Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung

In der Flüchtlingsfrage weichen die Kirchen wichtigen Fragen aus
Flüchtlinge auf dem Weg von Mazedonien nach Serbien. Foto: dpa/ Djordje Savic
Flüchtlinge auf dem Weg von Mazedonien nach Serbien. Foto: dpa/ Djordje Savic
Dass die Kirchen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützen, hält Ulrich Körtner für problematisch. Der aus Deutschland stammende Systematische Theologe, der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien lehrt, fordert, dass die evangelische Kirche stärker die Zwei-Reiche-Lehre berücksichtigt und eine Verantwortungsethik praktiziert.

In seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ aus dem Jahr 1919 führte der Soziologe Max Weber (1864-1920) die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ein. Während der Gesinnungsethiker die moralische Qualität des Handelns in erster Linie an den moralischen Prinzipien und Absichten bemisst, fragt der Verantwortungsethiker auch nach den möglichen Folgen seines Tuns. Allerdings sind für Weber „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zu Politik‘ haben kann…“

In der öffentlichen Debatte darüber, wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen reagieren sollen, prallen gesinnungs- und verantwortungsethische Sichtweisen aufeinander. Statt sich im Sinne Webers zu ergänzen, kommt es zwischen ihnen zum Konflikt.

Die anfängliche Euphorie, mit der vor allem Deutsche, aber auch Österreicher, die über den Balkan kommenden Flüchtlinge willkommen hießen, und die bewundernswerte spontane Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sind Ausdruck einer gesinnungsethischen Haltung. Und gesinnungsethisch argumentieren auch diejenigen, die keine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen und sonstigen Migranten akzeptieren wollen. Das Motto „Kein Mensch ist illegal – Refugees Welcome!“ ist eine gesinnungsethische Handlungsperspektive. Um mögliche Folgen für das Gemeinwesen – und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst – macht sie sich keine ausreichenden Gedanken.

Verfechter dieser politischen Linie treten nicht selten mit einem hochmoralischen Anspruch auf, um nicht zu sagen mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit. Und derjenige läuft Gefahr als Rechter und Rassist beschimpft zu werden, der auf mögliche Probleme bei der Bewältigung der anstehenden Integration hinweist und auf Verwerfungen, die im Sozialsystem entstehen können, weil es zu einem Verteilungskampf im unteren Bereich der Gesellschaft kommt, etwa wenn es um billigen Wohnraum geht. Der angesehene deutsche Historiker Heinrich August Winkler, SPD-Mitglied, der ganz gewiss kein Feind der offenen Gesellschaft ist, hat zu Recht die moralische Überheblichkeit kritisiert, mit der Deutschland in der EU seine anfängliche Linie in der Flüchtlingspolitik zum Maß aller Dinge erklärt hat.

Eine verantwortungsethische Position kann nicht darüber hinwegsehen, dass gerade der offene Verfassungsstaat ohne Grenzen und Begrenzungen nicht bestehen kann. Damit soll keineswegs einer Politik der Abschottung oder der Aushöhlung des Asylrechts das Wort geredet werden. Aber gerade ein Staat, der für Zuwanderung offen ist, und einen solchen wünsche ich mir, braucht, damit ein gutes Zusammenleben gelingt, die Kontrolle über das Staatsgebiet und die Zusammensetzung der Bevölkerung. Darauf wies der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in der Flüchtlingsdebatte schon frühzeitig hin.

Der handlungsfähige Rechtsstaat ist die entscheidende Voraussetzung für genau jene Zivilgesellschaft, die sich gesinnungsethisch für Flüchtlinge und ihre Rechte engagiert. Es wäre daher demokratiepolitisch fatal, wollte die Zivilgesellschaft jenen Ast absägen, auf dem sie sitzt.

