Landpartie

Muße als Lebensprinzip
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Der Strom ist sauberer, das Essen öko, die Familiemodelle bunter als je zuvor. Aber es gibt noch immer was zu tun.

Den Traum vom Refugium auf dem Land träumen viele Großstädter. Manche lassen ihn Wirklichkeit werden und erwachen jäh aus ihrer imaginierten Landlust-Idylle. Skeptische Einheimische statt wohlwollende neue Freunde, Dauerbaustelle statt gediegen-rustikales Wohnen, Sauertopf statt köstlicher Marmelade. Vielleicht wird irgendwann doch noch alles gut, vielleicht auch nicht, und man verkauft das teilrenovierte Haus an den Städter und hat zu Hause in der Großstadt so viele Geschichten zu erzählen, dass man ein Buch darüber schreiben könnte. Björn Kern hat ein Buch geschrieben über sein Leben im Oderbruch, wo er sich einen alten Bauernhof mit stark renovierungsbedürftigen Gebäuden gekauft hat und dafür angeblich weniger Geld bezahlt hat, als wenn er in München ein Badezimmer renoviert hätte.

In seinem Buch tauchen alle genannten Zutaten auf: Ein skurriler märkischer Nachbar, der Tauben aufbläst und als Selbstversorger durchs Leben kommt, gesundheitsschädliche Altlasten aus dem Chemiekombinat beim Renovieren, Dilettantismus beim Gartenbau, kleinere und größere Gefechte mit der Partnerin, die die Liebe zum Land nicht so recht teilen will – und doch ist dieses Buch nicht nur eine lustige Landpartie.

Es geht um die große Frage, wie wir arbeiten und leben wollen und wie eine Gesellschaft jenseits des Wachstums- und Produktivitätszwangs aussehen könnte. Denn nichts erfüllt den 1978 geborenen Journalisten mehr mit Glück und Zufriedenheit, als auf einer Bank unterm Birnbaum zu sitzen und nichts zu tun – außer in die Landschaft zu schauen und dabei Bier zu trinken. Perfekte Momente der Muße sind das, und ausgehend von diesen stellt er wichtige Fragen an sein Leben und das der Anderen. Warum ist es verpönt, unterm Birnbaum gar nichts zu tun? Wo doch gleichzeitig so viel sinnlose und sinnentleerte Arbeit geleistet wird, mit dessen Lohn man sich viel zu viele Sachen kauft, die man nicht braucht und die einen vom wahren Leben abhalten, weil man mal wieder einen neuen Treiber auf seinen Computer installieren muss oder ein Netz für das Handy sucht? Kern geht in die Offensive und wird zum Lehrmeister des Nichtstuns. Das kennt er schon als Angestellter einer Textagentur (die er nur „Gruft“ nennt) und beschreibt schonungslos die Absurditäten einer Büroarbeit, die keiner machen will, die alle langweilt und von der doch alle leben. Hier braucht es ein sehr ausgefeiltes Tarnsystem für das Nichtstun, das Kern sehr humorvoll beschreibt. Es gibt Burn-Out, ohne Frage, aber die Gefahren des Bore-Out sind nicht zu unterschätzen.

Überhaupt ist das ganze Buch locker und von leichter Hand geschrieben, die entscheidenden Themen aus dem Feld der alternativen Wirtschaftswissenschaft werden in muntere, persönliche Geschichten verpackt: Wachstumszwang, Ökologie, Grundeinkommen, Share-Economy. Manchmal wünschte man sich etwas tiefer gehende Diskussionen über Chancen und Grenzen all dieser Modelle, die man ja prima am hölzernen Küchentisch hätte führen können. Aber wir sind ja nicht mehr in den frühen Achtzigern, wo der Traum vom Ausstieg auch schon viele Großstadtmenschen in Wollpullis auf das Land trieb. Wie wurden sie belächelt und später gegeißelt, weil sie sich als Grüne angeblich dem Mainstream hingaben. Aber wurde nicht der Mainstream grün? Der Strom ist jetzt sauberer, das Essen öko, die Geschlechterrollen und Familiemodelle sind bunter als je zuvor. Aber es gibt noch immer was zu tun. Nämlich unterm Birnbaum sitzen und die Schönheit der Welt und des Augenblicks genießen, die Muße als Lebensprinzip zu installieren. Das ist harte Arbeit, denn noch ist die Welt nicht soweit. Aber sie kann sich lohnen. Und Kerns Buch macht Lust darauf.

Stephan Kosch

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