzen.

Dass Apologetik und deren praktische Umsetzung – die Apologie – überhaupt in einer aktuellen kirchlichen Verlautbarung Verwendung findet, lässt aufhorchen. Immerhin gehörte dieser Fachbegriff Jahrzehnte lang zu den theologisch eher verdächtigen Begriffen, witterte man dahinter Besserwisserei, Bekehrungseifer und Sorge um den Sieg der Heilsbotschaft.

Was kann Apologetik heute leisten? Ist sie überholt? Erweist sie sich als hemmend oder gar störend im Dialog der Religionen? Prinzipiell kann zwischen eher einer wissenschaftlich reflektierenden theoretischen Apologetik und einer praktisch orientierten Apologetik (Apologie) unterschieden werden. Im theologischen Fächerkanon war die Apologetik eine Teildisziplin der Systematischen Theologie. Heute wird sie – ähnlich wie in der katholischen Theologie – vereinzelt in der Fundamentaltheologie verortet. Demgegenüber ist praktische Apologetik Teil der Kommunikation des Evangeliums und damit auch Teil des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags. Praktische Apologetik vollzieht sich als seismografische Wahrnehmung von aktuellen geistigen und religiösen Strömungen. Insofern ist Apologetik nötig und reizvoll, weil sie für theologisches Urteilen einen Realitätsbezug zur säkularen wie weltanschaulich-religiösen Gegenwartslage herstellt, um die Kommunikation des Evangeliums zu ermöglichen.

Derzeit scheint diese apologetische Dimension in der wissenschaftlichen Theologie kein Thema zu sein: Die Beschäftigung mit der religiösen Gegenwartskultur, etwa mit Esoterik, Reinkarnationsvorstellungen, neuen Religionen, Sinnangeboten und Neureligionen oder mit den Facetten des neuen Atheismus sucht man im Lehrangebot theologischer Fakultäten vergebens – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Inwieweit werden Pfarrerinnen und Religionslehrer auf den weltanschaulich-religiösen Pluralismus vorbereitet? Sind sie auskunfts- und unterscheidungsfähig? Sind sie in der Lage, mit spirituell Interessierten dialogisch-kritisch zu kommunizieren? Esoterische Überzeugungen machen, so das Ergebnis der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, längst nicht mehr an der Kirchentür halt. Ausdrucksformungen säkularer wie auch individualisiert-synkretistischer Auffassungen begegnen Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrem Gemeindealltag immer öfter, ob in Seelsorge oder Bildungsarbeit. Die Pluralisierung religiös-weltanschaulicher Angebote ist längst kein urbanes Phänomen mehr. Es wäre sicher für Kirchengemeinden und Kirchenkreise lohnenswert, für das eigene Umfeld eine religiös-weltanschauliche Landkarte zu erstellen, um den Pluralismus vor Ort genauer erfassen und vor diesem Hintergrund die Gemeindearbeit im Blick auf missionarisch-apologetische Zielsetzungen reflektieren zu können.

Austausch und Feldforschung

Heute vollzieht sich praktische Apologetik als kirchliche Weltanschauungsarbeit. Im Unterschied zur rein re-ligionswissenschaftlichen Betrachtungsweise ist sie standpunktorientiert. Apologetik geschieht heute vor allem durch Experten, den oder die Beauftragten für Weltanschauungsfragen in den Landeskirchen und in den katholischen Diözesen. Unverzichtbar sind für diese Arbeit die Expertisen der seit 1960 bestehenden Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (ezw), zunächst mit Sitz in Stuttgart, seit 1995 in Berlin.

