Muße als Bürgerpflicht

Ein Streifzug durch die europäische Geschichte der Selbstkultivierung
So sah man im 19. Jahrhundert die Muße im antiken Griechenland: „Königliche Hofhaltung“, Holzstich von Heinrich Leutemann (1868). Foto: akg-images
So sah man im 19. Jahrhundert die Muße im antiken Griechenland: „Königliche Hofhaltung“, Holzstich von Heinrich Leutemann (1868). Foto: akg-images
In der Antike galt die Muße noch als Bürgerpflicht, die der Staat zu unterstützen hatte. Das Christentum und der moderne Kapitalismus sorgten jedoch für ein Arbeitsethos, in dem die Muße verdächtig erscheint. Manfred Koch, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Basel, beschreibt die Kulturgeschichte eines schillernden Begriffs.

Wir sind tätig, damit wir Muße (griechisch: scholé) haben.“ Aristoteles’ berühmter Satz bringt die antike Auffassung zum Verhältnis von Arbeit und Muße auf den Punkt. Je weniger einer geschäftig ist beziehungsweise geschäftig sein muss, desto sinnerfüllter ist seine Existenz. Die Geringschätzung des Broterwerbs war für die alten Griechen so selbstverständlich, dass nur ein einziger ihrer großen literarischen und philosophischen Texte die mühselige körperliche Arbeit preist: Hesiods Werke und Tage (um 700 vor Christus). Hesiod aber war ein Bauer, der in einer noch vergleichsweise unkultivierten Frühzeit lebte und seinen Stand gegen mächtige Adelsherren zu verteidigen hatte. Außerdem wollte er seinen faulen Bruder Perses dazu bringen, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Nach Hesiod erscheint die Arbeit nur noch als notwendiges Übel, weshalb sie - wie später auch im alten Rom - mit einem Negativbegriff belegt wird: Arbeit ist „Nicht-Muße“ (griechisch: a-scholía; lateinisch: neg-otium). Für Aristoteles muss das gesellschaftliche Leben so organisiert sein, dass die freien Bürger ein Höchstmaß an Muße zur Verfügung haben, am besten sich also gar nicht ums materielle Überleben kümmern müssen. Dafür sorgt die Abwälzung der harten physischen Arbeit auf Sklaven (worin antike Philosophen kein moralisches Problem sahen). Aber die reine Entlastung reicht nicht. Der Staat, die Polis, muss durch ein Erziehungsprogramm auch darauf hinwirken, dass die Bürger wirklich mußefähig sind, ihre freie Zeit nicht verplempern für läppische Beschäftigungen: bloße Unterhaltungsspiele, unphilosophische Sauf- und Fressgelage, Landpartien als reiner Zeitvertreib. Läppische Beschäftigungen sind für den Philosophen aber auch Aktivitäten, die allein dazu dienen, den Reichtum zu mehren. Tyrannen, schreibt Aristoteles, wünschten sich leichtfertige oder geschäftsbesessene Bürger, weil die keine Muße hätten, über die Polis und deren vorbildliche Gestaltung nachzudenken.

Muße, wie Aristoteles sie versteht, ist angelegt auf Kontemplation, sie soll von den Plackereien wie von den seichten Vergnügungen des Alltagslebens befreien und die Hinwendung zu anspruchsvollen, selbstzweckhaften Tätigkeiten ermöglichen: philosophische Reflexion, Betrachtung des Schönen, lustvolles Agieren in musischen und sportlichen Wettkämpfen. Muße-Haben bedeutet Selbstkultivierung, die letztlich wieder der Polis zugutekommt. Die Bürger vervollkommnen ihre intellektuellen, künstlerischen und körperlichen Fähigkeiten - auf diesem Gedanken beruht die etymologische Verbindung von Scholé und „Schule“ - und bringen sie ins Gemeinwesen ein, indem sie Ämter übernehmen, in der Volksversammlung klugen Rat wissen, im Krieg als Heerführer wirken oder als Tragödiendichter die unverbrüchliche Geltung göttlicher Normen beschwören. Da dies im alten Griechenland keine Brotberufe waren, verfügte nur eine wohlhabende Elite über jenes Maß an Muße, das die Voraussetzung für die Ausbildung zum vollwertigen Bürger war. Handwerker waren zwar zumeist Freie, aber - eben weil sie viel zu arbeiten hatten - keine gleichberechtigten Politen. „Der beste Staat“, schreibt Aristoteles, „wird den Handwerker nicht zum Bürger machen.“ Arbeit war, wie man zugespitzt sagen könnte, für die alten Griechen die Verhinderung von wahrem Menschsein.