Allerdings mangelt es immer noch an einer aktiven und schlüssigen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die mehr leistet, als nur die Krise zu verwalten. Die Behauptung etwa, die Außengrenzen eines Staates ließen sich heutzutage nicht wirksam kontrollieren, kommt einer Kapitulation des Rechtsstaats gleich. Aber auf dessen Akzeptanz und Verlässlichkeit sind doch gerade jene angewiesen, die bei uns Schutz suchen. Ohne funktionierenden Rechtsstaat gibt es kein Asylrecht. Es geht wohlgemerkt nicht um den Schutz der Bevölkerung vor Flüchtlingen oder Fremden, sondern gleichermaßen um den Schutz von Flüchtlingen und Einheimischen. Die Kontrolle der Staatsgrenzen oder der Außengrenzen des Schengenraums und der einreisewilligen Personen, aber auch die Reduktion des Zustroms von Flüchtlingen sind eine notwendige – wenngleich sicher bei weitem nicht hinreichende – Bedingung dafür, dass die ökonomische und kulturelle Integration von Zuwanderern gelingen kann. Das muss jedem klar werden, wenn sich staatliche Stellen bei bürokratischen Unzulänglichkeiten mit der Überlastung rechtfertigen, die infolge des nicht steuerbaren und begrenzbaren Zustroms von Flüchtlingen entstehe.

Es stimmt zwar, dass das gegenwärtige Flüchtlingsproblem nach einer gesamteuropäischen Lösung verlangt. Die Gründung und Weiterentwicklung der EU hat aber bislang nicht zum Ende des Nationalstaates und seiner Institutionen geführt. Darum kann man nicht alle Verantwortung auf Brüssel schieben.

Deutschland und die EU brauchen ein modernes Einwanderungsrecht. Auch wenn sich Asyl- und Einwanderungspolitik nicht immer strikt voneinander trennen lassen, müssen sie doch deutlich voneinander unterschieden werden. Der Bedarf an Zuwanderung, der aus demographischen Gründen besteht, wird durch die Aufnahme von Asylsuchenden nicht unbedingt gedeckt. Diese entsprechen möglicherweise gar nicht den Anforderungen des Arbeitsmarktes und sind selbst mit Hilfe entsprechender Bildungsangebote und sozialstaatlicher Unterstützung nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ein Einwanderungsland braucht klare Regeln für die Aufnahme von Zuwanderern. Und sie schließen die Abweisung von Menschen ein. Solche Regeln sind keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Voraussetzung für gelingende Integration.

Der Oxforder Ökonom Paul Collier hat untersucht, welche Folgen massenhafte Migration nicht nur für die Aufnahmeländer mit sich bringt, sondern auch für die Herkunftsländer. Zu den Stichworten zählen der brain drain, der Talenttransfer. Der massenhafte Exodus von jungen, tatkräftigen und gut ausgebildeten Menschen gefährdet die Zukunft, die ökonomische Entwicklung der Herkunftsländer. Freilich kann man auch die Gegenrechnung aufmachen: Familien profitieren von dem Mitglied, das als Flüchtling im Ausland untergekommen ist und ihnen Geld überweist. Und auch Regime profitieren auf diese Weise von den Flüchtlings- und Migrationsströmen.

Für die Aufnahmeländer hat Collier einen idealen „Einwanderungsquotienten“ errechnet, dessen Überschreiten ebenso negative Auswirkungen hat wie das Unterschreiten. Seines These lautet: Wirtschaftlicher Gewinn und größere kulturelle Vielfalt sind gegen die Schwächung der Sozialsysteme abzuwägen. Überwiegt letzteres, ist dies weder im Sinne der Aufnahmeländer noch im Sinne der Migranten. Daher hält Collier die Steuerung – auch Begrenzung – der Einwandererzahl nicht nur ökonomisch, sondern auch ethisch für vertretbar.

Die Kirchen argumentieren in der Flüchtlingsdebatte stärker gesinnungs- als verantwortungsethisch. Sie verweisen auf die biblische Forderung, den Fremden im eigenen Land als Nächsten zu achten und sich seiner anzunehmen. Als grundlegender Maßstab wird die biblische Option für die Armen und Schwachen im alten Israel angeführt. Tatsächlich wird im Alten Testament immer wieder an den Exodus und das eigene Flüchtlingsschicksal erinnert. Die Geschichte des Volkes beginnt nach biblischer Überlieferung mit Abraham, der seine Heimat verlässt, um in das ihm von Gott verheißene Land zu ziehen. Und auch das babylonische Exil gehört in den alttestamentlichen Erinnerungsstrom.

