Vor dem Spiegel

Tierethik beginnt im Bauch
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Juden, Christen und vor allem die Protestanten kommen bei Precht nicht gut weg, wenn es um die Entwicklung einer überzeugenden Tierethik geht.

Der erste Satz ist programmatisch: „Es gibt zwei Kategorien von Tieren. Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere hat darunter zu leiden.“ In diesen Zeilen klingt schon sehr viel von dem an, was der Philosoph Richard David Precht dann auf rund 500 Seiten ausführlich und differenziert beschreibt: Die vermeintliche Sonderstellung des Menschen im Tierreich, die er sich selber zuschreibt und damit auch den hochproblematischen Umgang mit anderen Tieren rechtfertigt. Er hält Tiere unter oft grausamen Bedingungen gefangen, um sie zu nutzen oder zu essen, sie im Namen der Wissenschaft und des Fortschrittes mit Krankheiten zu infizieren und dann Medikamente zu testen oder um sich bei Familienausflügen im Zoo an ihrem Anblick zu verlustieren. All diesen Themen widmet sich Precht in seinem neuen Buch Tiere denken im letzten Drittel. Vorher mutet er dem Leser einen langen Ritt durch die Evolution und die Menschheitsgeschichte zu, in der er vor allem die Rolle der Religionen bei der Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Tier beleuchtet. Gerade dieser zweite Teil überrascht, denn für einen populären und medial bekannten Denker des 21. Jahrhunderts ist die Beschäftigung mit Religion nicht mehr selbstverständlich. Und um es gleich zu sagen: Juden, Christen und vor allem die Protestanten kommen bei Precht nicht gut weg, wenn es um die Entwicklung einer überzeugenden Tierethik geht.

Doch es ist keine vernichtende oder hämische Kritik, die Precht an den Religionen übt. Er sucht nach möglichen Quellen für eine neue Tierethik, die das komplizierte Verhältnis von Mensch und Tier regelt. In den Religionen sieht Precht keine wirklich überzeugende Quelle für eine allgemeingültige Ethik. Denn für viele Menschen spielten Religionen keine Rolle mehr. Das mag für weite Teile der westeuropäischen Gesellschaft gelten, sieht aber in sehr vielen Ländern der Welt anders aus. Für die schreibt Precht aber nicht, sondern für die bildungsnahen Menschen in den wohlhabenden westlichen Ländern, die einen individuellen und selbstbestimmten Lebensstil pflegen und sich nicht sagen lassen wollen, wie sie zu leben haben. Wie entkommt Precht diesem Dilemma? Indem er dem Individuum die Fähigkeit und die Verantwortung zuschreibt, selber eine Ethik zu entwickeln, indem es auf seine „Intuition“ hört und diese schult. Würden wir noch Rehkeule essen, wenn wir das Tier leben ließen und es hinterher auf drei Beinen hinken sähen?

„Es wäre viel gewonnen, wenn Menschen im Hinblick auf Tiere nur das täten und akzeptieren, was ihrer Intuition nicht widerspricht“, sagt Precht. Der Maßstab sei die Selbstachtung und die Frage, ob wir uns noch im Spiegel ansehen könnten. Das ist nicht banal, denn Precht weiß um die Strömungen unter der Oberfläche des menschlichen Denkens, die unser Handeln oft mehr prägen, als wir einräumen, und er bezieht diese in sein Denken ein und versucht diese zu nutzen. Sein Ziel ist der Weg - weg von der anthropozentrischen Verständigungsgemeinschaft hin zur anthrozoologischen Verständnisgemeinschaft.

Doch gibt es eine „reine“ Intuition, die frei ist von fremdem moralischem Überbau aus Erziehung, Religion, Gesetzen und gesellschaftlichen Erwartungen? Ist es nicht doch das „Gewissen“, das uns aufrecht unser Spiegelbild ansehen lässt, oder nicht? Und ist diese Intuition nicht doch auch ein „schmutziges Gefühl“? Wenn ja, wäre es spannend, sich das, was Precht Intuition nennt, genauer anzuschauen. Wenn wir diese Intuition aber als „reinen“ Ort der Entscheidung ansehen, so wie es Precht tut, ist doch wieder die Religion im Spiel.

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Stephan Kosch

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