Das antike Muße-Konzept geriet mit dem Sieg des Christentums allmählich ins Hintertreffen. Die antike Philosophie, die immer auch praktische Lebenskunstlehre war, hatte dem Menschen - jedenfalls dem freien Bürger - noch zugetraut, sein Leben wie ein Kunstwerk gestalten zu können (auch wenn de facto die allermeisten Athener Bürger profanen Geschäften nachgehen mussten). Im Christentum aber kann der Mensch als mit der Erbsünde beladene Kreatur aus sich heraus kein Heil erlangen. Das Christentum ist so gesehen grundsätzlich eine Religion der Unruhe, weil die permanente Heilsungewissheit alles auf Erden Erreichte nur vorläufig gelten lässt. Das definitive Urteil fällt erst am Ende aller Tage, im Jüngsten Gericht.

Versuchung durch Muße

Mit der Abwertung des irdischen Lebens geht nun zunächst auch eine Abwertung der Arbeit einher. Jesus hat bekanntlich, folgt man den Evangelien, nie gearbeitet, seine Jünger hat er geradezu von der Arbeit wegberufen. Das scheint sich mit der antiken Verachtung der Arbeit zu decken. Dennoch zeichnet sich in der Art und Weise, wie das Neue Testament und dann die Kirchenväter religiöse Kontemplation und weltliches Schuften aufeinander beziehen, ein Wandel ab, der für die weitere Entwicklung der westlichen Welt entscheidend sein sollte. In der jüdischen Bibel wird die Arbeit gemäß der Sündenfallerzählung als göttliche Strafe vorgestellt. Nicht anders verhält es sich bei Hesiod, der die Menschen ebenfalls für eine Verfehlung - den Feuerraub des Prometheus - dadurch büßen lässt, dass sie im Schweiße ihres Angesichts nun Äcker bebauen müssen („Zeus verbarg die Nahrung grollenden Herzens in der Erde“, heißt es in Hesiods Werke und Tage).

Für den Griechen ist jedoch immerhin denkbar, dass die Menschen durch ein rechtschaffenes Leben wieder Gnade vor den Augen der Götter finden können. Augustins Erbsündelehre aber verallgemeinert den Fluch der Arbeit und verewigt ihn für das Leben im Diesseits. Da wir alle Sünder sind, sind wir alle dazu verdammt, Hand anzulegen und erfüllen damit Gottes Willen - ex negativo eine beträchtliche Aufwertung der Arbeit. Überhaupt ist der jüdisch-christliche Gott ja selbst ein Schaffender, der mit seinem Sechstagewerk und dem anschließenden Ruhetag seiner ganzen großen, weltweiten Gemeinde den Wochenplan vorgegeben hat. Von den griechischen Göttern ist allenfalls Hephaistos handwerklich tätig, überwiegend führen sie bei Homer ein heiteres, beschauliches Dasein. Der Gedanke einer Welt-Schöpfung ist dem griechischen Denken sowieso fremd. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass bereits bei Paulus der Satz auftaucht: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (2. Thessalonicher 3,10). Konsequent folgte daraus einige Jahrhunderte später die Ordensregel des Benedikt von Nursia: ora et labora, bete und arbeite. Deren Gehalt ließe sich vereinfacht so erläutern: Zwar ist das Höchste, wozu der Mensch bestimmt ist, das Ausgerichtetsein auf Gott. Da er aber eben ein fleischliches Wesen ist, Nahrung braucht und Lüste entwickelt, ist Arbeit die gottgewollte Form, in der er diese fleischliche Existenz führen sollte. Sie schafft das Nötige heran und diszipliniert zugleich den immer auf sündige Abwege begierigen Körper.

