Über den Tod hinaus

Tudeley in Südengland: Zwölf Kirchenfenster und ihr Geheimnis
Umgeben von Hecken und Wiesen: Die Kirche „All Saints“ in Südengland. Foto: Martin Glauert
Umgeben von Hecken und Wiesen: Die Kirche „All Saints“ in Südengland. Foto: Martin Glauert
Die Kirche „All Saints“ im kleinen Tudeley mitten im ländlichen Südengland ist unscheinbar und macht auf den ersten Blick nicht viel her. Dabei ist sie die einzige Kirche der Welt, in der alle Fenster von Marc Chagall stammen. Der Journalist und Mediziner Martin Glauert erzählt die Geschichte.

Verflixt schmal ist die Landstraße und holprig zudem. In engen Kurven windet sie sich durch die idyllische Landschaft Südenglands. Hätte man auch nur kurz mit den Augen geblinzelt, wäre man glatt an der Einfahrt mit dem verdeckten Hinweisschild vorbeigefahren. „All Saints“ – die kleine Dorfkirche von Tudeley steht mitten auf dem flachen Land, umgeben von Hecken und Wiesen. Architektonisch hat sie nichts Besonderes zu bieten, sie ist nicht einmal wirklich hübsch. Grauer Feldstein, dazu ein unpassend massiver viereckiger Turm aus rotem Backstein. Über den grasbewachsenen Kirchhof mit alten Grabsteinen erreicht man das überdachte Seitenportal. Man muss einen uralten Eisengriff drehen und die schwere Eichentür aufdrücken, um ins Innere der Kirche zu treten. Aber dort ist man sofort verzaubert.

Die hellen Steinfliesen am Boden sind übersät mit unerwartet farbigen Lichtreflexen, ein warmes Blau herrscht vor, und darin mischt sich Gold und Rot und Grün. Der Blick wandert unwillkürlich zu den Kirchenfenstern und deren Farbe. Und die frei in der Luft schwebenden Menschen und Tiere kommen einem irgendwie sehr bekannt vor, obwohl man sie noch nie gesehen hat. Tatsächlich findet man in der unteren Fensterecke die Signatur des Künstlers: Marc Chagall. Wie kommen Fenster eines weltberühmten Malers ausgerechnet in eine kleine Kirche in der englischen Provinz, in eine Kirchengemeinde mit gerade einmal hundert Mitgliedern? Die Antwort lässt sich in dem Fenster an der Ostseite, direkt über dem Altar finden. In ihm verbirgt sich die Lösung des Geheimnisses, denn es erzählt eine tragische Geschichte.

Die beginnt ganz in der Nähe, in dem Herrenhaus Somerhill. Seit Generationen lebt hier die Familie d’Avigdor-Goldsmid inmitten ihrer ausgedehnten Ländereien. Die Biographie von Sir Henry, dem Oberhaupt der adeligen jüdischen Familie, ist eine Erfolgsgeschichte wie aus dem Bilderbuch. Die besten Schulen des Landes hat er besucht, wird als Armeeoffizier mehrfach ausgezeichnet, zuletzt, 1945, mit dem Military Cross, dem dritthöchsten Orden der britischen Streitkräfte. Nach dem Krieg wird er ein erfolgreicher Banker, verdient im Goldhandel ein Vermögen und schafft es bis zum Vorstand der Anglo-Israel Bank. Parallel dazu wird er „Freeman der City of London“, Friedensrichter, dann „High Sheriff“ für die Grafschaft Kent und schließlich sogar Abgeordneter im Unterhaus.

Für die kleine Dorfkirche in der Nachbarschaft interessiert Sir Henry sich wenig. Das ändert sich allerdings, als er eine Anglikanerin heiratet. Während Sir Henry seinen jüdischen Glauben behält, feiern Lady Rosemary d‘Avigdor-Goldsmid und die zwei Töchter – Sarah und Chloé – den Sonntagsgottesdienst in „All Saints“. Das Leben in den Sechzigerjahren ist unbeschwert, es fehlt an nichts. Das riesige Herrenhaus auf dem Hügel oberhalb des Dorfes wird zum Schauplatz fröhlicher Partys und großartiger Empfänge. Viele Dorfbewohner sind als Köche und Gärtner angestellt, Dienstmädchen und Waschfrauen sorgen für einen bequemen Alltag. Lady Rosemary feiert offenbar gerne, sie fühlt sich wohl als großzügige, verschwenderische Gastgeberin. Zu den Partys, die oft ein ganzes Wochenende dauern, werden regelmäßig junge Männer eingeladen, Ehekandidaten für die Töchter, die Eltern sind auf der Suche nach einem Ehemann für die 21-jährige Sarah. Die vertraut belustigt einem Freund an: „Meine Mutter wünscht sich unbedingt mehr junge Männer. Ich habe letztes Wochenende fünf herbeigezaubert, und sie ist immer noch nicht zufrieden.“ Politiker werden eingeladen und Freunde aus adligen Familien, aber auch Künstler und Schauspieler aus Hollywood. Es ist eine heile Welt, genau wie im Film.