Kirchliche Stellungnahmen erinnern sodann an die legendarische Erzählung von der Flucht Josefs, Marias und des neugeborenen Jesuskindes nach Ägypten. Der Einsatz für Flüchtlinge wird außerdem mit Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter und der Forderung Jesu in Matthäus 25 begründet, Fremde bei sich aufzunehmen. Diese Forderung findet eine christologische Zuspitzung, wonach man das, was man einem der geringsten Brüder getan oder nicht getan hat, Christus selbst getan oder nicht getan hat.

Das Gebot der Nächstenliebe bewegt sich freilich auf der individualethischen Ebene. Es begründet zweifellos die Verpflichtung, anderen Menschen in einer Notlage zum Nächsten zu werden und ihnen zu helfen. Und an diesem Gebot soll sich nach christlichem Verständnis auch staatliches Handeln orientieren. Aber aus ihm lassen sich keine erschöpfenden Handlungsanweisungen für eine langfristige Migrationspolitik ableiten. Der Staat ist kein Individuum wie der Samariter im Gleichnis Jesu. Auch kann er nicht nur das Einzelschicksal in den Blick nehmen, sondern ist dem Gemeinwohl, dem Wohl aller, verpflichtet. Schon gar nicht lässt sich aus Lukas 10 die Forderung nach unbegrenzter Zuwanderung rechtfertigen oder gar das Recht von Flüchtlingen, in das Land ihrer Wahl zu reisen.

Solche Fragen aber werden in kirchlichen Stellungnahmen kaum berührt. In Deutschland haben die beiden großen Kirchen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel von Anfang an nachdrücklich unterstützt. Und sie haben sogar den in Kauf genommenen Bruch von EU-Recht (Schengen-Abkommen und Dublin iii) gutgeheißen. Und Peter Prove, der internationale Direktor des Weltkirchenrates, äußerte im Oktober gar die Ansicht, Merkel habe den Friedensnobelpreis verdient, weil ihre Flüchtlingspolitik „moralisch und rechtlich einwandfrei“ sei.

Diese Sichtweise ist nicht nur rechtspolitisch bedenklich, sondern auch theologisch. Die reformatorische Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimenten-Lehre unterscheidet zwischen Kirche und Staat. Sie weist beiden unterschiedliche Aufgaben zu, verlangt aber von beiden Institutionen, nach Gottes Willen je auf ihre Weise dem Menschen zu dienen. Der Staat hat die Aufgabe, in Übereinstimmung mit Gottes Gebot für Recht und Frieden zu sorgen. Das schließt seine Verantwortung für sichere Grenzen und prinzipiell auch das Recht und die Pflicht zur Steuerung von Zuwanderung ein. Diese darf aber nicht mit der generellen Abschottung gegen Migration verwechselt werden.

Es wäre sehr zu wünschen, dass die Kirchen sich auch zu der genannten Aufgabe des Staates äußern, die er erfüllen muss, gerade um einer langfristigen Integrationspolitik willen, die Aussicht auf Erfolg hat.

Allerdings endet die Verantwortung der Einzelstaaten wie der EU als ganzer nicht an ihren Außengrenzen. Sie alle müssen das Nahrungsmittelprogramm der Vereinten Nationen finanziell ausreichend ausstatten, damit die Flüchtlinge, die in Lagern der Nachbarländer Syriens untergekommen sind, menschenwürdig versorgt werden. Auch sollten – wie von den Kirchen gefordert – rechtliche Möglichkeiten geschaffen werden, schon in den Herkunftsländern Asyl zu beantragen, um das Schlepperwesen auszutrocknen. Doch das wird ohne Quoten und somit ohne Aufnahmegrenzen nicht gehen.

Das ethische Kernproblem der Flüchtlingspolitik besteht in dem Unterschied zwischen dem universalen Recht auf Asyl und seiner Umsetzbarkeit auf der einzelstaatlichen Ebene. Auch in der Flüchtlings- und Asylpolitik gilt der Grundsatz: Ultra posse nemo obligatur, über das Maß seiner Möglichkeiten kann niemand verpflichtet werden. Wann die Grenze des Leistbaren erreicht ist, ist im Einzelfall zu prüfen, und das wird von Land zu Land sicher unterschiedlich und kontrovers beurteilt. Aber aus verantwortungsethischer Sicht werden wir um diese Frage nicht herumkommen.

Ulrich Körtner

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