So kommt es im christlichen Denken zu einer folgenreichen Neudefinition von Muße. Nach wie vor ist das kontemplative Dasein das existenzielle Leitbild, aber diese Kontemplation ist als Gottesandacht jetzt nur noch religiöse Aktivität. Und wo der Mensch aus der reinen Kontemplation heraustritt, hat er beschäftigt zu bleiben. Sich mit dem zu befassen, was in der Antike alles zum otium (deutsch: Muße) gehörte, als otium geschätzt wurde - weltliche Musik, weltliche Dichtung, Sport - gilt nun als gefährliche Einbruchstelle für noch sündigeres Treiben. Dafür steht nun der Begriff otiositas, Müßiggang in seiner pejorativen Bedeutung. Diese Begriffsumprägung - von otium zu otiositas - betont vor allem die Versuchung, das Hinübergelocktwerden in die Sünde. In diesem Sinn formulieren christliche Lehrer ihre Verdammungssätze gegen den Müßiggang. Schon bei Benedikt von Nursia heißt es: Otiositas inimica est animae - Müßiggang ist der Feind der Seele. Das zum Sprichwort gewordene „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ findet sich zuerst belegt im 13. Jahrhundert bei Berthold von Regensburg, einem Bußprediger des Mittelalters.

Die Klöster sind Anstalten, in denen die gottgefällige Kombination von kontemplativem und arbeitsamem Dasein eingeübt wird. Sie sind die ersten Disziplinierungs-institute der abendländischen Kulturgeschichte, in denen die Menschen lernten, nach einem strikten Zeitregime zu leben, mit wenig Schlaf und von Ablenkungen ferngehalten. Die Arbeitszeit, die eine planmäßige Nutzung des Tages nach der reinen Stundenzahl vorsieht (und nicht, wie die bäuerliche Arbeit, erledigt, was gerade anfällt, und zwischendurch immer wieder ruht), ist - wie der französische Historiker Jacques le Goff gezeigt hat - eine Erfindung der Klöster, nach der später in den Städten auch der nichtreligiöse Tagesablauf geregelt wurde.

Dennoch muss eines festgehalten werden: Arbeit als Selbstzweck ist weiterhin des Teufels. Die christliche Kardinalsünde der acedia (Faulheit, Trägheit) begeht für Thomas von Aquin auch ein nach unserem Verständnis fleißiger Mensch, der ganz in seinem Geschäft aufgeht und Gott darüber vergisst. Er ist dann träge im Sinn einer Unlust oder Unfähigkeit, seine Seele zu Gott zu erheben. Oder eben ein Müßiggänger: einer, der sich ausschließlich mit müßigen, in höherem Sinn wertlosen irdischen Dingen befasst.

Dass die Berufsarbeit und der berufliche Erfolg selbst Heilscharakter gewinnen, ist tatsächlich erst die Leistung des Protestantismus, genauer des Calvinismus, wie Max Weber in seinem berühmten Aufsatz Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) nachgewiesen hat. Die grundsätzliche Heilsungewissheit des Christen wird durch die calvinistische Prädestinationslehre so sehr verstärkt, dass sie sich, so Weber, nicht mehr ertragen lässt. Der Calvinist ist gezwungen, nach äußeren Zeichen zu suchen, ob er von Gott angenommen oder verworfen ist. Und er findet sie in seiner Arbeitskarriere. Durchsetzung im Geschäft ist nun ein Indiz dafür, dass Gottes Segen auf einem ruht. Ganz sicher kann sich der Gläubige indessen niemals sein. So kommt es, dass der Calvinist den Müßiggang nicht nur vermeidet, weil er dem sündigen Fleisch nicht verfallen will, sondern auch immer geschäftiger wird, weil es gilt, die Zeichen des Heils zu vermehren. Um seiner Seelenruhe im Jenseits willen verstärkt er die Unruhe des irdischen Lebens ins Extrem. Im Lauf der Jahrhunderte trat die religiöse Motivation in den Hintergrund, was blieb, war die sprichwörtliche protestantische Arbeitsmoral einer neuen, auf unbegrenztes Wachstum ausgerichteten Gesellschaft.