Plötzlicher Sturm

Bis zu jenem stillen Herbsttag im September 1963. Paddy Pakenham, der Sohn von Lord Longford, hat Sarah und ihren Freund David zum Segeln eingeladen. Es geht wenig Wind, so dass man sich von einem Motorboot aufs Meer hinausziehen lässt. Vor der Küste von Rye dümpelt das Boot sachte vor sich hin. Gerade als sie nach Hause umkehren wollen, kommt ein Sturm auf. Eine plötzliche Böe lässt den Segelbaum umschwenken, die drei Freunde werden über Bord geworfen, und das Dinghi kentert. Sie retten sich auf das kieloben treibende Boot und versuchen, zur Küste zurück zu paddeln, die allerdings mehrere Meilen entfernt ist. Die Nacht zieht herauf, und von Stunde zu Stunde wird es kälter. Allmählich verlieren zunächst David, dann auch Sarah das Bewusstsein, rutschen vom Boot ab und ertrinken. Nur Paddy gelingt es am nächsten Morgen, die Küste schwimmend zu erreichen.

Die erschütterten Eltern wollen ihrer Tochter ein Denkmal setzen, um ihrer Trauer und Liebe Ausdruck zu verleihen. Lady Rosemary hat die gewagte Idee, Marc Chagall mit der Schaffung eines Fensters für die Dorfkirche zu beauftragen, da Mutter und Tochter zwei Jahre vorher in Paris eine Ausstellung von ihm besucht hatten, die beide tief beeindruckte.

Der immerhin schon 76-jährige Chagall zögert zuerst. Glasmalerei ist nicht sein Sujet, und zudem ist er unsicher, ob seine chassidisch geprägte Bildersprache mit den Erwartungen in Einklang zu bringen ist, die anglikanische Christen hegen. Schließlich aber gibt er dem Drängen der Mutter nach und entwirft das Fenster in der Ostwand in Erinnerung an Sarahs Schicksal, als Grabmal und zugleich als Trost.

Die beherrschende Farbe ist blau, Chagalls Lieblingsfarbe und zugleich Anspielung auf den Schauplatz der Tragödie. Im unteren Bildteil treibt ein Körper tief im aufgewühlten Meer. Und doch scheint es, als würden die Wellen ihn sanft und liebevoll schaukeln. Eine trauernde Gestalt kniet am Ufer und wischt ihre Tränen vom Gesicht. Links darüber hält die Mutter ihre beiden Töchter im Arm, die überlebende Chloé in kräftigen Farben, und Sarah ist nur als blasser Schatten zu erahnen. Ein rotes Pferd, Chagalls Symbol für Freude, trägt diese zu der Himmelsleiter, die direkt am Kopf des gekreuzigten Christus endet. Er beherrscht den oberen Teil des Fensters, umgeben von schwerelos schwebenden Engeln. Hier oben wird das Blau heller und zunehmend durchmischt von strahlendem Gold. Die Darstellungen von Kummer, Tod und Trauer in der unteren Bildhälfte weichen nun einer Stimmung heiterer Zuversicht und der Freude auf die Auferstehung.

Als Chagall bei der Übergabe des Fensters 1967 sein Werk an Ort und Stelle sah, durchflutet vom hellen Morgenlicht, war er selber begeistert. „Das ist großartig“, rief er spontan aus, „ich werde alle machen!“ Mehr als zehn Jahre lang entwarf der alte Meister nach und nach die übrigen elf Fenster, die alle in seiner Werkstatt im französischen Reims angefertigt wurden. Die Motive sind inspiriert durch Verse aus dem 8. Psalm: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Ochsen allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und was im Meer geht.“ So tauchen in den abstrakten Farbmustern neben Engeln immer wieder Vögel auf, Fische, Zweige und Blätter, Enten und Tauben – und natürlich Chagalls Lieblingstier: der Esel.

Das letzte Fenster wurde 1985 eingesetzt, noch im gleichen Jahr starb der Künstler im Alter von 98 Jahren – das Werk war getan. „All Saints“ ist die einzige Kirche der Welt, in der alle Fenster von Marc Chagall geschaffen sind. Aus einem tragischen Ereignis, aus Verlust und Trauer, ist ein wunderschönes Kunstwerk entstanden, das im Angesicht des Todes den Menschen Freude schenkt.

Information

„All Saints” in Tudeley (Kent).

Die Kirche liegt an der Landstraße B 2017 zwischen Tonbridge und Paddock Wood.

Sie ist tagsüber geöffnet, etwa von 9:30 bis 16:00 Uhr im Winter und 9:30 bis 18:00 Uhr im Sommer. Der Eintritt ist frei, um eine Spende wird gebeten.

Martin Glauert

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