Sprachmächtig

Über Wunder
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Dantes Verse werden zum Leben erweckt. Wer sich mit ihm auf die Reise begibt, erlebt eine Höllenfahrt, begegnet dem Purgatorium, steigt aber auch auf ins Paradies.

Sibylle Lewitscharoff hielt vor wenigen Jahren eine Lesung in Rom im großen Saal der Malteser auf dem Aventin, als sie Stipendiatin der Villa Massimo war. Nun lässt sie diesen besonderen Ort - geöffnete Fensterflügel ermöglichen den Blick auf den Petersdom - zum Schauplatz ihres neuen Romans werden. Zumindest die äußere Handlung ist wesentlich hier, in Rom verankert.

Entscheidender sind jedoch die Innenwelten, die erschlossen werden: Die „Divina Commedia“ Dantes ist das eigentliche Zentrum des Geschehens, denn Lewitscharoff führt an der Hand des Protagonisten in die Abgründe und Tiefen dieses Meisterwerkes der Literatur- und Geistesgeschichte. Der aus Frankfurt am Main stammende Romanist ist Teil eines internationalen Kongresses, der sich versammelt hat, um die Göttliche Komödie zu erschließen. Dantes Verse werden zum Leben erweckt. Wer sich mit ihm auf die Reise begibt, erlebt eine Höllenfahrt, begegnet dem Purgatorium, steigt aber auch auf ins Paradies.

Ewige Verdammnis und nie endende Strafe für getanes Unrecht im Banne der sieben Todsünden können in ihrer Ausweglosigkeit erahnt werden, wenn die Sprache der Lyrik Realität entfaltet. Dante Alighieris Erlebnisse werden von Sibylle Lewitscharoff konsequent mit den Gräueln der Gegenwart und der menschlichen Unheilsgeschichte kontrastiert. Kann es überhaupt eine gerechte Strafe geben für die Verursacher unermesslichen menschlichen Leidens in all seinen verheerenden Facetten? Ist Höllenpein eine befriedigende Antwort auf den Ruf nach Vergeltung? Gibt es so etwas wie Wahrheit tatsächlich, oder ist sie eine bloße Fiktion?

Die Tagungsgesellschaft verliert in ihren Reflexionen jeden Realitätsbezug. Kenny, der Hund eines Teilnehmers, scheint diese Vorgänge noch besser zu erfassen als sein amerikanischer Besitzer. Das Tier begleitet aufmerksam das Geschehen und erweckt den Eindruck, die Vorträge zu verstehen. Es hat Ähnlichkeit mit Vorbildern aus der Kunstgeschichte, die wissender Mittelpunkt zahlloser Gemälde sind. Virtuos und mit feiner Ironie erzeugt Sibylle Lewitscharoff eine Sogwirkung, die in Dantes Erlebnisse hineinzieht.

Unüberschaubar sind die Anspielungen auf literarische, philosophische und theologische Werke der vergangenen Jahrtausende. Faszinierend ist die Sprachmächtigkeit der Autorin, die durch das Gefüge ihres Romans zu höchster Konzentration gezwungen wird, wenn sie etwa die verschiedenen Übersetzungen der Komödie ins Spiel bringt: Wer Stefan George oder Rudolf Borchardt aufruft, droht neben ihnen zu verblassen.

Hochgradig verunsichert ist der einsame Held dieses Romans, der über die Grenzen seiner Leistungskraft hinaus gebracht wird: Muss er doch erkennen, dass die enthusiasmierte Kongressgemeinde schließlich auf die Fensterbretter steigt und entschwebt. 33 Dantisti und drei Hausangestellte sind und bleiben verschwunden, ist auf Seite 33 zu erfahren. Von Dante „enthemmt und entflammt, wanderten (sie) im Auge des Sprachsturms“, redeten in Zungen, aber verstanden sich: eine eingeschworene Gemeinschaft. Von Exklusion betroffen ist der Erzähler, der im entscheidenden Moment nicht präsent war, aber dennoch Erinnerungen an das Geschehen besitzt, an ein Wunder, ein Ereignis, ein Vorkommnis, nach dem nichts mehr so ist wie zuvor.

Den Ausschluss erlebt er als Kränkung und Befreiung zugleich. Mit Dante, und letztlich getragen von der Sprachmagie der Autorin, schwebt aber auch er „auf den Flügeln der Theologie“ - und gibt vernehmbar den Wink, doch neben ihm Platz zu nehmen, um an der Geistesreise teilzunehmen.

Alf Christophersen

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