In der praktischen Arbeit geht es vor allem um Informationsgewinnung durch eigene Recherchen, Gespräche, Quellen- und Literaturstudium, fachlichen Austausch und Feldforschung. Durch Anfragen per E-Mail und Telefon, durch Beratungsfälle und Erfahrungsberichte von Aussteigern werden die Experten auf neue Entwicklungen, Gruppen und Gemeinschaften aufmerksam. Das religiöse Feld ist inzwischen bunter, unübersichtlicher geworden. Neben der Beratung nimmt die Auskunftstätigkeit eine zentrale Rolle ein – ob für direkt oder indirekt Betroffene, ob für Vertreter staatlicher Einrichtungen oder kirchlicher Mitarbeiter, ob für Studenten oder Journalisten auf der Suche nach Informationen. Immer wieder geht es um Auskünfte und Expertisen zum weiten Feld neuer Religiosität. Die pfingstlich-charismatischen Bewegungen und neucharismatisch geprägten neuen Freikirchen sowie die moderne Esoterik gehören derzeit zu den besonders gefragten Themen. Die religiös-weltanschauliche Szene wandelt sich. Kleinstgruppen um erleuchtete Meister mit hoher Verbindlichkeit bis zur Abhängigkeit prägen das Bild.

Kirchliche Apologetik hat ein publizistisches Mandat. Es wäre fatal, wenn sich die Kirchen aus diesem Feld an den Grenzen zwischen Kirche, Gesellschaft und Öffentlichkeit zurückziehen würde. Dafür lohnt ein kurzer Blick auf die wechselvolle Geschichte der organisierten evangelischen Apologetik. Recht verstandene Apologetik vollzieht sich öffentlich. Bereits das griechische Wort apologeisthai, (zu Deutsch: antworten, sich verteidigen, Rechenschaft geben), von dem sich der Fachterminus Apologetik ableitet, setzt eine Situation des Antwortens vor Gericht voraus. Es geht um ein öffentliches Rechenschaft geben. Kirchliche Apologetik partizipiert damit am kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag. Die organisierte kirchliche Apologetik ist – übrigens wie auch die evangelische Publizistik – ein Produkt der Inneren Mission. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sie den engen Zusammenhang zwischen Apologetik und Publizistik, mehr oder weniger unreflektiert, als ihren Ausgangspunkt begriffen.

Als Ende der Sechziger- und Siebzigerjahre einzelne evangelische Landeskirchen dazu übergingen, hauptamtliche Stellen von Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen einzurichten, so waren sie organisatorisch in die volksmissionarischen Ämter integriert. Weltanschauungsarbeit sollte eng mit Volksmission beziehungsweise innerer Mission verknüpft sein – ein Impuls, den bereits Johann Hinrich Wichern (1808–1881) gegeben hatte.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts brach für die evangelische Theologie ein Zeitalter der Apologetik an. Bereits seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts war der Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen auf diesem Feld mit einer umfangreichen Flugblattpublizistik aktiv. 1909 wurde das Apologetische Seminar in Wernigerode gegründet, 1910 der „Evangelische Preßverband für Deutschland“ (epd), der für die „evangelische Weltanschauung“ eintreten sollte.

1913 formulierte Paul Tillich sein Plädoyer für eine dezidiert kirchliche Apologetik: „Organisierte kirchliche Apologetik ist die Forderung der Lage.“ Acht Jahre später war diese Forderung erfüllt, wenngleich in verbandsprotestantischer Variante, die Tillich ausdrücklich abgelehnt hatte. Vom „Centralausschuss für die Innere Mission“ wurde 1921 mit Gründung der „Apologetischen Centrale“ erstmals ein evangelisches Fachin-stitut geschaffen. Bis 1937, dem Jahr der gewaltsamen Schließung der Stelle durch die Nationalsozialisten, hatten die insgesamt 16 Mitarbeiter mit Flugblättern, Auskunftsdienst und eigener Zeitschrift eine intensive publizistische Apologetik betrieben. Später sollte diese Einrichtung zeitweilig auch als Geschäftsstelle der Jungreformatorischen Bewegung fungieren.

