Keine Eile

Zur Debatte um Arzneiversuche an demenziell Erkrankten
Menschen zu schützen, die besonders verletzlich sind, muss oberste Aufgabe sein.

Alle, die mit der Diagnose Demenz konfrontiert werden, setzen ihre Hoffnungen auf Arzneimittel, die die Krankheit bislang nicht heilen, aber ihren Verlauf im Frühstadium verlangsamen können. Freilich, Medikamente werden erst zugelassen, wenn ihre Wirksamkeit in aufwändigen klinischen Studien getestet ist, und zwar auch an Menschen.

Bislang sah der Gesetzgeber vor, dass die Teilnahme nicht einwilligungsfähiger Patienten an Studien nur dann erlaubt ist, wenn die Betreffenden persönlich einen Nutzen erwarten können. Und für behinderte Menschen gilt das auch weiter. Doch für demenziell Erkrankte soll sich das ändern. Gesundheitsminister Hermann Gröhe nimmt die Umsetzung einer EU-Verordnung zum Anlass, das Arzneimittelgesetz zu ändern. Konkret geht es darum, die Teilnahme an Studien zu genehmigen, von denen nicht die Teilnehmer selbst, sondern bestensfalls künftige Patienten profitieren könnten. Verpflichtend soll sein: Jeder muss seine Zustimmung im gesunden Zustand in einer Erklärung bekundet haben, nach einer ärztlichen Beratung. Und später muss der rechtliche Betreuer zustimmen. So sieht es einer von mittlerweile drei fraktionsübergreifenden Änderungsanträgen vor. Ein zweiter will die geltende Rechtslage bewahren. Tiefer könnten die inhaltlichen Gräben also kaum sein.

Es ist richtig, dass sich die Kirchen zu Wort gemeldet und die Debatte angestoßen haben. Denn unterdessen wurde der Fraktionszwang aufgehoben. Völlig unverständlich und unverantwortlich ist jedoch die Eile, mit der die Bundesregierung das Gesetz umsetzen will. Denn das neue EU-Recht tritt frühestens im Herbst 2018 in Kraft. Aber schon Anfang Juli hatte die Regierung versucht, das Gesetz noch vor der Sommerpause durchzudrücken und es nun in den September geschoben. Warum die Eile? Die EU sieht weitreichende Spielräume der Mitgliedsländer vor, so dass die bisherige deutsche Rechtslage durchaus beibehalten werden kann. Wer das Gesetz ändern will, muss also gute Gründe haben, um die hohen und gut begründeten Schutzstandards für besonders verletzliche Menschen in Deutschland aufzugeben.

Zu viele Fragen sind ungeklärt. Zum Beispiel ob und welcher Bedarf für diese Arzneimittelstudien besteht. Sicher, niemand möchte gerade demenziell Erkrankten medizinischen Fortschritt vorenthalten. Und doch weiß jedermann, dass sich immer ein Experte findet, der die eigene Haltung unterstützt. So sieht der Bundesgesundheitsminister den Bedarf für „zwingend erforderlich“. Der Verband Deutscher Arzneimittelhersteller meint hingegen wie die Bundesärztekammer, dass keine Gesetzesänderung nötig sei.

Menschen zu schützen, die besonders verletzlich sind, muss oberste Aufgabe sein. Und deshalb darf man die Stellung der Ethikkommissionen, die mit ihren Voten an der Zulassung klinischer Studien mitwirken, nicht schwächen - wie es der Gesetzentwurf vorsieht. Man muss das ethische Dilemma offen und frei von Sach- und Zeitzwängen diskutieren. Und das braucht Zeit. Alle Argumente müssen auf den Tisch und in die Öffentlichkeit getragen werden, damit sich allesamt ein Urteil bilden können. Denn es geht um weit mehr als um eine Änderung im Arzneimittelgesetz, es geht um die fundamentale Frage, welchen Wert die Unverfügbarkeit des Lebens in unserer Gesellschaft hat.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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