Der neuzeitliche Prozess der Sozialdisziplinierung zog sich allerdings über Jahrhunderte hin. Lange noch war es für europäische Adlige selbstverständlich, sich die Hände nicht schmutzig zu machen; das „Aristokraten-Gefühl, dass Arbeit schändet - nämlich Leib und Seele gemein macht“ (Nietzsche), bestimmte die auf repräsentative Selbstdarstellung und ostentative Verschwendung ausgerichtete Lebensführung der Edelleute. Die Umerziehung setzte zuerst am untersten Rand der Gesellschaft an, bei den Ärmsten der Armen, denen im Reformationszeitalter der „Faulteufel“ handgreiflich ausgetrieben wurde. Seit dem 16. Jahrhundert entstanden überall in Westeuropa sogenannte „Arbeits“- oder „Zuchthäuser“, in denen man die Bettler internierte und unter Androhung von Prügelstrafen zur Arbeit zwang. Weitere Institutionen, die sich um die Modellierung eines neuen, „fleißigen“ Menschentyps verdient machten, waren die Armee, die Schule und schließlich die moderne Fabrik. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Arbeitsleistung bereits derart als Gradmesser gesellschaftlicher Anerkennung durchgesetzt, dass nun auch die alten adligen Eliten sich kaum mehr getrauten, Müßiggang als höhere Lebensform zu zelebrieren. Die neue, alle Stände umfassende Verbindlichkeit des Wertes „Arbeit“ illustrieren Historiker gern an dem Phänomen, dass Königinnen jetzt gelegentlich mit Strickzeug in der Öffentlichkeit auftraten.

Wenn die Bürger von sich aus die Arbeit als Sphäre der Selbstverwirklichung betrachten, ihr gesellschaftliches Ansehen ausschließlich oder ganz überwiegend vom beruflichen Erfolg abhängig machen, sind sie leistungsbereiter und effizienter als Befehlsempfänger, die durch Aufseher und Vorarbeiter zur Produktivität angetrieben werden müssen. Aufs Ganze gesehen, war das der Erfolg der neuzeitlichen Züchtung des fleißigen Menschen: Der Fremdzwang der frühen Arbeitshäuser verwandelte sich in verinnerlichte Selbstdisziplin. Dieser Transformationsprozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Moderne Workaholics prügeln sich selbst zu vierzehn-stündigen Arbeitstagen, aufstrebende Multitasker sind stolz auf ihre Fähigkeit, drei Jobs gleichzeitig zur Zufriedenheit des personalabbauenden Unternehmens erledigen zu können.

Auf perfide Weise kommt es in der jüngsten Veränderung der Arbeitswelt auch zu einer Wiederentdeckung der Muße. Der Kapitalismus der Gegenwart setzt immer weniger auf den pflichtbewussten Arbeiter des 20. Jahrhunderts, der routiniert und zuverlässig Tätigkeiten verrichtet, die sich im Wesentlichen gleichbleiben. Gefragt ist jetzt das kreative Individuum, das Projekte ausheckt, eingefahrene Betriebsabläufe revolutioniert und sich flexibel in Netzwerke einbringt. Solchen innovativen Geistern gesteht die Geschäftsleitung gerne vermehrt Muße-Stunden zu; sie brauchen ja, wie Künstler, die Phasen zweckfreier spielerischer Tätigkeit oder auch des kontemplativen Nichts-Tuns. Am Ende aber muss der output stimmen, die Muße muss sich rentieren. Wo Muße und Arbeit aber so miteinander verbunden werden, erscheint das Konzept des Aristoteles geradezu ins Gegenteil verkehrt: „Wir sind müßig, um unmüßig zu sein.“ Wer eine solche Geisteshaltung vertritt, den hätten die alten Griechen nur mit einem verächtlichen Wort abgefertigt: Er ist ein Banausos.

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Manfred Koch

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