Die dramatische Zeit zwischen den Weltkriegen wurde in der Weimarer Republik durch die Explosion der Moderne bestimmt: Okkultismus, Anthroposophie, so genannte Sekten, Freidenker und völkisch-religiöse Gruppen erlebten einen großen Aufschwung. Die Spandauer Stelle legte Sammelmappen an und betrieb einen intensiven Auskunftsdienst. Zu Beginn des Nationalsozialismus standen die Mitarbeiter unter der Leitung Walter Künneths, wenngleich für kurze Zeit, mit der Gestapo im „Materialaustausch“ über „weltanschauliche Gegner“. Diese Episode zählt sicherlich zu den dunkelsten Kapiteln evangelischer Apologetik. Am 10. Dezember 1937 wurde die Apologetische Centrale schließlich als illegitime Fortbildungsstätte der Bekennenden Kirche aufgelöst und verboten.

Gebrochenheit geleugnet

Elf Jahre später, 1948, schrieb der renommierte Kirchenhistoriker Kurt Aland in einer thematischen Monografie über die „Haltung und Aufgabe evangelischen Christentums in den Auseinandersetzungen der Gegenwart“: „Eine Kirche ohne Apologetik ist tot.“ Das Votum Alands hat nichts an Aktualität verloren. Apologetik bleibt eine Lebensäußerung der Kirche. Stärker als in früheren Jahren ist sie weniger konfrontativ als dialogisch orientiert. Sie dient der Kommunikation des Evangeliums und hat daher auch einen missionarischen Auftrag. Die dialogisch-kritische Auseinandersetzung ist für die Kirche wichtig, um im Gegenüber zu den vielfältigen Sinnangeboten ihr eigenes Profil zu schärfen und erkennbar zu bleiben. In einer Gesellschaft ist der Streit um die Wahrheit nötig. Wenn im apologetischen Diskurs um Wahrheit gerungen wird, ist das ein Ausdruck von Lebendigkeit. In der Begegnung und Auseinandersetzung mit Weltanschauungen und Sinnangeboten sollte keine Harmoniesucht leitend sein. Das würde Unterschiede leichtfertig einebnen. Letztlich würde auch das eigene kirchliche Profil leiden oder zur Unkenntlichkeit verblassen. Religiöse Aufklärung ist gefragt, um das entscheidend und unterscheidend Christliche benennen und vertreten zu können.

Apologetik hat heute auch eine gesellschaftsdiakonische Aufgabe: Sie bewegt sich mehr oder weniger in einem Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft: In einer Welt mit vielgestaltigen Lebensangeboten, konkurrierenden Sinndeutungen und Heilsversprechen hat die evangelische Apologetik die Aufgabe, Unterschiede im Gottes- und Menschenbild zu benennen und Unterscheidungshilfen zu geben. Die Volkskirche hat ihre Sache im weltanschaulich-religiösen Pluralismus zu vertreten. Dazu gehört, dass sie ihre Botschaft im Gegenüber zu anderen religiösen und spirituellen Angeboten verdeutlicht. Auf dem Markt der Sinnanbieter sind Selbstoptimierungsprogramme und leistungsorientierte Erfolgscoachings derzeit besonders gefragt. Menschliche Grenzen werden ignoriert, die Gebrochenheit menschlicher Existenz schlicht geleugnet.

Die aktuelle Bedeutung kirchlicher Apologetik liegt darin, solchen spirituellen, meist egozentrischen Leistungsideologien die Rechtfertigungsbotschaft kritisch gegenüberzustellen und für eine Kultur der Barmherzigkeit und Nächstenliebe einzutreten.

Was dabei nicht vergessen werden sollte: Die kirchliche Apologetik ist nicht ausschließlich ein Spezialgeschäft einzelner Experten oder dazu Beauftragter. Sie hält für Theologie und Kirche die Erinnerung wach, dass Klärungen und Hilfestellungen für die Sprach- und Auskunftsfähigkeit des christlichen Glaubens im Kontext religiös-weltanschaulicher Vielfalt mehr denn je gefordert sind. Das gilt für Kirche und Gemeinden – und nicht zuletzt für jeden einzelnen Christenmenschen, um im Gespräch mit der Zeit Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in uns ist (vergleiche Erster Petrusbrief 3,15).

Matthias Pöhlmann

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